Der Film Der Pianist (2002) zeigt in dokumentarisch anmutenden Bildern die Geschehnisse im Warschauer Ghetto zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. „We had to tell the story the way it was“ lautete der Anspruch des Regisseurs Roman Polański, als er die biographischen Erinnerungen des polnisch-jüdischen Pianisten Władysław Szpilmans für den Film verarbeitete. Da es aber einen unmittelbaren Zugang zur historischen Wahrheit nicht geben kann, lässt sich die Frage stellen, inwiefern die Darstellung der Geschehnisse in dem Film Der Pianist als wirklichkeitstreu zu beschreiben sind
Roman Polański und Władysław Szpilman überlebten den Holocaust als verfolgte Juden. Polański konnte als acht-jähriger Junge dem Krakauer Ghetto entfliehen, seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Szpilmans Familie wurde aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka deportiert und ermordet. Szpilman hatte zunächst aufgrund seines Könnens als Konzertpianist einige Privilegien. Nach der Deportation seiner Familie konnte er sich mit Hilfe von befreundeten Polen und des Wehrmachtsoffiziers Wilm Hosenfeld verstecken. Szpilman schildert in der Autobiographie ‚Śmierć miasta’ (‚Der Tod einer Stadt’), die er unmittelbar nach Kriegsende verfasste und die 1946 in Polen erschien, seine Erlebnisse von 1939 bis 1945 in Warschau. Im Hinblick auf seine Referenz ist ‚Der Pianist’ somit authentisch; es werden historisch verbürgte Ereignisse dargestellt. Da diese Ereignisse jedoch nachgestellt werden, ist ‚Der Pianist’ der Fiktion zuzuordnen. Im Rahmen dieses Aufsatzes wird die Frage nach den Mitteln der Gestaltung im Film ‚Der Pianist’ gestellt, die einen Wirklichkeitseffekt erzielen sollen. Im Zusammenhang mit der Repräsentation des Holocaust geht es darum, inwiefern der Holocaust in dem Film ‚Der Pianist’ authentisch dargestellt wird.
Die Biographie Szpilmans eignet sich, so Polański (2003), durch die detaillierten und recht sachlichen Beschreibungen gut als Grundlage für eine Verfilmung. Der ursprüngliche Text wurde an einigen Stellen verändert, um ihn in eine in einem Film erzählbare Handlung zu transformieren. So führte man z.B. Personen ein, die in der Biographie Szpilmans nicht erscheinen. Zudem ließ Polański eigene Erinnerungen in die Verfilmung einfließen, was im Hinblick auf die visuelle Gestaltung des Films von Nutzen sein kann, aber die Authentizität der Handlung betreffend eine unzulässige Vermischung der Erinnerungen Szpilmans und Polańskis bedeutet.
Polański setzt vor allem konventionelle filmische Mittel ein und verzichtet auf auffällige Kunstgriffe. Die Technik des Films soll, so gut es geht, unsichtbar bleiben, damit der Fokus auf den Personen und auf der Handlung liegen kann. Die Verwendung konventioneller Erzählmuster hinterlässt beim Publikum den Eindruck von Authentizität, weil sie den (heutigen) Sehgewohnheiten des Publikums entsprechen. Dabei wird jedoch verschleiert, dass jede Darstellung schon Interpretation bedeutet, weil immer von einem bestimmten ‚Sehepunkt’ aus dargestellt werden muss. Somit sind „nicht die Filme […] ‚realistisch’, die angeblich Realität zeigen, sondern diejenigen, die zu erkennen geben, daß es um Film, nicht um Realität geht“ (Thiele 2001, S. 54).
Polański wählt in dem Film Der Pianist die subjektive Perspektive Szpilmans, um den Schrecken des Holocausts und den Schrecken des Krieges darzustellen. Wir begleiten durch die Kameraführung vorwiegend Władysław Szpilman. In der zweiten Hälfte des Films bekommt Der Pianist klaustrophobische Züge: Wie Szpilman befindet sich auch der Zuschauer fast ausschließlich in Wohnungen, in denen Szpilman sich versteckt hält. Die Zuschauer nehmen die Geschehnisse, wie z.B. den Aufstand im Warschauer Ghetto oder den Aufstand in Warschau, durch die Perspektive Szpilmans wahr, der alles durch das Fenster beobachtet. Diese Aufnahmen werden nur durch die Nahaufnahme seines Gesichts unterbrochen, die dem Zuschauer Szpilmans Emotionen vermitteln und den Effekt der Identifikation verstärken sollen. Durch die identifikatorische Nähe zu Szpilman ist das Gefühl der persönlichen Bedrohung für den Zuschauer nachzuempfinden. Der erhöhte Standpunkt in diesen Abschnitten des Filmes ermöglicht zudem einen privilegierten Einblick: Szpilman, und mit ihm der Zuschauer, figuriert als Zeuge der Verbrechen. Der Film bleibt so insgesamt, bis auf wenige Ausnahmen, in der Perspektive eines Opfers und stellt damit unter den Holocaustfilmen eine Besonderheit dar.
