Mengele vor Gericht – das hypothetische Szenario von „Nichts als die Wahrheit“ (1999)
Josef Mengele (1911 – 1979), Schüler von Otmar von Verschuer (1896 – 1969), Doktor der Medizin und der Anthropologie, SS-Hauptsturmführer, Träger des Eisernen Kreuzes, Lagerarzt von Auschwitz-Birkenau, genannt der „Todesengel von Auschwitz“ und bis heute einer der berüchtigtsten Nazis. Obwohl er so unbedeutend war, dass Adolf Hitler (1889 – 1945) vermutlich nicht einmal wusste, dass er existierte, ist Mengele bis heute der Inbegriff der größten Schrecken des Nazi-Regimes. Wo andere Nazis in all ihrer Grausamkeit pragmatisch, zielorientiert und effizient waren, sticht Mengele noch einmal durch seinen besonderen Sadismus unter dem Deckmantel von Forschung und Fortschritt heraus. Und noch eines machte ihn zum Mythos: Die meisten wirklich notorischen Nazi-Größen fielen im Krieg, begingen bei oder nach dessen Ende Selbstmord oder wurden vor Gericht gestellt. Mengele jedoch entkam und starb am 7. Februar 1979 durch einen Schlaganfall beim Baden im Meer vor Bertioga in seinem brasilianischen Wahlexil. Der Grausamste unter den Grausamsten kam ungeschoren davon!
Aber was wäre, wenn nicht? Was wäre, wenn Mengele die Leiche seines ihm ähnlich sehenden Vetters, der auf diese Weise starb, als die seine ausgegeben hätte, um der Verfolgung zu entgehen? Was wäre, wenn Josef Mengele nicht nur überlebt hätte, sondern doch noch vor Gericht gestellt worden wäre? Dieses fiktive Szenario ist die Ausgangsidee von „Nichts als die Wahrheit“ von Roland Suso Richter (*1961): Ein an Knochenkrebs erkrankter, dem Tod geweihter Josef Mengele (Götz George, 1938 – 2016) stellt sich 1999 den deutschen Behörden und will seine „Wahrheit“, seine Version der Geschichte erzählen.
Dazu lässt er den Strafverteidiger und Mengele-Experten Peter Rohm (Kai Wiesinger, *1966) von rechtsextremistischen Verbindungsleuten um den ehemaligen Fluchthelfer Müller (Heinz Trixner, *1941) entführen und nach Brasilien verschleppen. Zuvor hat er Rohm, der seit Jahren für ein Buch über Mengele recherchiert hat, seine SS-Uniform zukommen lassen. Mengele gibt sich Rohm nicht gleich zu erkennen, fragt ihn, ob er Mengele in einem hypothetischen Szenario verteidigen würde, worauf Rohm empört erwidert, er wäre, wenn dessen Ankläger. Mengele verspricht Rohm im Austausch für eine Verteidigung Antworten auf all jene Fragen, die er sich seit Jahren stelle, und überlässt ihm ein Rückflugticket, reist aber im selben Flugzeug ebenfalls nach Deutschland und stellt sich dort den Behörden. Staatsanwalt Heribert Vogt (Peter Roggisch; 1937 – 2001) verhört Rohm zunächst, erkennt in ihm aber rasch einen Verbündeten, als beiden klar wird, dass der Prozess geführt werden muss. Abgesehen von einem Nebenplot um die Neonazis, die Mengele die Heimreise ermöglicht haben, und sich verraten fühlen, als der vor Gericht bereitwilligt auspackt und den Holocaust einräumt, und Rohms Frau Rebekka Rohm (Karoline Eichhorn, *1965), die als Journalistin dies aufdecken will, befasst sich der Film mit drei zentralen Fragen:
- Warum tat Mengele, was er tat?
- Wie standhaft ist unser Rechtsstaat gegenüber einem Verbrecher diesen Ausmaßes?
- Wie viel Mengele steckt in jedem von uns?
