Das Dritte Reich aus der Warte eines Kindes: „Jojo Rabbit“ von Taika Waititi
Das Dritte Reich und den Nationalsozialismus aus der Warte der deutschen Bevölkerung zu porträtieren, diese von ihrer menschlichen Seite zu zeigen, ist schon eine heikle Gratwanderung, an der viele Autoren und Filmemacher gescheitert sind, echte Sympathien zu erzeugen, ohne die Schuld von den Schultern der Deutschen zu nehmen, umso mehr. Wenn man dann hört, dass dies in einer Tragikomödie versucht wird, in der der imaginäre Freund des 10-jährigen Protagonisten Adolf Hitler (1889 – 1945) ist, kann man kaum glauben, dass das gut gehen kann, doch gelingt dieser unglaubliche Kunstgriff dem sonst eher für weit grellere und klamaukigere Stoffe bekannten Taika Waititi (*1975) mit dem lose auf dem Roman „Caging Skies“ von Christine Leunens (*1964) basierenden Film „Jojo Rabbit“ mit unglaublichem Geschick und Fingerspitzengefühl.
Falkenheim, Deutsches Reich im Frühjahr 1945: Der 10-jährige Johannes „Jojo“ Betzler (Roman Griffin Davis, *2007) ist ein glühender kleiner Nationalsozialist, dessen Begeisterung für „den Führer“ so groß ist, dass er in ihm nicht nur seinen besten Freund sieht, sondern ihn sogar als imaginären Freund (Taika Waititi selbst), der ihm aufmunternd zur Seite steht, herbeifantasiert. Sein Vater ist laut Jojo an der Front in Italien, es wird jedoch angedeutet, dass er desertiert und dem Widerstand beigetreten ist. Da seine sieben Jahre ältere Schwester Inge kürzlich verstorben ist – wovon die Behörden keine Kenntnis haben – lebt Jojo allein mit seiner Mutter Rosie Betzler (Scarlett Johansson, *1984) – Typ moderne, starke Mutter ohne Mutterkreuz. Voll Vorfreude geht Jojo, der sich bislang nicht einmal selbst die Schnürsenkel binden kann, mit seinem zweitbesten Freund (nach dem imaginären Adolf) Yorki (Archie Yates, *2009) zur Einführung des Jungvolks, die von Hauptmann Klenzendorf (Sam Rockwell, *1968) alias „Hauptmann K.“ geleitet wird, einem kriegsversehrten (er hat ein Auge verloren) Wehrmachtsoffizier, der obwohl er keinen Hehl daraus macht, nicht glücklich über seine neue Aufgabe zu sein, durchaus eine gewisse Fürsorge und Zuneigung für seine Schützlinge hegt. Ihm zur Seite stehen sein etwas treudoofer Assistent Finkel (Alfie Allen, *1986) und das fanatische Fräulein Rahm (Rebel Wilson, *1980) von der SS, das die Kadetten im paramilitärischen Ausbildungslager mit einem lässigen „Heil Hitler zusammen“ begrüßt und sie später über allerhand Eigenheiten „des Juden“ aufklärt, wobei der Film sich erstmals über die haarsträubenden Vorurteile der Nazis gegenüber Juden lustig macht, indem er sie einfach nur zitiert. Hier zeigt sich zum ersten Mal deutlich eine ganz große Stärke des Films: Es ist nicht nötig, das NS-Regime zu überzeichnen, um es der Lächerlichkeit preiszugeben, denn vieles in der Propaganda der Nazis – gerade ihre rassistischen Lügenmärchen – war so lächerlich, dass man zwar glauben kann, dass ein 10-jähriger und von Klein auf indoktrinierter Junge darauf reinfallen würde, jedoch nicht ein ganzes Volk, obwohl genau das passiert ist. Wobei auch die Aufklärung über die Geschlechterrollen im NS-Staat gleich bei der Einführung einen unfreiwillig schmunzeln lässt. Waititi versteht es also sehr gut, die profane Idiotie des Faschismus herauszuarbeiten, ohne sie künstlich ins Lächerliche zu ziehen. Er bildet ab und erzeugt die Komik in all dem Grauen durch eine gekonnte Verdichtung der Absurditäten.
