Fritz Bauer als Zerrbild: Eine Biografie mit Lücken und Tücken
Kaum zehn Minuten Fußweg vom Geburtshaus Goethes im Frankfurter Großen Hirschgraben entfernt hat sich 1960 ein Ereignis zugetragen, das der amerikanische Kriminalromanautor James Ellroy („Die schwarze Dahlie“) kaum spannender hätte beschreiben können, als das in Ronen Steinkes Biografie über den Initiator des Frankfurter Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, geschieht. (Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, Piper Verlag, München 2013). Ort der Handlung, von der niemand weiß, an welchem Tag sie sich abgespielt hat, war ein Gebäude in der Frankfurter Gerichtsstraße, in dem sich das Büro des hessischen Generalstaatsanwalts Dr. Fritz Bauer befand. Kurz danach, am 11. Mai 1960, wurde in Buenos Aires der ehemalige SS-Führer Adolf Eichmann, einer der Organisatoren des Massenmordes der Nazis an den europäischen Juden, von Angehörigen des israelischen Geheimdienstes, festgenommen. Seinen Aufenthaltsort hatten die Israelis von Fritz Bauer erfahren. Und so beginnt Steinkes Buch:
„Die schwere Eichentür in der Frankfurter Gerichtsstraße gibt kaum einen Laut von sich, als der 27jährige Michael Maor sie öffnet und unbemerkt in das dunkle Gebäude hineinschlüpft. Den Weg haben sie ihm vorher genau aufgezeichnet. Rechts die steinerne Treppe hinauf, bis zum zweiten Stock…Du kannst es gar nicht verfehlen, haben sie ihm gesagt… Der Auftrag des israelischen Ex-Fallschirmspringers: Fotografiere die Akte, die links auf dem Tisch liegt. Der Tisch steht im Büro des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer.“ (Seite 13).
Woher wusste Steinke diese Einzelheiten? Hatte er gelesen, was am 31. Juli 1995 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Nr. 31) stand? Dort wurde die Szene so beschrieben:
„Wie geplant, war die Eichentür des Gebäudes in der Frankfurter Gerichtsstraße leicht zu öffnen. Michael Maor schlich durch die Vorhalle und gleich rechts die mächtige Steintreppe hoch, über den Flur im ersten Stock. Es war dunkel, niemand war zu hören oder zu sehen, weiter tappte er die nächste Treppe hoch. Dann, im zweiten Stock – ‚Du kannst es gar nicht verfehlen’, hatten sie ihm gesagt – lag gegenüber dem Treppenabsatz das Büro. Der Israeli Maor könnte den Weg durch das Frankfurter Justizgebäude heute noch mit geschlossenen Augen gehen bis zu der Tür, vor der er vor 35 Jahren stehen blieb. Sein Auftrag: ‚Fotografier die Akte, die links auf dem Schreibtisch liegt.’ . . . Der Raum, in den Maor im Frühjahr 1960 heimlich eindrang, war das Dienstzimmer des damaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer . . .“ (Nr. 31 vom 31. Juli 1995).
Den weiteren Fortgang der nächtlichen Spähaktion des israelischen Geheimdienstagenten im Frankfurter Büro des hessischen Generalstaatsanwalts beschreibt Ronen Steinke so:
„Es riecht nach Zigarren, die langen Gardinen sind zugezogen, an den Wänden hängt moderne Kunst. Und links auf dem Schreibtisch, von allen anderen Papieren säuberlich getrennt, liegt ein Stapel. ‚Das waren NS-Unterlagen, Tätigkeitsberichte, auch Fotos’, erinnert sich Maor, ‚und überall Hakenkreuze.’ Es ist die Akte Adolf Eichmanns . . .“ (Seite 13).
Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 31. Juli 1995 war 18 Jahre davor unter der Überschrift „Feindliches Ausland“ zu lesen gewesen:
„Im Büro des Generalstaatsanwalts fand er alles wie besprochen vor. Die Gardinen waren zugezogen, es roch nach Zigarren, und links auf dem Schreibtisch, von allen anderen Papieren deutlich isoliert, lag ein Stapel. ‚Das waren NS-Unterlagen, Tätigkeitsberichte, auch Fotos’, erzählt Maor, ‚und überall Hakenkreuze.’ . . . Maor ist sich sicher, dass nur der Ermittler die Akte Eichmann derart offensichtlich auf dem Schreibtisch platziert haben konnte.“
In der Biografie von Ronen Steinke hieß es weiter:
„Gerade hat der israelische Agent in Fritz Bauers dunklem Büro seine Fotoausrüstung aufgebaut, da zuckt er zusammen: ‚Plötzlich hörte ich Schritte, und Licht fiel durch den Türritz.’ Michael Maor versteckte sich eilig hinter dem Schreibtisch, der Mensch auf dem grünen Linoleum draußen näherte sich mit langsamen, seltsam schlurfenden Schritten. Es scheint, als ziehe er irgendetwas hinter sich über den Boden. Maor verharrt – bis ihm klar wird, dass es die Putzfrau sein muss. ‚Offenbar war sie ein bißchen schlampig’, glaubt er, denn die Frau erspart sich die Arbeit im verqualmten 60-Quadratmeter-Büro des Generalstaatsanwalts und schlurft weiter.“ (Seite 15).
Die entsprechende Passage liest sich im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 31. Juli 1995 so:
„Er hatte gerade alles vorbereitet, da wurde er gestört: ‚Plötzlich hörte ich Schritte, und Licht fiel durch den Türritz.’ Schnell löschte Maor die Repro-Lampe und versteckte sich hinter dem Schreibtisch. Er konzentriert sich auf die seltsam schlurfenden Schritte, die näher kamen. Der Mensch, so erkannte Maor, zog irgend etwas auf dem Boden hinter sich her. Dann wurde ihm klar, dass es sich nur um die Putzfrau mit ihrem Schrubber handeln könne. ’Offenbar war sie ein bisschen schlampig’, sagt Maor. Die Frau ersparte sich die Arbeit in Bauers Zimmer und schlurfte weiter, nachdem sie kurz vor der Tür verharrt hatte.“
Schwieriger Umgang mit den Fakten
Ein Verleger, der die Textauszüge miteinander verglichen hatte, schrieb mir: „Das schrammt haarscharf am Plagiat vorbei. Auf jeden Fall ist eine solche Arbeitsweise völlig unseriös.“
Dass der Verfasser der Biografie augenscheinlich eine Vorlage benutzt hat, erfährt der Leser zunächst nicht. Erst am Schluss des Buches heißt auf Seite 283 in den „Anmerkungen“: „ ‚Das waren NS-Unterlagen’ und folgende Zitate Maors: ‚Feindliches Ausland’, Der Spiegel, 31. Juli 1995“. Der knappe Satz erweckt den Anschein, als stamme der Text v o r dem erwähnten Zitat aus eigener Quelle. Aber auch der ist unverkennbar abgekupfert, und schon dort stehen, ohne Kennzeichnung, zwei wörtliche Zitate. („Du kannst es gar nicht verfehlen“ und „Fotografiere die Akte, die links auf dem Schreibtisch liegt“; bei Steinke heißt es, leicht abgewandelt: „…die links auf dem Tisch liegt.“
So viel Lässigkeit im Umgang mit dem Gedankengut anderer sollte man sich nicht erlauben, erst recht nicht, wenn man dem Nazigegner Fritz Bauer unter Berufung auf eine Nazipublikation unterstellt, er habe 1933 ein Treuebekenntnis gegenüber der Naziführung abgelegt. Dazu später mehr. Zur angeblichen Homosexualität Fritz Bauers, über die sich Steinke ohne konkreten Beweis und ohne Rücksicht auf die menschliche Würde des Verstorbenen bis zur Peinlichkeit hin verbreitet, nur soviel: weder das Bundesarchiv in Koblenz noch das Archiv des Bundesnachrichtendienstes verfügen, wie sie mir schriftlich bestätigten, über Unterlagen, die auf eine Homosexualität des hessischen Generalstaatsanwalts hindeuten.