Während die Dialoge aus der Feder von Johannes W. Betz (*1965) anfangs noch etwas hölzern und stereotyp daherkommen, entfalten sie im späteren Verlauf weit größere Tiefe, weshalb wir uns über sie den drei Fragen nähern wollen. Da die große Frage nach Mengeles Motiv, das zentrale Thema seiner Wahrheit den ganzen Film umspannt, fangen wir mit den etwas übersichtlicheren Fragen hinsichtlich Rechtsstaat und Eigenverantwortung an. Ein Dialog zwischen Rohm und Vogt, der sich, kurz nachdem der Entschluss zum Prozess gefasst wurde, abspielt, fasst die zwei Hauptthesen von Staatsanwalt und Verteidiger zu beidem gut zusammen:
Heribert Vogt: „Ich habe diesen Mann ein Jahrzehnt lang gejagt – von 1975, als ich hier anfing, bis 1985, als seine angeblichen Knochen gefunden wurden. Ich kenne ihn so gut wie Sie, Herr Rohm, und ich wette darauf, dass seine Antworten nur aus Lug und Trug bestehen werden. Das Beste, das Sie erwarten können, ist ein mustergültiger Schauprozess, in dem wir seine Lügen und seinen Selbstbetrug ein gutes Stück weit entlarven können, um ihn dann für den Rest seines jämmerlichen Lebens wegzusperren.“
Peter Rohm: „Und wenn die Sache nicht ganz so einfach ist?“
Heribert Vogt: „Es wird so einfach sein.“
Peter Rohm: „Moment mal, mich stört nur an Ihrer Analyse nicht Ihre Einschätzung Mengeles, aber die Tatsache, dass Sie einfach davon ausgehen, wir seien die besseren Menschen. Das halte ich doch für ‘n Trugschluss.“
Heribert Vogt: „Ist doch keine Kunst, ein besserer Mensch zu sein als Mengele.“
Peter Rohm: „Sie wollen also Mengele vor der johlenden Öffentlichkeit seine Taten einfach an den Kopf werfen, ihn verurteilen und einsperren. Sie wissen, dass das nicht so weit weg von der Nazi-Justiz ist?“
Heribert Vogt: „Ja, das weiß ich. Mein Gott, ich bin doch nur der Staatsanwalt. Und was sind Sie?“
Peter Rohm: „Ich bin nur ein Rechtsanwalt.“
Heribert Vogt: „Zusammen könnten wir ein ziemlich gutes Team sein. Finden Sie nicht auch?“
Peter Rohm: „Ich würd darauf nicht wetten.“
Der Dialog macht hinsichtlich des Prozesses ein auch schon bei anderen Prozessen gegen Kriegsverbrecher oft angesprochenes Problem deutlich: Es sind Schauprozesse, bei denen das Urteil schon im Vorhinein feststeht. Aber so sehr diese in ihrem Aufbau denen der Nazis ähneln mögen, gibt es einen gewaltigen Unterschied: Bei Schauprozessen der Nazis wurden Menschen für Verstöße gegen geltendes Recht, die keine hätten seien dürfen, verurteilt. Es war Machtmissbrauch der Mächtigen. Der Prozess gegen Mengele und viele reale Prozesse gegen Kriegsverbrecher werden geführt wegen Verbrechen, die so ungeheuerlich sind, so eklatant gegen jede Moral und Ethik verstoßen haben, dass die Schuld so sehr über allem Zweifel erhaben ist, dass es keines Gesetzes und eigentlich auch keinen Prozesses bedarf, um sie festzustellen. Der Prozess wird deshalb zur Formsache, ist aber Gerechtigkeit für die Machtlosen. Wobei man einwenden mag, dass es dennoch immer ein Stück weit Siegerjustiz bleibt. Nicht etwa, weil Militärs und Diktatoren, die für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurden, dies nicht verdienten, sondern weil viele wirklich große Kriegsverbrecher ebenso ungeschoren davonkommen wie Mengele. Menschen wie Harry S. Truman (1884 – 1972), Josef Stalin (Иосиф Сталин; 1878 – 1953), George W. Bush (*1946), Barack Obama (*1961) oder Vladimir Putin (Владимир Путин; *1952) fanden sich nie auf einer Anklagebank wieder und werden es auch wohl nicht mehr. Leider gleitet der Film bisweilen auch zum Schauprozess ab, traut sich zu wenig, wenn es um die wirklich unangenehmen Aspekte unseres Umgangs mit einem Menschen wie Mengele geht. Da ist es umso wichtiger, wenn in Szenen wie dieser die eigentliche Schlüsselfrage zumindest angerissen wird.
