Rascher wurde als Dachauer KZ-Arzt berüchtigt, der an Häftlingen brutale Menschenversuche durchführte. Sie fanden unter der Förderung durch Heinrich Himmler (1900 – 1945) statt. Bei diesem fiel er später in Ungnade, wurde selber im KZ Dachau interniert und kurz vor Kriegsende von der SS erschossen.
Herkunft und Ausbildung
Rascher wurde am 12. Februar 1909 in München als Sohn des Arztes Dr. Hans August Rascher geboren. Er machte in Konstanz Abitur und trat 1933 in die NSDAP ein. Das Medizinstudium führte Rascher zunächst nach Freiburg, dann nach Basel, bevor er es ab 1934 in München fortsetzte. 1936 legte er das Staatsexamen ab und promovierte. Rascher arbeitete zunächst an der Chirurgischen Universitätsklinik. 1936 erfolgte sein Eintritt in die SA sowie sein Wechsel an das Schwabinger Krankenhaus, wo er bis 1939 tätig war. [1]
Karriere
Am 1. Mai 1939 trat Rascher in das Ahnenerbe, die SS-eigene Forschungseinrichtung, ein. Seine 16 Jahre ältere, verwitwete Verlobte Karoline Diehl, geb. Wiedemann („Nini“) hatte Kontakte zu Heinrich Himmler und arrangierte für den 23. Mai 1939 ein Treffen Raschers mit ihm. Auf Himmlers Veranlassung wurde ihm von Professor Walther Wüst (1901 – 1993), dem Kurator des Ahnenerbes, die Erforschung der Frühdiagnose von Krebs übertragen. Dazu sollten langfristige Blutbildkontrollen an KZ-Häftlingen durchgeführt werden. [2]
Himmler erteilte aber zunächst keine Heiratsgenehmigung zwischen Rascher und seiner Verlobten. Ausschlaggebend scheint Diehls höheres Alter gewesen zu sein, das eine Familiengründung zu erschweren schien. Daher täuschten sie Himmler ab 1939 mehrere Kindsgeburten vor. Die Hochzeit erfolgte 1941. Himmler, der Rascher in seiner Karriere maßgeblich förderte, schickte der Familie Briefe und Aufmerksamkeiten. Raschers Frau revanchierte sich mit Dankesschreiben und war weiterhin bestrebt, die Karriere ihres Mannes zu fördern. [1, 2]
Im November 1941 erfolgte die Abkommandierung Raschers an das Münchner Institut für Luftfahrtmedizin der Luftwaffe. Es wurde von dem Röntgenologen Georg August Weltz (1889 – 1963) geleitet. Im August 1943 wurde Rascher auf Betreiben Himmlers von der Luftwaffe freigestellt und trat in die Waffen-SS ein. [1, 3]
Menschenversuche

Bewusstloser Häftling bei einem Unterdruckversuch in Dachau, 1942. Sigmund Rascher (d. 1945), Pressurization experiment at Dachau, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.