Noch ehe ich Steinkes Biografie über Fritz Bauer gelesen hatte, war ich über einen Artikel des promovierten Juristen in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. Oktober 2013 gestolpert, in dem es hieß, der Saal, in dem der Auschwitzprozess 1963 begonnen habe, sei 120 Meter lang gewesen. Er meinte damit den Tagungsraum der Frankfurter Stadtverordneten im historischen Römer, der dem Gericht überlassen worden war, weil sich die Fertigstellung des eigentlich vorgesehenen Verhandlungssaales im Bürgerhaus Gallus verzögert hatte. Da ich den Auschwitzprozess als journalistischer Berichterstatter miterlebt habe, hielt ich eine Richtigstellung der Wahrheit für angezeigt. Daraufhin schrieb mir Ronen Steinke, ihm sei in der Tat bei der Länge des Saales etwas durcheinander gegangen. 120 Meter lang sei der Saal im Bürgerhaus Gallus gewesen, in dem der Prozess ab Frühjahr 1964 stattgefunden habe. Der Saal im Römer sei zwar auch lang, nämlich 80 Meter, aber doch nicht ganz so lang. Damit hatte er der einen falschen Angabe eine zweite hinzugefügt. In Wirklichkeit beträgt die Länge des Saales im Römer 23,8 Meter, und die des Saales im Bürgerhaus Gallus 24,9 Meter.
Ich habe mich gewundert, weshalb Ronen Steinke sich hartnäckig weigerte, diesen offenkundigen Lapsus zu berichtigen. Bei der Lektüre seiner Fritz-Bauer-Biografie wurde mir klar, weshalb er sich dagegen sträubte. Dort verbreitet er nämlich denselben Unsinn. Wäre es nur das, könnte man vielleicht ein Auge zudrücken. Aber Steinke nimmt es auch bei anderen Dingen nicht so genau. So behauptet er, die Angeklagten im Auschwitzprozess hätten während der Hauptverhandlung auf den „vorderen Reihen im Zuschauerraum“ gesessen. Weiter heißt es: „Mancher nichtsahnende Besucher hat schon einen von ihnen von hinten angetippt und freundlich flüsternd nach dem rätselhaften juristischen Geschehen da vorn gefragt.“ Das ist Boulevard-Journalismus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der angesehene Schriftsteller Horst Krüger, auf den Steinke sich in diesem Zusammenhang beruft, die Dinge so falsch dargestellt hat. Auf jedem Foto aus dem Verhandlungssaal kann man sehen, dass die Angeklagten keineswegs so dicht neben den Besuchern saßen, sondern getrennt von ihnen in einem von Polizisten flankierten gesonderten Block.
Das Jahrhundertverfahren gegen Beteiligte am Massenmord an den Juden atmosphärisch in die Nähe einer Verhandlung vor einem königlich-bayerischen Amtsgericht zu rücken, lässt sich mit Unerfahrenheit nicht erklären. Steinke ist Jurist. Dass sein Mentor Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut das hat durchgehen lassen, ist unbegreiflich, zumal da er Sachkunde als notwendige Voraussetzung betrachtet, „um über das vielfältige Wirken des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer angemessen arbeiten und publizieren zu können“. Hinzu kommt, dass bereits eine ehemals leitende Mitarbeiterin des Instituts eine – wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb – „exzellente Biografie“ über Fritz Bauer vorgelegt hatte. (Irmtrud Wojak, Fritz Bauer, 1903-1968. Eine Biografie, C.H. Beck, 2009).
Auf der Lauer vor dem Schlafzimmer
Ronen Steinkes Biografie erschien vier Jahre nach der von Irmtrud Wojak. Ihr Werk umfasst rund 600 Seiten, die Recherchen nahmen zehn Jahre in Anspruch. Steinke brauchte für seine rund 300 Seiten nur einen Bruchteil dieser Zeit. Ging ihm das Schreiben so flott von der Hand, oder haben ihn Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts so intensiv unterstützt?
