Der Verfasser der folgenden Anmerkungen hat sich selber viele Jahre mit der Funktion des „Judenältesten“ befasst und ist Autor der Biografie und Dokumentation: Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung. Helios Verlag, Aachen 2014. 710 Seiten mit zahlreichen Fotos und Dokumenten. ISBN 978-3-86933-082-2
Vor wenigen Wochen erschien endlich ein Buch, das der Holocaust-Forschung schon vor einem halben Jahrhundert als wichtiger Beitrag zur Holocaust-Forschung hätte dienen können:
Benjamin Murmelstein, Theresienstadt – Eichmanns Vorzeige-Ghetto, Wien 2014
Die Forschung befasst sich erst seit wenigen Jahren mit der Funktion des „Judenältesten“ und des jüdischen Ältestenrates in der NS-Zeit. Und sie befasst sich sehr verspätet mit Benjamin Murmelstein, dem dritten und letzten Judenältesten von Theresienstadt. Daher sind einige Anmerkungen angebracht:
Der Autor und Protagonist:
Benjamin Murmelstein, 1905 (Lemberg) – 1989 (Rom), österreichischer Rabbiner. Studium der Philosophie und Semitischen Sprachen an der Universität Wien und rabbinische Ausbildung an der Israelisch-Theologischen Lehranstalt, 1927 Promotion. Bis 1938 in der Kultusgemeinde Wien tätig, anschließend in der Auswanderungsabteilung der „Jüdischen Gemeinde Wien“, dann Mitglied des Judenrats in Wien, ab 1943 im KZ Theresienstadt, von September 1944 bis Mai 1945 letzter Judenältester. Lebte von 1947 bis zu seinem Tod (1989) in Rom.
Wer sich bisher mit dem „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt befasste, kam grundsätzlich nicht an dem Standardwerk des tschechoslowakisch-englischen Schriftstellers Hans-Günther Adler (1910-1988) vorbei: Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1955. Bereits während seiner Gefangenschaft und noch vor seiner Deportation nach Auschwitz hatte er wichtiges Material zur Gründung und Struktur sowie zum Alltagsleben des Ghettos gesammelt. Auch äußerte Adler Kritik an den jeweiligen Judenältesten und der „jüdischen Selbstverwaltung“, die erst gegenwärtig hinterfragt und teilweise widerlegt wird. Jedoch konstatiert er, dass „Murmelstein schon von Wien her kein guter Ruf vorangegangen“ sei. Nachdem Adlers Publikation lange vergriffen war, gab es inzwischen einen Reprint im renommierten Wallstein Verlag (2005/2012), der die zweite Auflage von 1960 wieder zugänglich macht. Adlers Sohn Jeremy hat es mit einem erklärenden Nachwort versehen.
Seit Ende September liegt nun das Buch von Benjamin Murmelstein (1905-1989) vor, der als dritter und letzter Judenältester Jahrzehnte lang diffamiert und in deutscher Sprache mundtot gemacht wurde: Theresienstadt – Eichmanns Vorzeige-Ghetto, Wien 2014. Die endlich nach mehr als einem halben Jahrhundert erschienene deutsche Übersetzung von Murmelsteins Originalausgabe Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann, Capelli, Bologna 1961, ermöglicht den Vergleich mit Adlers Ausführungen. Auch hier ist es der Sohn, Wolf Murmelstein, der das Nachwort geschrieben hat.
Die Tatsache, dass sich sein Vater im Jahre 1961 – unmittelbar nach Adlers Darstellung und zur Zeit des Eichmann-Prozesses – als letzter Judenältester von Theresienstadt zu Wort meldete, hätte schon damals der Forschung dienlich sein können. Wegen seiner Kompetenz als Judenältester, Rabbiner und Wissenschaftler hätten seine Aussagen wahrgenommen werden müssen. Das geschah nicht. Im Gegenteil!