Wenn wir Szpilmans subjektive Perspektive verlassen, handelt es sich an einigen Stellen im Film um die Nachstellung von Fotografien, die damals Täter von den Opfern aufnahmen. Die nachgestellten Bilder finden sich im Film ‚Der Pianist’ bei der Darstellung der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Marianne Hirsch (2002, S. 203ff.) geht davon aus, dass diese Aufnahmen nicht gedankenlos aus ihren Kontexten entfernt und in Werke eingefügt werden können, da „die Identität oder die Position des Fotografen – Täter, Opfer, Mitläufer oder Befreier – tatsächlich ein bestimmendes […] Element in der Herstellung der Fotografie ist“. Die Bilder mit dem Blick auf die Opfer sind gekennzeichnet durch den „Nazi-Blick“, der sich durch eine Gebrochenheit auszeichnet, die Primo Levi (1993, S. 138, zit. n. Hirsch 2002, S. 204) wie folgt beschreibt: „wie durch eine Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht, die unterschiedliche Elemente bewohnen“. Werden diese Bilder in dem Film durch ihre Nachstellung wieder verwendet, sehen wir als Zuschauer durch die Position der Täter auf das Ereignis, dadurch werden, so Hirsch (2002, S. 206) „Idiome [mobilisiert, S.K.], die die verheerende Geschichte der Bilder verdunkeln“.
Dass seine gesamte Familie in Treblinka ermordet wurde, erfährt Władysław Szpilman im Film durch einen Bekannten. Auf die Ermordung seiner Familie wird nicht wieder eingegangen, was verdeutlicht, dass im Mittelpunkt des Films Der Pianist vor allem das Überleben Szpilmans steht. Der Holocaust wird somit funktionalisiert als Kontrast zum individuellen Schicksal Władysław Szpilmans. Das mag in filmischer Hinsicht sehr eindrucks- und wirkungsvoll sein, in Bezug auf die Darstellung führt es aber zu einer Verkleinerung der schrecklichen Ausmaße des Holocausts sowie zu einer überhöhten Betonung der wenigen Überlebenden.
Die Musik spielt vor allem als innerfilmisches Thema eine Rolle. Um den realistischen Charakter des Filmgeschehens nicht zu stören, wird Filmmusik in Der Pianist nur sparsam eingesetzt. Vielmehr wird die Musik als eine Leidenschaft dargestellt, die Szpilman hilft, das schreckliche Geschehen zu überleben, was eine Interpretation der Filmemacher bedeutet, da sich dafür keine Referenz in der Biographie finden lässt. So imaginiert Szpilman in mehreren Filmszenen das Klavierspiel bzw. reagiert sichtlich bewegt, wenn er das Spielen von Musik hört. In der Biographie wie im Film wird deutlich, dass Szpilman als Pianist größere Überlebenschancen hatte, da er z.B. eine Arbeit finden konnte, die ihn vor der Deportation bewahren konnte. Darüber hinaus, und das spricht gegen die lebensrettende Funktion der Musik, lassen sich viele Stellen in der Biographie finden, in denen das Überleben Szpilmans einen Zufall darstellte.
