Ein Widerstreit von Wahrheit und Hoffnung: „Jakob der Lügner“
Die Geschichte von Jakob Heym, Jakob dem Lügner existiert aktuell in drei Versionen. Da wäre der Roman von Jurek Becker (1938 – 1997) aus dem Jahre 1969, der auf einem Drehbuch basiert, das er für einen Film geschrieben hatte, bei dem Frank Beyer (1932 – 2006) Regie führen sollte. Dieser Film konnte jedoch erst 1974 realisiert werden, weil Beyer wegen seines Films „Spur der Steine“ von der staatlichen Zensur der DDR aus der DEFA verbannt wurde, was gleichbedeutend mit einem Arbeitsverbot im filmischen Bereich war, das erst, als der Roman zu einem großen Erfolg geworden war, wieder aufgehoben wurde. Im Film von 1974 spielte Vlastimil Brodský (1920 – 2002) die Rolle des Jakob. 1999 entstand eine weitere, etwas freiere und modernere Adaption unter der Regie von Peter Kassovitz (*1938) mit Schauspiel- und Comedy-Legende Robin Williams (1951 – 2014) in der Titelrolle.
Sowohl Becker als auch Kassovitz sind Holocaustüberlebende. Becker wurde mit seiner Mutter zunächst ins KZ Ravensbrück und später in das KZ-Außenlager Königs Wusterhausen des KZ Sachsenhausen deportiert, wo er von der Roten Armee am 26. April 1945 befreit wurde. Kassovitz wurde von einer katholischen Familie in Budapest vor der Deportation versteckt. Seine Eltern wurden deportiert, überlebten aber. Beyer drehte als Antifaschist zahlreiche Filme, die sich kritisch mit der NS-Zeit auseinandersetzten. Außerdem legten er und Becker sich mehr als einmal mit dem Regime der DDR an. Man kann also davon ausgehen, dass die Geschichte um Jakob Heym für alle drei Künstler eine Herzensangelegenheit war und dass zumindest Becker darin eigene Erlebnisse verarbeitete.
So ist der auktoriale Ich-Erzähler des Romans auch einer der Juden, der mit Jakob in dem namenlosen Ghetto festsitzt, in dem die Geschichte spielt. Diese handelt vom Juden Jakob Heym, dem von einem Wachposten befohlen wird, sich im Revier der Nazis zu melden, weil er angeblich die Ausgangssperre missachtet habe. Als er im Revier nach dem Wachhabenden sucht (im Film von 1999 wartet er auf diesen in dessen Büro), hört er zufällig im Radio, dass die Rote Armee 20 km vor Bezanika steht und somit noch etwa 400 km vom Ghetto entfernt ist. Um seinen Freund Mischa bei der Zwangsarbeit am nächsten Tag von einer Dummheit abzuhalten, die ihn das Leben kosten könnte, erzählt er diesem vom Anrücken der Russen. Er weiß aber auch, dass man ihm nicht glauben würde, dass er, ohne ein Spitzel zu sein, lebend aus dem Revier wieder herausgekommen wäre, weshalb er die Lüge erfindet, er selbst besitze ein Radio, was wiederum unter Todesstrafe verboten ist. Mischa kann die Geschichte nicht für sich behalten und sie verbreitet sich daher rasch im Ghetto. So erzählt Mischa es etwa den Eltern seiner großen Liebe Rosa Frankfurter, als er ihr einen Heiratsantrag macht, weil er ihnen klar machen will, dass es sehr wohl Anlass zur Hoffnung gibt. Rosas Vater Felix Frankfurter, vor dem Krieg Theaterschauspieler, zerstört daraufhin aus Angst vor Durchsuchung ein eigenes Radio, das er bislang ungenutzt im Keller versteckt hielt.
Jakob versteckt derweil das Mädchen Lina, dessen Eltern deportiert wurden, bei sich. Als er jedoch merkt, welchen Effekt die hoffnungsvolle Botschaft, die er Mischa erzählt hat, auf die anderen Menschen im Ghetto hat, sieht Jakob sich genötigt, das Spiel weiterzuspielen und immer neue Lügen zu erfinden, obwohl es manche wie etwa Herschel Schtamm auch zu törichtem Übermut verleitet. Jakob befindet sich also im Zwiespalt. Nach der Deportation von Rosas Eltern und dem Suizid des Kardiologen Professor Kirschbaum, der sich umbrachte, weil man ihn als Arzt zum Sturmbannführer Hardtloff bestellt hatte, ist Jakob schwer angeschlagen. Seinem Freund Kowalski beichtet er, dass die Geschichte von Radio eine Lüge ist. Kowalski begeht Selbstmord.
Enden zu der Geschichte gibt es vier. Zwei in der ursprünglichen Version von Becker und Beyer und zwei in der Version von Kassovitz, denn in beiden Versionen gibt es ein „reales“ Ende und ein solches, das eine weitere, letzte Lüge Jakobs darstellt:
Realistisches Ende, Becker/Beyer: Nach Kowalskis Suizid werden die Ghettobewohner deportiert. Der Erzähler lernt im Zug Lina kennen und kommt dabei auch Jakob näher, weshalb er die Geschichte als einer der wenigen Überlebenden nach dem Krieg erzählen kann.