Eine deutsche Übersetzung war in Deutschland nicht erwünscht und ganz bewusst nicht als deutsche Ausgabe und Beitrag zur Frankfurter Buchmesse vorgesehen. Da zur selben Zeit der Eichmann-Prozess in Jerusalem die Weltöffentlichkeit bewegte, hätte die juristisch-, moralisch- und historisch-relevante Aussage des letzten Judenältesten von Theresienstadt ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des Holocaust und dessen speziellen Mechanismus im Vorzeige-Ghetto Theresienstadt sein können.
Erst jetzt wird endlich dem deutschsprachigen Leser durch die engagierten Herausgeber Ruth Pleyer und Alfred J. Noll ein Text zugänglich gemacht, den die Wiener Dolmetscherin Karin Fleischanderl (*1960) unkorrigiert aus dem Italienischen übertragen hat. Seit 1983 arbeitet sie als freie Übersetzerin von u.a. Marcello Mastroianni, Antonio Tabucchi, Gabriele d`Annunzio, Natalia Ginzburg und Pier Paolo Pasolini. Ruth Pleyer und Alfred J. Noll halten sich bemerkenswert zurück, fügen nur abschließend eine siebenseitige „Nachbemerkung“ bei und ermöglichen eigentlich hiermit die im Grunde genommen ungekürzte Aussage von Benjamin Murmelstein. Somit steht vielleicht künftig – nach Adlers Werk, das von Hermann Broch als „doubtlessly a standard work“ bezeichnet wurde – ein zweites Standardwerk zur Verfügung.
In der Zeit vor den Auschwitz-Prozessen (1963-1968) wollte offenbar keiner mehr etwas von speziellen Details zu dem von Eichmann initiierten und protegierten Theresienstadt-Projekt wissen. Auch interne jüdische Darstellungen und Erklärungen waren weder in Deutschland noch im Israel geführten Eichmann-Prozess erwünscht – oder erforderlich. Sie hätten als Hintergrundmaterial zum Begreifen des potemkin`schen Lagers und Ghettos sowie auch der Existenz der dort vegetierenden Juden beigetragen. Vieles wäre längst erklärt, begründet und problematisiert worden. Das 1961 publizierte Buch Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann des stets diskriminierten Rabbiners Benjamin Murmelstein hätte durchaus als Verteidigung, Rechtfertigung und eventuell sogar als Selbstdarstellung gegolten. Immerhin wurde und wird noch heute von vielen ein Judenältester als Kollaborateur und SS-höriger Funktionshäftling verurteilt, der nicht unbedingt das Interesse seiner jüdischen Mitgefangenen wahrnahm.
Dass jedoch Murmelsteins Buch damals nur in Italien, das in besagter Zeit willig als politischer und ideologischer Bundesgenosse von Nazi-Deutschland fungierte, unbeschwert veröffentlicht wurde, ruft sicher auch noch heute zu Fragen bezüglich spezieller Schuldaufweisungen auf ….
Tatsache ist, dass der Judenälteste von Theresienstadt beim Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) keine Aussagen machen sollte. Er wurde nicht vorgeladen, obwohl er sich von Italien aus ostentativ zur Verfügung gestellt hatte. Die stete Nichtbeachtung widersprach aber wohl nicht der Auffassung profilierter Augenzeugen und Politiker und übrigens auch nicht der von Hannah Arendt (1906-1975) und Leo Baeck (1873-1956). Deren gelegentlich geäußerte Ansichten werden von dem Sohn des Protagonisten bis heute kritisiert. Dem sollte allerdings dagegen gehalten werden, dass Leo Baeck Anfang Mai 1945 Murmelstein schriftlich für seine Tätigkeit als Judenältester unter schwierigsten Umständen dankte.