Was gab es Neues über Fritz Bauer zu berichten, so kurz nach dem Erscheinen der von Steinke selbst so bezeichneten „hervorragenden wissenschaftlichen Arbeit“ von Irmtrud Wojak? Es seien „weiße Flecken“ geblieben, schreibt er auf Seite 24, und zwar nicht nur in der Arbeit von Irmtrud Wojak, mit der diese sich habilitierte, sondern auch in der Dissertation von Matthias Meusch, der 2001 Fritz Bauers Leben und Werk gewürdigt hatte.
Bauer habe – obwohl aus einer jüdischen Familie stammend – zu anderen Juden auffallend Distanz gehalten, sich selbst aber 1945 stolz einen Juden genannt. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland im Jahr 1949 habe er damit begonnen, „diesen Teil seiner Biografie peinlich vor der Öffentlichkeit zu verbergen“. Im Kopenhagener Staatsarchiv lägen seit Jahrzehnten Berichte darüber vor, „wie Bauer als junger Mann im Exil wegen homosexueller Handlungen verhaftet wurde.“ (Seite 25).
Bauer wurde während seines Exils niemals verhaftet. Dazu hätte es eines Haftbefehls bedurft und des Verdachts einer strafbaren Tat. Beides gab es nicht; Homosexualität war in Dänemark nicht strafbar. Wie die Historikerin Monika Boll im Begleitbuch zur Ausstellung „Fritz Bauer – Der Staatsanwalt“ schreibt, wurde Fritz Bauer zwar von der dänischen Staatspolizei „wegen homosexueller Kontakte regelrecht observiert“ und er bekam „viele Vorladungen“ von der Ausländerbehörde, verhaftet wurde er jedoch niemals.
Dass Ronen Steinke seinen Lesern auch in diesem Fall etwas erzählt, das nicht stimmt, ist schlimm genug, aber es kommt noch schlimmer. (Seite 101 f.) Schon im ersten Monat nach seiner Ankunft in Dänemark habe Fritz Bauer „eine Nacht mit einem Dänen“ verbracht. Ob er in „verbotene schwule Prostitution verwickelt“ sei, hätten dänische Uniformierte ihn barsch gefragt. Und dann zitiert Steinke wörtlich, was ein dänischer Polizist in seinen Bericht geschrieben habe: „Von der Straße aus konnte man beobachten, dass der Deutsche sich ausgezogen hat, ohne sich einen Pyjama anzuziehen.“ Was soll man davon halten? Irmtrud Wojak, die als Erste auf die dänische Polizeiakte über Fritz Bauer gestoßen ist, erwähnt die „angeblichen homosexuellen Freundschaften“ in ihrer Biografie mit sieben Zeilen. Warum lässt es Ronen Steinke nicht auch dabei bewenden? Will er wirklich nur zeigen, „dass Bauer der Willkür der Behörden selbst in seinem Exilland – der Demokratie Dänemark – von Beginn an ausgeliefert“ war. Honi soit qui mal y pense.
„Hässliche Gerüchte“ und „dunkle Elemente“
Was hat es überhaupt auf sich mit der angeblichen Homosexualität von Fritz Bauer, über die Ronen Steinke sich in einer Weise auslässt, die jeden Spanner freuen wird. Hieb- und stichfeste Beweise hat er nicht. Auf Seite 102 räumt er ein, Äußerungen, auf die sich die Annahme stützen könnte, Bauer habe sich selbst als schwul gesehen, seien nicht bekannt.