Denn die Szene gibt einen tiefen Einblick in Rohms Sicht auf die Nazis: Es ist purer Selbstschutz, aber auch Selbstbetrug, wenn man sich hinstellt und sagt: „Das waren keine Menschen wie ich. Ich bin anders.“ Dabei liegt doch der eklatante Schrecken der NS-Verbrechen genau darin, dass es ganz normale Menschen waren, die alle mitgemacht haben. Zu behaupten, die Nazis seien „verrückt“ oder „geisteskrank“ gewesen, diffamiert nicht nur eklatant psychisch kranke Menschen, die ebenfalls zu Zehntausenden im Rahmen der Aktion T4 von den Nazis ermordet wurden, sondern verkennt auch, dass dann der überwiegende Teil eines ganzen Volkes an kollektiver Geisteskrankheit gelitten haben müsste. Selbst der Führungsebene wurde bei psychologischen Untersuchungen im Rahmen der Nürnberger Prozesse zwar ein Mangel an Empathie, aber keine psychische Erkrankung attestiert. Wie nah man als ganz normaler Bürger den Mördern seien kann, muss Rohm am eigenen Leib schmerzlich erfahren, als ihm Mengele eröffnet, dass seine Mutter Hilde Rohm (Doris Schade, 1924 – 2012) im Rahmen von T4 getötet und nachher ihren Lebenslauf gefälscht hat. Zweimal hat sie als Krankenschwester auf Anordnung der Ärzte eine Spritze gesetzt, die dann zum Tod eines Patienten geführt hat. Als ihr klar geworden ist, was sie getan hatte, hat sie darum ersucht, dies nicht mehr tun zu müssen. Ihr Gewissen plagt sie dennoch. Im Film wird sie so aber auch zur Kronzeugin, die eine kaum genutzte Gaskammer in einer Tötungsanstalt offenbaren kann, die dort abgebaut und nach Auschwitz verbracht worden ist.
In diesem Kontext ist auch Rohms eigene Rolle als Verteidiger interessant. Seiner Frau sagt er, wenn er Mengele gut verteidige, mache dies aus ihm einen schlechten Menschen. Verteidige er ihn schlecht, mache dies einen schlechten Anwalt aus ihm. Als Jurist hieße für ihn aber, ein guter Mensch zu sein, auch ein guter Anwalt zu sein. Auch die Richterin Gunda Friedrichs (Michaela Rosen, * 1956) schwört ihn darauf ein, er habe den schwersten Job, aber sie erwarte von ihm, dass er diesen gewissenhaft ausführe. Rohm sieht sich aber durchaus mit der Frage konfrontiert, wie man einen Menschen wie Mengele verteidigen kann. So etwa bei der Pressekonferenz:
Peter Rohm: „Es geht nicht darum, dass es irgendjemand tun muss. Also, wenn nicht ich, dann eben irgendjemand anders, sondern er wollte mich. Und ich habe keinen Grund gefunden, es nicht zu machen.“
Journalist: „Es ist Josef Mengele. Mir würde das reichen.“
Peter Rohm: „Den hier [hält Pistole in Beweismittelbeutel hoch] hat die Polizei vor einer halben Stunde einem Demonstranten abgenommen und zwar einem von der antifaschistischen Fraktion. Bitte schön. Nehmen Sie ihn, gehen Sie in die JVA und erschießen Sie Herrn Mengele. Sie wären ein Held des Volkes und wir können uns den ganzen Prozess sparen. Wäre das in Ordnung? Ach, Sie nicht? Oder Sie? Oder Sie vielleicht?“
Journalist: „Das ist doch Quatsch.“
Peter Rohm: „Ach, das ist Quatsch. Aber Herrn Mengele das Recht auf einen Verteidiger abzusprechen, das finden Sie in Ordnung, ja?“
Leider sind diese Momente, wo der Film wirklich an die Grenzen geht, sich traut, richtig unangenehm zu werden, eher selten. Dabei sollte man erwarten, dass gerade Mengele selbst durch seine Aussagen und sein Verhalten schockt und den Spiegel vorhält. Dies wird zwar immer wieder versucht, gelingt aber leider allzu selten. Einer der Momente, in dem man wirklich das wahre Monster zu sehen und hören bekommt, hat nicht einmal mit Auschwitz zu tun, sondern beschäftigt sich mit Mengeles Zeit als Arzt an der Front:
Heribert Vogt: „Laut Ihren eigenen Aufzeichnungen mussten Sie darüber entscheiden, ob die Verwundeten dem Tod überlassen oder ob sie behandelt werden sollten.“
Dr. Josef Mengele: „Das ist korrekt. Die Ausfälle waren wider Erwarten sehr hoch.“
Heribert Vogt: „Sie haben schwer verwundete Soldaten absichtlich im Matsch verrecken lassen. Nicht etwa, dass ich diese Situation mit der von Auschwitz vergleichen wollte, aber: Bekamen Sie da keine Gewissensbisse?“
Dr. Josef Mengele: „Nein, ich bekam dafür das Eiserne Kreuz, Herr Staatsanwalt.“
Rufe im Gerichtssaal.