Dass sogar Claude Lanzmann die in den 1970er Jahren gedrehten Filmaufnahmen bewusst zurückhielt und nicht in sein Filmwerk „Shoah“ einbaute, spricht für den damaligen Zeitgeist. Daher betrachtete sich Benjamin Murmelstein nicht nur seit diesem Zeitpunkt selbstironisch als „Zeuge, den keiner hören wollte“ und als „Letzter der Ungerechten“ , was zum französischen Titel „Le Dernier des Injustes“ des von Claude Lanzmann erst 2013 fertig gestellten, knapp vierstündigen und prämierten Interviewfilms führte.
Der deutsche terminus technicus „Letzter der Ungerechten“ wird künftig nur mit Dr. Benjamin Murmelstein und Theresienstadt in Verbindung zu bringen sein.
Auch in der neuesten Literatur erscheint der Begriff anhand des kurz vorher (2011) von Ronny Loewy und Katharina Rauschenberger herausgegebenen Buches über Murmelstein und sein Interview mit Lanzmann: Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in Filmen 1942-1975.
Jedoch sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass manche Forschungsergebnisse zu Irritationen führen, auf die mich Dr. Wolf Murmelstein, der Sohn des letzten Judenältesten von Theresienstadt, in Interviews hinwies. Anna Hájková, die Verfasserin des Kapitels „Der Judenälteste und seine SS-Männer“, erklärt in einer Fußnote, dass sie bereits früher mit Michael Wögerbauer und Monika Eck eine kritische Edition der Murmelstein`schen Memoiren Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann vorbereitet habe, die auf der Übersetzung des italienischen Originals basierte. Jedoch weiß ich nach persönlicher Rücksprache mit Dr. Wolf Murmelstein, dass er als Erbe diesbezüglicher Rechte genügend Gründe hatte, der Publikation des im Jahre 2005 abgeschlossenen Manuskriptes nicht zuzustimmen.
Daher ist nun das vorliegende Buch „Theresienstadt – Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ (Wien 2014) in der genehmigten Übersetzung „nackt“ – ohne Interpretation und fremde Anmerkungen, original und unverändert. Der Text ist sprachlich brillant, der Inhalt wirkt schlüssig und sehr informativ. Wäre die Publikation nicht schon vor einem halben Jahrhundert möglich gewesen?
Man sollte dem Wiener Czernin Verlag dafür dankbar sein, dass endlich die persönlichen Erinnerungen eines Judenältesten vollständig – und noch nicht als kritische Ausgabe – der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Sie stammen aus Benjamin Murmelsteins eigener Feder, und man sollte eventuell zu findende Übersetzungsfehler noch nicht missdeuten. Aber nichts spricht jetzt dagegen, sich mit dem Buch anhand bereits eruierter Fakten auseinanderzusetzen und sie – trotz der Verspätung – wissenschaftlich zu klären.
Abgesehen von dem Roman „Die Elenden von Łódź“ (2011), in dem Steve Sem-Sandberg den später ermordeten Judenältesten Mordechai Chaim Rumkowski literarisch darstellt, und der umfangreichen Weiss-Biografie und Dokumentation „Der letzte Judenälteste von Bergen Belsen“ (2012) gibt es kaum Fachliteratur zu dem angesprochenen Thema. Das liegt daran, dass in der Befehlskette des deutschen NS-Terrors ein Judenältester als ein Funktionshäftling galt, der als exponierte Persönlichkeit einerseits williger Befehlsempfänger, aber andererseits auch Repräsentant eines „Judenrates“ und Helfer der unzähligen, für den Holocaust vorgesehenen jüdischen Opfer sein sollte. Aus dieser Problematik heraus entstand – auch heute noch unbestritten – ein Balanceakt, der nie ganz frei vom Vorwurf der Kollaboration und Korruption war. Im Gegensatz zu dem charismatischen Josef Weiss, der sich unbestreitbar nachweisbare Verdienste in Westerbork und Bergen-Belsen erworben hatte, bleibt die Rolle von Benjamin Murmelstein weiterhin etwas unklar.