Später ging er dann noch mehr auf Distanz. Er wisse nicht, wie man beweisen könne, dass Bauer ein homosexueller Mann gewesen sei, sagte er am 19. November 2013 bei der Vorstellung seines Buches in Berlin. Es gebe auch niemanden, der das in der Nachkriegszeit in irgendeiner Weise bestätigt habe. Das hinderte ihn aber nicht, sich in seinem Buch über Fritz Bauer wie folgt zu äußern:
„Nur an den Abenden mit seinen jungen, vom Leben noch unbeschwerten Freunden in seiner Wohnung findet Bauer Zerstreuung“. (Seite 221) Mit dem Sohn eines Hausbewohners habe Bauer sich angefreundet. „Es ist die erste von vielen Freundschaften zu Männern, die vom Alter her seine Söhne sein könnten. Was in Frankfurt bald zu hässlichen Gerüchten führt.“ (Seite 222) „Er ist den jungen Leuten zugewandt, er interessiert sich für ihre Weltsicht, oft bis tief in die Nacht hinein, und er zieht damit den Argwohn mancher Nachbarn auf sich, die zwischen den Gardinen misstrauisch auf das Kommen und Gehen beim Generalstaatsanwalt schauen. Ein pensionierter Polizeibeamter, der mit in Bauers Haus wohnt, spricht einmal vom ‚häufigen Besuch dunkler Elemente’ bei Bauer.“ (Seiten 224/ 225). Über ein Fernsehinterview Fritz Bauers in dessen Büro schreibt Steinke: „Fritz Bauer, weißes, flammendes Haar und Hornbrille, fläzt etwas verdreht im Sessel, was ein Hosenbein hochrutschen und eine helle Socke und etwas Männerbein aufblitzen lässt, und natürlich raucht er …“ (Seite 28).
Als am 16. Juli 2003 der 100. Geburtstag von Fritz Bauer gefeiert wurde, erwähnte keiner der Festredner die angebliche Homosexualität Fritz Bauers auch nur mit einem Wort. Erst nachdem Steinke in seinem Buch mit dem irreführenden Titel „Fritz Bauer – oder Auschwitz vor Gericht“ – nur zwölf Prozent des Inhalts befassen sich mit dem Auschwitzprozess – das Thema Homosexualität zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte gemacht hatte, wagten sich auch andere aus der Deckung. Wer das alles nicht gut findet, weil der Homosexualität immer noch die wünschenswerte gesellschaftliche Akzeptanz fehlt, und weil die sexuelle Orientierung eines Menschen dessen Privatsache ist, der muss sich sagen lassen, er mache sich die Denkweise der Nazis zu Eigen – ein Totschlagargument, das auf seine Urheber zurückschlägt und zu der Frage führt, ob der Behauptung über die Homosexualität Fritz Bauers am Ende gar antisemitische Motive zugrunde liegen. Immerhin wollen 61 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage aus dem Jahr 2006 mit Homosexualität möglichst wenig zu tun haben.
Ablenkung von den politischen Ursachen
Was hat den Journalisten Steinke eigentlich dazu getrieben, sich in seiner Fritz-Bauer-Biografie über die angebliche Homosexualität des hessischen Generalstaatsanwalts zu verbreiten? Bestand ein dringendes öffentliches Interesse an der Offenlegung des Intimlebens von Fritz Bauer? Wie auch immer – kaum ein Rezensent kam ohne den Hinweis auf die vermeintliche Homosexualität Fritz Bauers aus. Nach dem Sinn und Zweck fragte niemand, nur ich schwamm wieder einmal gegen den Strom. In der Zweiwochenschrift „Ossietzky“ vom 24. Mai 2014 schrieb ich, Ronen Steinke lenke damit von den Verdiensten eines Mannes ab, dessen sexuelle Orientierung für die Bewertung seines Lebenswerkes völlig unerheblich sei. Ähnlich hatte sich vor mir bereits die ehemalige Bundesjustizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin geäußert. Energisch wandte sie sich dagegen, die Isoliertheit Fritz Bauers auf dessen vermeintliche Homosexualität zurückzuführen und damit von den politischen Gründen für seine üble Behandlung abzulenken.
In einem Beschwerdebrief an die „Ossietzky“- Redaktion meinte ein von mir geschätzter Jurist, er finde es schlimm, wenn jemand im 21. Jahrhundert Homosexualität für etwas halte, was die Einschätzung des Lebenswerkes von Fritz Bauer beschädigen könnte. Dazu kann ich nur sagen: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und Grün des Lebens goldner Baum.“ (Mephisto in Goethes „Faust“). Wenn – wie eine EU-Studie 2013 ergab – in Deutschland 68 Prozent der Schwulen und Lesben aus Angst vor Schikanen und Pöbeleien ihre sexuelle Ausrichtung verschweigen, dann kann es nicht weit her sein mit der Akzeptanz der Homosexualität. Das war wohl auch der Grund, weshalb das Fritz-Bauer-Institut den Eingriff in die persönliche Sphäre seines Namensgebers Ronen Steinke überließ.