Als ältere HJ-Kadetten Jojo auffordern ein Kaninchen (englisch: „rabbit“) zu töten, indem er ihm das Genick brechen soll, bringt Jojo es nicht übers Herz und wird als „Jojo Hasenfuß“ (im Original „Jojo Rabbit“) verspottet. Allein mit Adolf im Wald redet Jojos imaginärer Freund ihm Mut zu. Zeitgleich versucht Klenzendorf den Jungkadetten zu erklären, wie sie eine Stabgranate verwenden sollen. Da kommt Jojo Rabbit aus dem Wald gerannt, entreißt Klenzendorf dessen Übungsgranate im Vorbeistürmen, wirft sie… gegen einen Baum, von dem sie abprallt und ihm wieder vor die Füße fällt. Jojo endet erst einmal im Krankenhaus und hat nach seiner Entlassung Narben im Gesicht. Auch das Laufen fällt zunächst schwer. So bringt ihn seine Mutter nicht wieder zur Kadettenausbildung, besteht aber, obwohl Jojo auch von der Schule befreit wird, da seine Narben die anderen Kinder laut Fräulein Rahm ängstigen könnten, darauf, dass Klenzendorf ihm zumindest kleinere Arbeiten anvertraut. So wird Jojo Rabbit zum Plakatekleben losgeschickt. Danach trifft er sich wieder mit seiner Mutter, die vor einem Schaugalgen steht, an dem Regimegegner aufgeknüpft wurden. Jojo wendet sich angeekelt ab, doch Rosie fordert ihn auf hinzusehen, dreht mit sanfter Gewalt seinen Kopf zu den Toten herum. „Was haben die getan?“, fragt Jojo Rabbit seine Mutter. „Was sie konnten“, erwidert die.
Rosie Betzler zeigt hier zum ersten Mal, was sie wirklich vom Regime hält. Der Charakter ist die vielleicht stärkste Darbietung in Johanssons beachtlicher Schauspielkarriere. Sie ist eine sorgende und liebende Mutter, aber auch ein großmütiger Freigeist, der in einem repressiven totalitären Regime lebt. Sie leistet Widerstand, wenn auch nur im Kleinen, da sie auch einen Sohn hat, für den sie sorgen muss und der zu ihrem Pech allzu anfällig für die Propaganda der Nazis ist – der Feind im eigenen Haus. Gerade darunter leidet sie, ist aber überzeugt, dass ihr kleiner Jojo noch irgendwo unter der braunen HJ-Uniform schlummert. Charakteristisch für Rosie sind ihre immer wieder prominent in Szene gesetzten rot-weißen Schuhe, die keine Schnüre haben. Gleichzeitig sieht sie sich ein ums andere Mal gezwungen, ihrem Filius die Schuhe zuzubinden. Dass seine Mutter das Regime ablehnt und auch aktiv dagegen agiert, findet Jojo eher zufällig heraus, als er in Inges altem Zimmer eine Geheimtür unter der Dachschräge findet, die durch den kleinen Zwischenraum zwischen Dach und Dielen gebildet wird. Hier versteckt Rosie eine ehemalige Mitschülerin von Inge: Elsa Korr (Thomasin McKenzie, *2000).
Jojo ist sofort klar, dass das Mädchen Jüdin ist, aber auch, dass sie zu verraten, auch seiner Mutter Schwierigkeiten bereiten würde und Elsa ist klar, dass Rosie sie vor die Tür setzen würde, wenn sie wüsste, dass Jojo von ihr weiß. So nimmt sie Jojo sein Fahrtenmesser ab und bedroht ihn, er dürfe weder seiner Mutter noch sonst wem erzählen, was er herausgefunden habe. Verängstigt eilt Jojo in sein Zimmer und holt sich dort Rat bei Adolf, der ihm wiederholt Zigaretten zur Beruhigung anbietet – einerseits zeigt sich hieran und etwa auch daran, dass es bei Adolf wohl öfters Einhorn zum Abendessen gibt, dass Jojo nur wenig über den echten Hitler, der Alkohol, Tabak und Fleisch gemieden hat, weiß, andererseits ist der imaginäre Adolf seinem realen Vorbild doch erschreckend ähnlich, wenn es um Problemlösungsstrategien geht. Während Jojo mit Elsa verhandeln will, schlägt Adolf vor: „Wir brennen das Haus nieder und beschuldigen Winston Churchill.“ Tatsächlich gab Hitler kurz vor Kriegsende den Befehl die empfindliche Infrastruktur des Reichs zu vernichten, weil er sein Volk mit sich in den Abgrund reißen wollte. Jojo und Elsa einigen sich, ihre Bekanntschaft geheim zu halten. Angeregt durch einen Kommentar von Klenzendorf will Jojo Rabbit ein Buch über Juden verfassen und Elsa dazu ausfragen. Die tischt ihm jedoch einen völlig überzogenen Stereotyp nach dem andern auf, erfindet Geschichten von Gedankenkontrolle, auch wenn die Schädel von Nazis zu dick dafür seien, und einem unterirdischen Judenreich und behauptet zudem, Juden schliefen wie Fledermäuse kopfüber von der Decke baumelnd. Sie verunsichert und ängstigt Jojo zunächst. Der wiederum fängt an, im Namen von Elsas Verlobten Nathan, der ihr den Antrag mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) machte und laut Elsa nun in Paris bei der Résistance aktiv ist, Briefe zu schreiben, in denen er, weil er glaubt, es würde sie authentischer machen, ebenfalls Rilke zitiert. Zunächst will er Elsa so noch verletzen, doch das ändert sich. Bald will er Elsa Trost spenden.