Wie ich bereits an anderer Stelle betonte, werden wahrscheinlich erst recht nach so langer Zeit viele bisher unbekannt Gebliebene, die aufgrund einer oktroyierten Funktion den Deutschen dienlich sein mussten, jedoch in ihrer Position den Unterdrückten Helfer und Lebensretter waren, als Zeitzeugen ausfallen und im Buch erwähnte Sachverhalte nicht mehr bestätigen können.
Und da die tatsächlichen Mörder natürlich kein Interesse an Hinweisen auf derartige Menschen haben konnten und viele der letzten Überlebenden heute nicht mehr die Kraft haben, dieses Verhalten im richtigen Zusammenhang darzustellen, ist die Erinnerung an solche Persönlichkeiten wie Judenälteste wichtig. Ergo: es gab sicher viele Opfer, die erst in aufgezwungenen Funktionen hilfreich und bedeutsam werden konnten, aber in dieser Hinsicht kaum oder gar nicht in der Literatur gewürdigt wurden. Benjamin Murmelstein wird sehr wahrscheinlich zu ihnen gehören.
Williger Funktionshäftling!
Von diesem Vorwurf möchte sich Benjamin Murmelstein freisprechen und dies in seinem Buch „Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ belegen. Ob das in letzter Konsequenz tatsächlich stimmt, dürfte jetzt aufgrund seiner verspätet publizierten Memoiren zu bestätigen oder zu bestreiten sein.
Irreführend ist auf jeden Fall die Anmerkung der Herausgeber auf der Rückseite des Covers: Benjamin Murmelstein rettete als einzig überlebender Judenältester des Konzentrationslagers vielen Tausend Menschen das Leben…“ Diese Schlussfolgerung – unter der Voraussetzung, dass sie sich nur auf Theresienstadt bezieht – könnte richtig sein, da seine Vorgänger Jakob Edelstein (1903-1944) und Paul Eppstein (1902-1944) ermordet wurden und Benjamin Murmelstein vom 27. September 1944 bis zum 5. Mai 1945 als dritter und letzter Judenältester im Ghetto Theresienstadt überlebte. Aber wer konkret wurde ausschließlich nur von Benjamin Murmelstein gerettet?
Ganz sicher jedoch ist die Anmerkung auf dem Klappentext falsch, wenn es sich um den Begriff „Konzentrationslager“ in genere handelt. Da gilt Josef Weiss, der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen, ganz sicher als konkreteres Beispiel.
Auch er, der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen, überlebte. Aber er wurde selbst noch neulich im Rundfunk und im Jahre 2013 anlässlich einer Straßenbenennung durch YouTube einer großen Öffentlichkeit bekannt. Er gilt heute nicht als „Letzter der Ungerechten“, sondern als „Letzter der Gerechten“. Vgl. Jüdische Allgemeine v. 02.01.2014: Der Letzte der Gerechten – Wie sich Josef Weiss als »Judenältester« in Bergen-Belsen seine Integrität bewahrte.
Er rettete seit den 1930er Jahren Menschenleben und ganz besonders Juden in Bergen-Belsen. Der auch hier einen Liberalismus vorgaukelnde Ältestenrat und der bisherige Judenälteste Jacques Albala wurden offiziell ihres Amtes enthoben, denn in einem KZ auf deutschem Boden sollte es keine „Jüdische Selbstverwaltung“, einen ,Ältestenrat“ oder gar einen „jüdischen Führer“ – einen sogenannten „Judenältesten“ – geben. Der Stellvertreter von Albala, der aus Euskirchen-Flamersheim stammenden Josef Weiss, blieb jedoch weiterhin „Ansprechpartner“ der SS und wurde zuerst stillschweigend, dann offiziell als „neuer“ Judenältester akzeptiert. Und hierfür gab es gute Gründe.