Gunda Friedrichs: „Ruhe bitte!“
Peter Rohm: „Wo wir schon dabei sind, Herr Staatsanwalt, wollen wir doch nicht unter den Tisch fallen lassen, dass Herr Mengele unter Einsatz seines Lebens zwei Kameraden – unter Feindbeschuss – aus einem brennenden Panzer gerettet hat und auch noch medizinisch versorgt hat. Er wurde im Krieg selbst verwundet.“
Hier zeigt sich: Die Macht über Leben und Tod macht ihn stolz, berauscht ihn regelrecht. Aber den Josef Mengele, der eine Opernmelodie pfeifend eine Hand im Mantel hat wie Napoleon und die andere ausstreckt, um mit dem Daumen zur Arbeit oder zur Gaskammer zu dirigieren, bekommen wir zwar von Zeugen vor Gericht beschrieben, aber nicht zu sehen. Stattdessen haben wir einen kränklichen Götz George, der mehr wirkt wie ein Schurke aus „Star Wars“: Er keucht wie Darth Vader, hustet wie General Grievous und sieht aus wie der Imperator, leider ohne die zur Schau getragene „Würde“ eines Count Dooku. Der Film ist so bemüht, Mengele schwach und gruselig wirken zu lassen, dass er zur Karikatur verkommt und durch den Film krebst wie Nosferatu.
Aber was ist mit der großen zentralen Frage? Warum tat Mengele, was er tat? Rohm will diese Wahrheit und wir als Zuschauer ebenso. Bei einem Gespräch zwischen Anwalt und Klient stellt Rohm Mengele zur Rede und will von ihm zunächst Bestätigung seiner Taten, wohl in der Fehlannahme, der „Todesengel von Auschwitz“ würde leugnen und abstreiten wie so viele vor ihm. Aber wozu sich stellen, wenn man schweigen will?
Dr. Josef Mengele: „Ich kann Ihnen jetzt gerne meine medizinischen Experimente auflisten. Ich meine das ist … aber wirklich relevant ist die medizinische Praxis der damaligen Zeit.“
Peter Rohm: „‚Josef Mengele hatte die Augen verstorbener Gefangener an ein Brett geheftet wie eine Sammlung von Schmetterlingen.‘ Hatten Sie eine solche Sammlung?“
Dr. Josef Mengele: „Ja… medizinische Studien erfordern die Sammlungen von Präparaten. Wissen Sie, in den Dreißigerjahren…“
Peter Rohm: „‚Josef Mengele selektierte persönlich über 300.000 Männer, Frauen und Kinder zur Tötung in den Gaskammern.‘ Haben Sie diese Menschen in die Gaskammern geschickt?“
Dr. Josef Mengele: „Ich dachte, Ihnen geht es darum, zu verstehen?“
Peter Rohm: „HABEN SIE DIESE MENSCHEN IN DIE GASKAMMERN GESCHICKT?!“
Dr. Josef Mengele: „Ja, ja ich hab es getan. Ich habe das alles getan. Bitte, ich gebe es zu. Ich gebe das alles zu. Kommen Sie! Kommen Sie! Lassen Sie uns ein wenig gehen, ja? Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Damals wurde diese Botschaft von jedem meiner Kollegen verstanden – in der Wissenschaft und in der Praxis!“
Peter Rohm: „Das ist Ihre Verteidigung? Auschwitz als populäre Spielart der Medizin? Sie sind doch nicht ganz dicht! Wenn ich Sie verteidigen soll, dann müssen Sie mir schon noch was anderes liefern.“
Dr. Josef Mengele: „Wissen Sie wie das Leben in Auschwitz war? Es war die Hölle. Eine Hölle, in der die Kinder und die Alten und die Kranken entsetzlich zu leiden hatten – ohne Aussicht auf Überleben. Eine Hölle, aus der ich den einzigen Ausweg anzubieten hatte. Seien Sie nicht so naiv. Peter! Die Medizin wird niemals jede Krankheit besiegen. Es wird immer Situationen geben, in denen gewissenhafte Ärzte töten müssen. Ja, das ist meine Verteidigung.“ – lacht – „Die Verteidigung des Todesengels von Auschwitz.“