Bei einem Ausflug mit seiner Mutter zu einem Staudamm sinniert die über die romantische Stimmung, die dort einst geherrscht hätte und die tanzenden Paare, die in ihr verweilt hätten. Jojo Rabbit widerspricht seiner Mutter, als die behauptet, Liebe sei die stärkste Macht, die es gäbe, woraufhin die ihm, statt die Schnürsenkel zu binden, die Schuhe aneinanderbindet, um ihn aufzuziehen. Rosie versucht weiter vorsichtig, die Augen ihres Sohnes zu öffnen, der Romantik und Tanzen so gar nicht erstrebenswert findet. Sie erklärt ihm: „Das Leben ist ein Geschenk. Wir müssen es feiern. Wir müssen tanzen, um Gott zu zeigen, dass wir dankbar sind, am Leben zu sein.“ und weiter: „Tanzen ist etwas für Menschen, die frei sind.“ Elsa offenbart Jojo später, dass das Erste, was sie tun wolle, wenn der Krieg vorbei wäre, ebenfalls Tanzen wäre.
Jojo hegt bereits selbst den starken Verdacht, dass seine Mutter im Widerstand aktiv ist, als eines Tages, als er mit Elsa, in die er sich, wie ihm langsam bewusstwird, verliebt hat, allein zuhause ist, die Gestapo vor der Tür steht: Alle Mann gekleidet wie Major Arnold Toht (Ronald Lacey, 1935 – 1991) in „Jäger des Verlorenen Schatzes“, ebenfalls ein Gestapo-Offizier. Auch Klenzendorf und Finkel treffen kurz darauf im Hause der Betzlers ein. Der Leiter der Hausdurchsuchung, Deertz (Stephen Merchant, *1974), lobt Jojos mit NS-Postern dekoriertes Zimmer und erklärt Jojo Rabbit ohne konkreten Anlass: „Du und deine Freunde, ihr kennt vielleicht das Gerücht, Hitler hätte nur einen Hoden. Das ist Unsinn. Er hat vier!“ Das einst von der britischen Kriegspropaganda in die Welt gesetzte Gerücht, Hitler leide an Monorchie (Fehlen eines Hodens), sollte sich, als nach Kriegsende die Unterlagen des Gefängnisarztes von Landsberg, der Hitler 1923 bei seinem Haftantritt untersuchte, publik wurden, übrigens als wahr herausstellen. Auch weisen Berichte von Soldaten, mit denen Hitler im Ersten Weltkrieg kämpfte, auf einen deformierten Mikropenis des Diktators hin. Andere zeitgenössische Quellen legen Impotenz und sogar Koprophilie nahe. „Jojo Rabbit“ karikiert auch an anderen Stellen die große Rolle, die Sexualität in der NS-Propaganda spielte. So glaubt Jojo, Juden würden „Penisspitzen“ rauben, damit die Rabbis sie als Ohrstöpsel verwenden könnten. Gegen Ende des Films warnt Yorki Jojo auch vor den Alliierten mit den Worten: „Wir müssen sie aufhalten, bevor sie uns essen und unsere Hunde vögeln.“
Deertz fällt jedoch auf, dass dem vorbildlich in Uniform gekleideten Jojo sein Fahrtenmesser fehlt, weshalb Elsa sich offenbart und dabei als Inge ausgibt. Sie händigt Jojo das Messer aus und wird von Deertz um ihre Papiere ersucht, die sie auch in Inges Zimmer findet. Klenzendorf fordert sie auf, ihm den Ausweis zu geben und fragt dann Alter des Fotos und Geburtsdatum ab. Elsa sagt fälschlicherweise, ihr bzw. Inges Geburtstag sei am 1. Mai, obwohl er am 7. ist. Obwohl Klenzendorf also umgehend klar sein muss, was vor sich geht, gibt er vor, die Angaben würden übereinstimmen. Er deckt Elsa also.