Aber auch Weiss sollte nicht im Eichmann-Prozess aussagen. Er wohnte sogar in Jerusalem und war dennoch ein Zeuge, „den keiner hören wollte“. Eine Gegenüberstellung von Weiss und Murmelstein habe ich als Erster in meinem o.a. Buch „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“ gemacht. Vgl. besonders S. 582 ff. sowie 639 ff.
Somit ergibt sich folgendes: obwohl auch Josef Weiss ein kleines Rädchen im Getriebe der SS-Organisation war und auch die gesamte interne Lagerverwaltung bürokratisch zu leiten hatte, galt er den Juden im Inferno von Bergen-Belsen als unbestrittene Instanz. Selbst nach der Befreiung des sogenannten „Verlorenen Zuges“ in Tröbitz und seiner schweren Krankheit fühlte er sich für die Überlebenden verantwortlich und wurde weiterhin von ihnen als Judenältester respektiert, ja, nach der Befreiung offiziell und demokratisch gewählt (!). Nach dem Kriege stand er zuerst den Russen, später den Holländern als kompetenter Ansprechpartner zur Verfügung. In Israel galt er bis zum seinem Tode (1976) als honorige Persönlichkeit.
Murmelstein dagegen wagte aus bekannten Gründen nie, israelischen Boden zu betreten und lebte bis zu seinem Tode bescheiden und fast verborgen in Italien.
Dennoch bleibt es bei der grundsätzlichen Frage, ob es nach 1945 richtig war, Judenälteste und jüdische Funktionäre grundsätzlich zu kriminalisieren. Der Versuch einer Antwort sollte auch am Beispiel von Dr. Benjamin Murmelstein (1905-1989), dem letzten „Judenältesten von Theresienstadt“, gemacht werden.
Er wurde nach dem 2. Weltkrieg vor Gericht gestellt und freigesprochen, jedoch vom Hass vieler Überlebender gezwungen, ins Ausland zu emigrieren. Jacques Albala, der Vorgänger von Josef Weiss in Bergen-Belsen, wurde im Juni 1945 mit dem Lynchtod bedroht, als er mit seiner Ehefrau in Athen aus dem amerikanischen Frachtflugzeug stieg. Ein griechisches Gericht verurteilte ihn kurz danach zu vielen Jahren Gefängnis. Josef Weiss jedoch, der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen, erwarb sich Respekt und Lob der Überlebenden. Das unterscheidet ihn von vielen anderen, deren Pragmatismus zu Fehldeutungen führte.
Benjamin Murmelstein muss erst noch richtig bewertet werden.
Dennoch beurteile ich persönlich Benjamin Murmelstein positiv. Als er es noch konnte, ging er nicht ins Ausland – wie damals viele der jüdischen und wissenschaftlichen Kritikaster der Nachkriegszeit. Er schritt freiwillig „seiner Gemeinde voran“, wie es eigentlich stets die Aufgabe eines Rabbiners sein sollte. In vielen Funktionen wirkte er mäßigend in Theresienstadt. Zum Schluss tat er das, von dem er annahm, dass es im Bereich seiner Möglichkeiten war. Nicht mehr und nicht weniger konstatierte er dies schon 1961 in seinem Buch, das erst 2014 den Deutschen zu Gehör und endlich lesbar vor Augen kam.
Eine Info zum Ghetto Theresienstadt 1941-1945 macht die von Janowitz (1911-1944) am 2. Juni 1942 verfasste „Geschäftsordnung des Ältestenrates“ und deren sich auch künftig weiterhin ändernde Komplexität deutlich. Aus ihr ist auch erkennbar, wie problematisch die Funktion eines Judenältesten in Theresienstadt war. Das Vorzeige-Ghetto war ein Sonderfall, und dasselbe gilt auch für die Funktion des letzten jüdischen Ältesten. Sein Sohn, Wolf Murmelstein (*1936), war als Kind stets in seiner Nähe und befasste sich Zeit seines Lebens mit dessen Schicksal. Bereits im Jahre 2008, bevor das eigentliche Interesse an seinem Vater erwachte, beschrieb er Theresienstadt – Ein Sonderfall in der Geschichte der Shoah.