Und genau als der offenbart er sich hier, denn „Todesengel“ ist ein nicht unüblicher Euphemismus für Serienmörder, die in Krankenhäusern als Ärzte oder Krankenschwestern arbeiten und bereits totkranke Patienten „erlösen“ – so verstehen sie es. In Wahrheit ist es eine gute Tarnung, um unbehelligt zu morden Anders als etwa die Verbrechen von Einheit 731 und auch anderer Nazi-Ärzte hatten Mengeles „Forschungen“ nämlich keinen messbaren Nutzen. Wo die Ärzte um Ishii Shirō (石井 四郎; 1892 – 1959) sich mit ihrem Wissen Straffreiheit erkaufen konnten, weil sie trotz all ihrer Grausamkeit eine klare Zielsetzung verfolgt hatten und ihre Ergebnisse daher von militärischem Nutzen waren, waren Mengeles von von Verschuer angeregte Experimente mit „lebensunwertem Menschenmaterial“ wahllos, weil ihr Ziel eine Fantasterei von Rasseneugenikern war: der Übermensch. Also will Film-Mengele sich jetzt als Erlöser verkaufen. Eine befriedigende Antwort ist das vor dem Hintergrund, dass wohl jeder in Auschwitz die Gaskammer Mengeles Operationstisch vorgezogen hätte, nicht.
Unbefriedigt von den Antworten Mengeles und wohl auch, um sich selbst noch ertragen zu können, plädiert Rohm am Ende auf schuldig. Mengele bleibt die „Wahrheit“ so auch schuldig. Das überrascht nicht wirklich, denn wie könnte man erklären, was dieser Mann tat, ohne das zu tun, was Staatsanwalt Vogt vorhatte: Ihm seine Verbrechen gepaart mit Vorwürfen an den Kopf werfen? Denn die Wahrheit ist wohl, dass Mengele nicht, wie er auch im Schlusswort noch einmal betont, ernsthafte medizinische Forschung oder Erlösung im Sinn hatte (was wahrlich immer noch grotesk und abstoßend genug wäre), sondern den Rassenwahn der Nazis. Und er lebte einen ungeahnten Sadismus, Machtfantasien und andere dunkle Triebe aus, als sich eine günstige Gelegenheit bot. Das würde man aus dem Mund eines Josef Mengele – real oder fiktiv – aber niemals zu hören bekommen. Die Worte, mit denen Mengele uns als Zuschauer entlässt sind somit auch andere:
„Wenn es einen Gott gibt, dann kennt er die Wahrheit. Ich bin unschuldig. Die Wahrheit liegt immer hinter den Tatsachen verborgen. Ich habe getötet. Natürlich hab‘ ich getötet. Zum Wohle der Menschheit, weil ich ein guter Arzt war. Ein guter Wissenschaftler. Fehler kann man sich als Wissenschaftler nicht leisten. Die besten Ärzte töten. Müssen töten. Täglich. Heute nehmen sie Ratten, Mäuse und Affen und all ihre kostbare Zeit. Wir haben damals keine Zeit verloren. Ein Jahr mehr und wir hätten die gesamte Medizin revolutionieren können. Im Grunde hat sich alles nur verzögert. Was die heutige Medizin zu leisten im Stande ist, dazu haben wir damals den Grundstein gelegt. Die Wahrheit duldet keine Fehler. Wir haben unsere Experimente wiederholt. Immer, immer und immer wieder wiederholt. Damit absolute Gewissheit über das Ergebnis herrschte. Ich wäre fast Professor geworden wie mein, wie mein Lehrer und Mentor von Verschuer. Ja. Hat man ihn vor Gericht gestellt? Natürlich nicht. Weil sein Wissen von viel größerer Bedeutung war und seine Schuld … nun gut, vor einem medizinischen Fachtribunal wären wir vielleicht besser dagestanden. Diese Ignoranten. Diese Bürokraten haben doch keine Ahnung, was in der Medizin möglich ist. Die Zukunft wird entscheiden und wir werden sehen. Ich bin guter Dinge. Was sehen Sie? Sehen Sie wenigstens ein bisschen von sich selbst in mir?“
Literatur und Quellen
Johannes W. Betz, Beate Veldtrup: Nichts als die Wahrheit Fischer Oktober 2001.
Nichts als die Wahrheit bei der IMDb