Als sich im Film Władysław Szpilman und Wilm Hosenfeld das erste Mal begegnen, hat Szpilman einen langen Leidensweg hinter sich: Er ist körperlich stark geschwächt, seine Kleidung abgerissen, sein Bart lang gewachsen und sein Haar verfilzt. Damit bezieht sich die Darstellung auf die Biographie. Wilm Hosenfeld wird als „hochgewachsen“ und „elegant“ bezeichnet (Szpilman 2002, S. 171). Im Film Der Pianist wird an dieser Stelle ein starker Kontrast inszeniert. Szpilman verkörpert in dieser Szene das schwache, ausgelieferte Opfer; Hosenfeld stellt sein übermächtiges Gegenüber dar, was durch seine überhöhte Position, er steht auf einer Treppe, und die herablassende Haltung, in der er zu Szpilman spricht, verdeutlicht wird. Für diese Haltung Hosenfelds lässt sich keine Referenz in der Biographie finden. Dort wird Hosenfeld eher als beschämt beschrieben, z.B. wegen seiner deutschen Herkunft. Im Film dagegen wird Hosenfeld zunächst als ein zwiespältiger Charakter dargestellt. In der Absicht, Spannung in der Handlung zu erzeugen, bleibt im ersten Moment offen, ob er Szpilman verraten wird. Alles in allem steht der Film aber in der Tradition von ‚Schindlers Liste’, der von der Rettung einer Gruppe von Juden durch den „guten“ Deutschen Oskar Schindler handelt. In Der Pianist ist es Szpilman, der gerettet wird, und als „guter“ Deutscher wird letztlich Wilm Hosenfeld in Szene gesetzt. Mit den Motiven des Juden, der überlebt, und des „guten“ Deutschen wurden Motive ausgewählt, die nicht charakteristisch sind für das tatsächliche Geschehen des Holocaust.
Durch die Untersuchung der eben genannten Aspekte wird deutlich, dass der Holocaust in Der Pianist in eine Spielfilmhandlung eingefügt wird, die spannend und unterhaltend sein soll. Der Pianist setzt auf dasselbe Erfolgsrezept, das schon ‚Schindlers Liste’ verfolgte: „Das Massenschicksal von Verfolgung und Vernichtung zu individualisieren und durch einfache Muster filmischer Identifikation mit Situationen und Personen miterlebbare und nachfühlbare Geschichten anzubieten.“ (Köppen/Scherpe 2002, S. 148) Durch die Funktionalisierung des Holocausts in einem medialen Produkt kann der Film einem breiten Publikum vermittelbar gemacht werden. Diese Filme bewirken eine große Reaktion, da sie die Emotionalität des Publikums über die Identifikation mit den Opfern direkt ansprechen. So war es z. B. nach der Ausstrahlung der US-Serie ‚Holocaust’ 1979 in der BRD der Fall. Die Serie löste eine breite Diskussion in der Bevölkerung über die deutsche Vergangenheit aus. Somit kann die Repräsentation des Holocausts in Der Pianist als gelungen gelten, da sie informiert, sensibilisiert und auch mitfühlen lässt, und so breite Massen über das Geschehen des Holocausts aufklärt.
Durch die Identifikation mit den Opfern bzw. mit dem Opfer Szpilman soll sich ein Ereignis wie der Holocaust nicht wiederholen können, so die Hoffnung Polańskis (2003). Jedoch kann die starke Identifikation mit den Opfern auch problematisch sein. Das erlebte Leid der Opfer ist schwer vorstellbar. Es besteht die Gefahr, dass die Identifikation mit den Opfern das Publikum eins werden lässt mit den Opfern und so die Schuldfrage verdrängt wird. So ist das Publikum zwar betroffen, aber eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Thematik kann nicht stattfinden. Jedoch gibt es keinen Grund, auf die eine richtige Repräsentation des Holocausts zu beharren. Je mehr versucht wird, den Holocaust auf eine angemessene Art darzustellen, desto vielfältiger werden die Ergebnisse sein und desto breiter gefächert ist auch der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses, das die Erinnerung an das Verbrechen des Holocaust über Generationen hinweg bewahren kann.
Autorin: Sarah Krüger, krueger-s((at))web.de
Literatur
Hirsch, Marianne 2002: „Täter-Fotografien in der Kunst nach dem Holocaust. Geschlecht als ein Idiom der Erinnerung“. In: Eschebach, Insa/ Jacobeit/ Sigrid, Wenk/ Silke (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Campus Verlag GmbH, Frankfurt a. M., S. 203-226.
Köppen, Manuel/Scherpe, Klaus R. 1997: Bilder des Holocaust: Literatur – Film – Bildende Kunst. Die Deutsche Bibliothek, Weimar; Wien; Böhlau.
Polanski, Roman 2003: Der Pianist. Film DVD und Bonus DVD. Universum Film GmbH & Co. KG, München.
Szpilman, Władysław 2002: Der Pianist. Mein wunderbares Überleben. Ullstein, München.
Thiele, Martina 2001: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Lit.-Verlag, Münster; Hamburg; Berlin; London.