Bald darauf sieht Jojo sich auf dem Marktplatz mit dem Anblick der rot-weißen Schuhe seiner Mutter, die einen halben Meter über dem Boden hängen, konfrontiert, in ihnen die leblosen Füße Rosies. Weinend umarmt Jojo Rabbit die Beine seiner toten Mutter. Von Adolf angestachelt macht Jojo Elsa für Rosies Tod verantwortlich und geht mit dem Messer auf sie lost, verletzt sie aber nur leicht, ehe er weinend zurückschreckt. Auch bei Elsa fließen die Tränen, als sie realisiert, was geschehen ist. Doch neigt der Krieg sich dem Ende. Am Abend beobachten Jojo Rabbit und Elsa vom Fenster aus, die sich nähernde Frontlinie am Horizont, wo immer wieder Geschützfeuer aufleuchtet.
Als Jojo Yorki, der inzwischen Soldat ist, auf der Straße trifft, erfährt er von diesem von Hitlers Selbstmord. Fräulein Rahm schickt die Kindern nun selbst in Gefecht und Hauptmann Klenzendorf erscheint in seiner selbst entworfenen Uniform, die ihn wie einen Superhelden aussehen lässt, auf dem Schlachtfeld. Jojo begegnet ihm wieder, als beide von russischen Soldaten gefangengenommen werden. Hier zeigt sich der Hauptmann erneut von seiner mitfühlenden Seite, trauert mit Jojo um Rosie, die laut Klenzendorf ein „guter Mensch“ war, bittet ihn gar um Verzeihung und stößt Jojo dann ihn als „Juden“ beschimpfend von sich, was zu Jojos Freilassung führt, während man Klenzendorf wegzerrt und exekutiert. Dies führt einem vor Augen, dass die Welt sich nicht einmal im Zweiten Weltkrieg in gute und böse Menschen unterteilen ließ. Klenzendorf war ein Erfüllungsgehilfe des Regimes und doch empfinden wir in diesem Moment Bedauern und Mitleid mit ihm, weil wir ihn durch Jojos Augen sehen, dem und Elsa er das Leben gerettet hat. Auch zeigt die Szene, das vieles, was bei Kriegsende seitens der Siegermächte geschah, sich bei aller verständlichen Wut gegen genau die Deutschen richtete, die sich mit dem Regime hatten arrangieren müssen und keine Überzeugungstäter waren, wohingegen viele Schlüsselfiguren, die nicht zur Führungsebene gehörten, nach Kriegsende ohne wirkliche Konsequenzen fürchten zu müssen, in Amt und Würden verweilten: Richter, Staatsanwälte, Lehrer, Beamte, Ärzte.
Wieder zuhause lügt Jojo Rabbit Elsa über den Kriegsausgang an, weil er fürchtet, von ihr verlassen zu werden. In einem weiteren Brief von Nathan will er ihr dann wieder Hoffnung machen und sie offenbart ihm, dass Nathan schon seit einem Jahr tot ist und sie deshalb stets wusste, dass die Briefe natürlich von Jojo stammten, der nun seine Liebe gesteht, die Elsa aber nur auf geschwisterliche Weise erwidert. Nachdem Jojo Adolf aus dem Fenster geworfen hat, führt er Elsa, die Rosies Schuhe trägt, nach draußen, wo sie Soldaten mit der amerikanischen Flagge vorbeifahren sieht. Sie ohrfeigt Jojo Rabbit, der zugibt, dies verdient zu haben. Dann beginnen beide zu tanzen.
„Tanzen ist etwas für Menschen, die frei sind.“
„Jojo Rabbit“ ist einer dieser seltenen und außergewöhnlichen Filme, bei denen Lachen und Weinen oft nur Sekunden von einander entfernt liegen. Die vielleicht größte Stärke sind bei aller entlarvenden Wirkung aber die exzellent besetzten Charaktere, die einem entgegen aller Wahrscheinlichkeit ans Herz wachsen. Es ist ein sehr menschlicher Film über die denkbar unmenschlichste Zeit.