Die von Rascher zu verantwortenden Menschenversuche gehören zu 70 medizinischen Forschungsprojekten, die im Nationalsozialismus an KZ-Häftlingen gegen deren Willen durchgeführt wurden. Die Gesamtzahl der dazu missbrauchten Personen liegt bei mindestens 7.000 Opfern. [4] Viele starben oder erlitten bleibende gesundheitliche Beeinträchtigungen. Außer den Versuchen, an denen Rascher beteiligt war, wurden in Dachau noch weitere Reihen durchgeführt, etwa zur Erforschung von Mitteln gegen Tbc, Malaria oder zur Trinkbarmachung von Meerwasser. [2]
Für die weitere Entwicklung der Luftwaffe, v. a. der hoch aufsteigenden Düsenjäger, war es wichtig zu wissen, ob und wie Menschen in großen Höhen arbeiten können, ebenso welche Rettungsmöglichkeiten es bei Druckabfall oder Fallschirmabsprung gab. Im Einverständnis mit Himmler und dessen persönlichem Referenten Rudolf Brandt (1909 – 1948), führte Rascher zu diesem Zweck gemeinsam mit den Luftfahrtmedizinern Dr. Wolfgang Romberg (1911 – 1981) und Dr. Siegfried Ruff (1907 – 1989) von der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt Höhenversuche an Dachauer KZ-Häftlingen durch. Rascher hatte Himmler am 15. Mai 1941 den Gebrauch von „Berufsverbrechern“ dafür vorgeschlagen. Brandt antwortete ihm, „daß Häftlinge für die Höhenflugforschung selbstverständlich gern zur Verfügung gestellt werden“. [5] Manchen Häftlingen wurde für eine „freiwillige“ Teilnahme Hafterleichterung oder Freilassung in Aussicht gestellt. [6] Eugen Kogon verweist darauf, dass die im Lager aufgestellte mobile Unterdruckkammer bei den Häftlingen als „Himmelfahrtswagen“ berüchtigt war. [7] In 200 – 300 Versuchen wurden die Flugbedingungen bis in 21 km Höhe getestet. Dabei kam es auch zu Todesfällen. [2]
In Abwesenheit seiner Kollegen nahm Rascher zudem noch gefährlichere Versuche alleine vor, bei denen der Tod der Versuchspersonen oft einkalkuliert war, um sie anschließend sezieren zu können. Auch Häftlingspersonal war an den Versuchen beteiligt. Der ehemalige Kapo und nach seiner 1942 erfolgten Entlassung aus KZ-Haft weiter als Raschers Gehilfe arbeitende Walter Neff (1909 – 1960) berichtet von 70 – 80 Todesfällen. Dabei wurden auch zur Hinrichtung bestimmte Häftlinge eingesetzt. Nach Anweisung Himmlers vom 18. April 1942 sollten Häftlinge, die wiederbelebt werden konnten, zu lebenslanger KZ-Haft begnadigt werden – Polen und Russen waren davon jedoch ausgenommen. Die Höhenversuche endeten im Mai 1943. [2]
Eine weitere Versuchsreihe beinhaltete Unterkühlungsexperimente in 4 – 9 Grad kaltem Wasser, um Abkühlung und Erwärmungsmethoden von in eiskaltes Meerwasser abgestürzten Fliegern zu erforschen. Dazu arbeitete Rascher bis Oktober 1942 mit dem Kieler Physiologen Professor Ernst Holzlöhner (1899 – 1945) zusammen. Auch für diese Versuchsreihen wurden KZ-Häftlinge eingesetzt, was durch Erhard Milch (1892 – 1972), den Generalinspekteur der Luftwaffe, genehmigt worden war. [8] In Holzlöhners Vortrag zur „Verhütung und Behandlung der Unterkühlung“, den er im Oktober 1942 anlässlich der Tagung „Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot“ in Nürnberg hielt und an der auch Rascher teilnahm, flossen die Dachauer Versuchsergebnisse mit ein. [3, 5] Ebenso ging daraus hervor, dass Menschen dabei zu Tode gekommen sein müssen, wogegen sich bei den 95 Tagungsteilnehmern aber kein Protest erhob. [5, 9]
Rascher führte die Unterkühlungsversuche anschließend eigenständig weiter. Dazu wurden auch Häftlinge im Winter bei -20 Grad nackt ins Freie gestellt und stündlich mit Wasser übergossen. [7] Bei einigen Versuchen scheint die Körpertemperatur auf 25 Grad gesenkt worden zu sein. [6] Um seinem Gönner Himmler zu gefallen, griff er nicht zuletzt dessen unsinnige Anregung auf, die Erwärmung dieser Personen mit Hilfe nackter Frauen zu erproben. Die Zahl der Versuchspersonen zwischen November 1942 und Mai 1943 gibt Kogon mit 220 – 240 Opfern an. [7] Es kam zu 65 – 70 Todesfällen. Wachsmann nennt diesbezüglich 200 – 300 gefolterte Häftlinge. [10]