Der unterstellte Fritz Bauer neben der angeblichen Homosexualität dann auch anderes. Er habe gegenüber den Deutschen, die er politisch habe überzeugen wollen, sein Judentum mit einer „betont christlichen Wortwahl“ übertüncht. In einem Essay, in dem es um die Frage ging, ob die Juden oder die Römer Jesus getötet haben, habe Bauer, „wie um seine Bemühungen um ein Image der Objektivität nicht zu gefährden“, seine eigene jüdische Erziehung an keiner Stelle zu erkennen gegeben, sondern ausschließlich aus christlichen Quellen geschöpft. (Seite 199/200).
Auf Seite 201 behauptet Steinke, zum Antisemitismus der Nachkriegszeit sei Bauer nie ein öffentliches Wort über die Lippen gegangen. (Seite 201). Zehn Seiten später – was kümmert mich mein Geschwätz von gestern – beschreibt er dann den „Sturm der Entrüstung“, den Fritz Bauer 1963 mit seiner Kritik am Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland hervorgerufen hat. Die dänische Zeitung „B.T“, die Boulevardausgabe des angesehenen Kopenhagener Blattes „Berlingske Tidende“, hatte Bauer mit den Worten zitiert, die Juden würden zwar nicht mehr als Schweine beschimpft, dafür heiße es jetzt: „Wir haben vergessen, dich zu vergasen.“
Versuch einer Nachrede ohne Beweis
Salopp wie gewohnt geht Steinke auch im Kapitel über die KZ-Haft Fritz Bauers mit den Fakten um. Seiner Familie habe Bauer erzählt, dass er die Entlassung seinen Freunden in der Justiz zu verdanken habe, schreibt Steinke, aber ohne seine Unterschrift unter einer Unterwerfungserklärung gegenüber den neuen Machthabern wäre das nicht gegangen.
Eine solche Erklärung inhaftierter Sozialdemokraten habe das „Ulmer Tagblatt“ am 13. November 1933 veröffentlicht. An vorderster Stelle der Unterzeichner stünden die beiden Reichsbannerführer Karl Ruggaber und Fritz Bauer. Von dieser Demütigung habe Bauer nie etwas erzählt. Kurt Schumacher, seinerzeit Kopf der Stuttgarter SPD, habe eine solche Unterwerfungserklärung verweigert. Deshalb sei er in Haft geblieben, als Bauer entlassen worden sei.
Das klingt wenig schmeichelhaft. Aber wie war das wirklich mit der vermeintlichen Unterschrift Fritz Bauers? Die Behauptung, sein Name stehe neben dem von Ruggaber an vorderster Stelle, ist falsch. In den Anmerkungen am Schluss des Buches heißt es, bei näherer Betrachtung falle auf, dass in der Unterzeichnerliste nicht Fritz Bauer stehe, sondern ‚Fritz Hauer’, was im altdeutschen Schriftbild leicht zu verwechseln sei. Da ein Fritz Hauer nicht bekannt sei, spreche alles „für einen bloßen Druckfehler“. Wäre es wirklich so, wie Steinke behauptet, dann müsste den Schriftsetzern des „Ulmer Tagblattes“, und nur sie können den Druckfehler begangen haben, die Unterzeichnerliste bereits gedruckt in altdeutscher Schrift vorgelegen haben; das ist kaum vorstellbar. Der naheliegenden Frage, ob die genannten Personen das „Treuebekenntnis einstiger Sozialdemokraten“ wirklich unterschrieben haben, oder ob das Ganze eine Propaganda-Aktion der Nazis war, mit der die Anhänger der SPD verunsichert werden sollten, dieser Frage geht Ronen Steinke nicht nach. Dabei macht schon die Überschrift des Artikels im gleichgeschalteten „Ulmer Tagblatt“ stutzig: sie unterstellt nämlich, dass die als Unterzeichner Genannten sich von der SPD abgewandt haben. Davon konnte weder bei Fritz Bauer noch bei den anderen die Rede sein.