Hoffnungsvolles Ende, Becker/Beyer: Jakob wird bei einem Fluchtversuch, kurz bevor die Rote Armee das Ghetto befreit, erschossen.
Realistisches Ende, Kassovitz: Die Nazis bekommen Wind von dem Radio und durchsuchen das Ghetto, woraufhin Jakob sich stellt und verhört wird. Doch kann er kein Radio aushändigen, da es nie eines gab. Zeitgleich läuft die Deportation der Juden und die Auflösung des Ghettos an. Jakob gesteht dem Wachhabenden, der ihn an jenem ersten Abend laufen ließ, dass „das Radio“ jenes in seinem Büro wäre, woraufhin der Offizier Jakob die Chance gibt, mit den anderen deportiert und vielleicht noch rechtzeitig befreit zu werden, wenn er öffentlich die Wahrheit zugebe. Jakob willigt ein, überlegt es sich aber, als er vor den anderen Ghettobewohnern steht, anders, woraufhin Sturmbannführer Hardtloff ihn erschießt.
Hoffnungsvolles Ende, Kassovitz: Dies wird dem Märtyrertod Jakobs quasi angehängt und zeigt, wie der Zug von der Roten Armee angehalten wird. Wie in einer von Jakobs abenteuerlichen Geschichten spielt dazu eine Jazz-Kapelle.
Roman und Filme erzählen eine Geschichte von Hoffnung in einer Zeit, in der eigentlich keine existieren sollte. Noch dazu baut viel dieser Hoffnung auf Lügen auf. Andererseits ist es mit der Hoffnung so eine Sache, wie nicht nur „Jakob der Lügner“ beweist. Damit ist jetzt nicht nur die Binsenweisheit „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ gemeint, sondern die Verarbeitung des Themas in der erzählenden Kunst ganz allgemein. Man denke an die Geschichte vom Pithos der Pandora (keine Büchse – ist ein Übersetzungsfehler), die in einer ihrer jüngsten Adaptionen, dem Videospiel „God of War 3“ folgendes Zitat von Pandora selbst hervorbringt:
„Hoffnung macht uns stark. Darum sind wir hier. Damit kämpfen wir, wenn alles andere verloren ist.“
George Lucas (*1944) nannte den ersten bzw. vierten Teil der „Star Wars“-Saga (erster nach Veröffentlichung, vierter nach Chronologie) wegen des Aufkommens der Rebellion „Neue Hoffnung“. Oder nehmen wir etwa einen Dialog zwischen Jack und seinem Vater Christian (beide Chirurgen) aus „Lost“ 2.01 „Glaube und Wissenschaft“:
Christian: „Vielleicht versuchst du gelegentlich mal ein bisschen Hoffnung und Trost zu spenden. Selbst wenn sie zu 99 % vollkommen hoffnungslos verloren sind, wollen die Menschen immer nur, dass du von dieser einprozentigen Chance redest, dass wieder alles gut wird.“
Jack: „Ihre Wirbelsäule ist zerstört. Soll ich ihr erzählen, dass alles wieder gut wird? Das wäre falsche Hoffnung, Dad.“
Christian: „Vielleicht, vielleicht. Aber es ist dennoch Hoffnung.“
Ähnlich wie Christian hier, sagt sich Jakob (nicht der bei „Lost“, der schreibt sich mit C), dass falsche Hoffnung besser ist als keine Hoffnung. Hoffnung ist in der Tat etwas unglaublich Mächtiges, etwas, das Menschen selbst in Situationen, wo alles verloren scheint, irgendwie weiterkämpfen lässt. Als Jakob Kowalski die Wahrheit gesteht, nimmt er ihm diese Hoffnung und Kowalski erhängt sich. Andererseits hören die Suizide im Ghetto, nachdem Jakob angefangen hat, seine Lügen zu erzählen, vorerst komplett auf. Es ist natürlich eine unsagbar traurige Tatsache, dass der Darsteller Jakobs im Film von 1999, Robin Williams, seine Hoffnung für einen Moment gänzlich verloren haben muss und ebenfalls Suizid beging. Die zwei Enden, die die Geschichte in beiden Versionen hat, zeigen in gewisser Weise die Relation zwischen Hoffnung und Realität auf. Steven Spielberg (*1946) wurde von einem Reporter einmal gefragt, ob das Mädchen im roten Kleid in „Schindlers Liste“ Hoffnung repräsentiere, woraufhin Spielberg empört erwiderte, es habe in den Ghettos keine Hoffnung gegeben. Becker, Beyer und Kassovitz widersprechen ihm da in gewisser Weise, denn hätte es wirklich gar keine Hoffnung gegeben, hätte es auch keine Überlebenden gegeben. Nicht einmal, weil die Nazis dann mit ihrem grauenvollen Vorhaben, alle Juden umzubringen, erfolgreich gewesen wären, sondern weil die Menschen, hätten sie gar keine Hoffnung und somit keinen Überlebenswillen mehr gehabt, die gleiche Wahl getroffen hätten wie Kowalski.
Literatur
Jurek Becker: „Jakob der Lügner“, Suhrkamp, Berlin 2017, ISBN: 978-3-518-46809-8