Das Ende
Obwohl Rascher zeitweise eine hohe Wertschätzung seines Gönners Himmler erlangt hatte, wendete sich das Blatt. 1944 täuschte das Ehepaar eine erneute Geburt vor. Doch es stellte sich heraus, dass Karoline Diehl das Kind am Münchner Hauptbahnhof entführt hatte. Im Zuge der kriminalpolizeilichen Ermittlungen erwiesen sich auch „ihre“ angeblich 1939, 1941 und 1942 vorangegangenen Geburten als Betrug. Rascher selbst fiel zudem wegen Häftlingsbegünstigung bei Himmler in Ungnade. Im März 1944 wurde das Ehepaar verhaftet. Karoline Diehl wurde im KZ Ravensbrück ermordet, Rascher am 26. April 1945, einige Tage vor der Befreiung des Lagers durch die US-Armee auf Geheiß Himmlers im KZ Dachau erschossen, in dem er inzwischen selber interniert war. Die Kinder kamen in ein Heim des Lebensborn. [1, 2]
Persönlichkeit
Rascher gilt der Forschung als skrupelloser Karrierist, dem Benz neben Servilität auch „Mordlust“ sowie schizophrene und kriminelle Züge attestiert. [1] Im Urteil Wachsmanns handelte es sich bei ihm möglicherweise um einen Psychopathen. [10] Sein ehemaliger Häftlingshelfer Walter Neff charakterisierte ihn als sympathisch und skrupellos. [2]
Wissenschaftliche Resultate
Die Humanexperimente wurden mit großer Brutalität und Menschenverachtung durchgeführt. In manchen Fällen war der Tod der Versuchsperson von vornherein einkalkuliert. Der wissenschaftliche Wert der bei diesen Experimenten ermittelten Daten wird unterschiedlich beurteilt. Benz bezeichnet die Ergebnisse als wissenschaftlich belanglos. [1] Auch Kogon hebt hervor, dass die deutsche Luftwaffe aus ihnen keinen praktischen Nutzen ziehen konnte. Allerdings könnte seiner Meinung nach die US-Luftwaffe von den Dachauer Ergebnissen profitiert haben. [7]
Juristische Folgen
Im Nürnberger Ärzteprozess (9. Dezember 1946 – 20. August 1947) wurde Himmlers Assistent Rudolf Brandt zum Tode verurteilt und 1948 in Landsberg hingerichtet. Georg August Weltz wurde freigesprochen, ebenso Wolfgang Romberg und Siegfried Ruff. Himmler hatte im Mai und Ernst Holzlöhner im Juni 1945 Selbstmord begangen. [3, 5] Rascher selbst konnte für seine Versuche in den Nachkriegsprozessen nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, da er noch vor Kriegsende von der SS erschossen worden war.
Autor: Martin Schneider
Literatur / Anmerkungen
[1] Benz, Wolfgang: „Dr. med. Sigmund Rascher – Eine Karriere“, in: Dachauer Hefte 4: Medizin im NS-Staat. Täter, Opfer, Handlanger, München 1993.
[2] Zámečník, Stanislav: Das war Dachau, hg. von der Stiftung Comité International de Dachau, Luxemburg 2002.
[3] Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, 2. Aufl., Frankfurt (Main) 2007.
[4] Cohen, Nava: „Medizinische Experimente“, in: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 2, hg. von Israel Gutmann u. a., Berlin 1993, S. 938 – 944.
[5] Mitscherlich, Alexander/ Mielke, Fred (Hg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt (Main) 1995.
[6] Ebbinghaus, Andrea/ Roth, Karl Heinz: „Medizinverbrechen vor Gericht. Die Menschenversuche im Konzentrationslager Dachau“, in: Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945 – 48. Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen, hg. von Ludwig Eiber/ Robert Sigel, Göttingen 2007, S. 126 – 159.
[7] Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der Deutschen Konzentrationslager, 2. Aufl., Hamburg 2014.
[8] Bryant, Michael: „Die US-amerikanischen Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau 1945 – 1948“, in: Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945 – 48. Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen, hg. von Ludwig Eiber/ Robert Sigel, Göttingen 2007, S. 109 – 125.
[9] Cornwell, John: Forschen für den Führer. Deutsche Naturwissenschaftler und der Zweite Weltkrieg, Bergisch Gladbach 2006.
[10] Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016.