Wer Fritz Bauer dem Verdacht aussetzt, ein Treuebekenntnis gegenüber der Naziführung abgelegt zu haben, der kann es nicht gut mit ihm meinen. So darf man nicht umgehen mit jemandem, der sich nicht wehren kann, erst recht nicht, wenn man nicht den Funken eines Beweises in der Hand hat. Dass Ronen Steinkes Buch die Verdienste Fritz Bauers „in würdigem Andenken“ bewahrt, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, voller Respekt vor Fritz Bauers Lebenswerk in seinem Vorwort meint, bestreite ich ganz entschieden. Es ist, von den Unterstellungen und falschen Tatsachenbehauptungen abgesehen, ein sehr einseitiges Buch. Es verschweigt Fritz Bauers Wirken als politischer Mensch und setzt den hessischen Generalstaatsanwalt dadurch in ein völlig falsches Licht.
Was die Biografie verschweigt – und was nicht
Mehr als 70-mal bezieht Steinke sich auf die Fritz-Bauer-Biografie von Irmtrud Wojak, aber um deren Aussagen zu diesem Teil der Lebensgeschichte von Fritz Bauer macht er einen großen Bogen. Den mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichneten Film von Ilona Ziok, „Fritz Bauer – Tod auf Raten“, tut er mit zwei Sätzen ab, wahrscheinlich um sich nicht mit Fritz Bauers Kritik an den Zuständen im Deutschland der Nachkriegszeit auseinandersetzen zu müssen.
So erfahren die Leser kein Wort von dem, was Fritz Bauer 1960 über „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ gesagt hat und was aus der konservativen Ecke der CDU daraufhin an Kritik auf ihn niedergeprasselt ist. Nichts erfahren sie von Fritz Bauers Streitgespräch mit Helmut Kohl, in dessen Verlauf der spätere Bundeskanzler dem hessischen Generalstaatsanwalt 1962 vorhielt, der zeitliche Abstand sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus fällen zu können. Nichts erfahren sie von Fritz Bauers Versuch, den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, durch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren zu Aussagen über seine Rolle bei der Judenverfolgung zu bewegen, nichts erfahren sie von seinem Kampf gegen die Notstandsgesetze, nichts von seinem Vortrag über die Bedeutung des Auschwitzprozesses für die Nachwelt, der im Nachhinein klingt wie sein politisches Vermächtnis.
Ich war dabei, als Fritz Bauer am 5. Februar 1964 vor etwa 800 Studenten im Hörsaal VI der Frankfurter Universität sagte: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Und ich war auch dabei, als er und Helmut Kohl im düsteren Saal des Bootshauses an der alten Nahebrücke in Bad Kreuznach die Klingen kreuzten. Mich empört das Niveau, von dem aus Ronen Steinke meint, den großen Humanisten Fritz Bauer als Juden darstellen zu können, der keiner sein wollte, als Schwulen, der keiner sein durfte, als Nazigegner, der den Nazis angeblich Treue geschworen hat, als einen Trickser und Täuscher also – und das alles im Einklang mit dem politischen Mainstream und einem Zeitgeist, der die Vergangenheit am liebsten Vergangenheit sein lassen möchte.
Trotz allem, das will ich am Schluss nicht verhehlen, verdanke ich Ronen Steinke einige Informationen, ohne deren Kenntnis mein Wissen über Leben und Werk Fritz Bauers lückenhaft geblieben wäre. Ich weiß jetzt, dass Deutschland vollständig unter dichten Wolken lag, als Fritz Bauer am 15. März 1936 – wie Steinke schreibt – den Zug in Richtung Dänemark nahm. Ich weiß, dass es in Kopenhagen regnete, als sich Fritz Bauer dort am 26. Februar 1963 mit einem jungen dänischen Journalisten über die Zustände in Deutschland unterhielt, und ich erfuhr, dass am 27. Februar 1964 in Frankfurt gehupt wurde, als der „junge Schriftsteller“ Horst Krüger, der damals 45 Jahre alt war, mit offenem Schiebedach zum Auschwitzprozess fuhr.
Autor: Kurt Nelhiebel