Sein Nachwort in den nun vorliegenden Memoiren seines Vaters (S. 289-309) war mir inhaltlich schon vor Jahren bekannt, und ich verstand stets den Begriff „Ungehörter Zeuge“ und „Letzter der Ungerechten“. Auch jetzt, nachdem ich in meiner Biografie den Judenältesten Josef Weiss der Öffentlichkeit vorgestellt habe, verstehe ich Benjamin Murmelstein besser denn je, zumal es Parallelen gibt, die ich auch auf meiner Homepage publiziert habe: Benjamin Murmelstein und Josef Weiss, die letzten Judenältesten von Theresienstadt und Bergen-Belsen– Gedanken zum Film von Claude Lanzmann „Der letzte der Ungerechten“.
In der Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ vom 22. November 2013 beschrieb Jan Schulz-Ojala den Judenältesten Benjamin Murmelstein als „Mensch zwischen Hammer und Amboss“, als einen Mann, der „weder klar zur Gruppe der Täter noch der Opfer gehörte“. Demnach ist seiner Meinung nach die Position des Protagonisten weiterhin unklar. Aber dennoch resümiert er bezüglich des Lanzmann-Films:
Claude Lanzmann macht keinen Hehl daraus, dass er Murmelstein als Helden sieht, der auch „in der Hölle“ Menschlichkeit bewahrte. Murmelstein wusste, dass Theresienstadt so lange Schutz vor Deportation gewährte, wie die Nationalsozialisten das Lager zur Tarnung ihrer Menschenvernichtungsindustrie brauchten. Also versuchte er, den Show-Status-quo so lange wie möglich aufrechtzuerhalten….
Schon das allein wäre ein Verdienst des Judenältesten. Und dass Benjamin Murmelstein in seiner Selbstbeurteilung schuldlos, aber der Bewertung anderer schuldig war, macht auch ihn vielleicht in letzter Konsequenz zu einer tragischen Figur.
Ich beabsichtige nicht, an dieser Stelle den 1961 erstmals publizierten und jetzt erst in deutscher Sprache erschienen Text detailliert zu analysieren, aber ich halte das vorliegende Buch für ein wichtiges Zeitdokument, das ebenfalls ein Beitrag zur erst gerade begonnenen Diskussion um die Funktion der Funktionshäftlinge und Judenältesten ist. Aber da das lesenswerte Buch „Theresienstadt – Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ ursprünglich 1961 verfasst wurde, wird es wahrscheinlich historisch am gegenwärtigen Forschungsstand zu messen sein.
Es ist gut, dass endlich seine „der Wahrheit verpflichtete Schilderung der Ereignisse“ der Adler`schen Darstellung gegenübergestellt werden kann. Dabei soll man sich vor Augen halten, dass der österreichische Rabbiner mehrfach von Israel angegriffen wurde und der Großrabbiner von Rom ihm nach seinem Tod das Totengebet verweigerte. Wäre das heute auch noch der Fall?
Wer abschließend über Benjamin Murmelsteins Rechenschaftsbericht und seine Selbstprüfung ernsthaft nachdenkt, wird in einer seiner Bemerkungen vielleicht doch etwas Selbstkritisches zum Verhalten als Judenältester in einem Konzentrationslager erkennen, das einst für mehr als 140 000 Gefangene Durchgangslager und Hölle war:
In einer Welt mit moralischen Grundsätzen ist es nicht schwierig, Werte aufrechtzuerhalten; angesichts des absolut Bösen bestehen jedoch nur die wenigsten die Prüfung …. (S.66)
Autor: Hans-Dieter Arntz. Erstveröffentlichung unter: www.hans-dieter-arntz.de
Benjamin Murmelstein: Theresienstadt – Eichmanns Vorzeige-Ghetto, Czernin Verlags GmbH, Wien 2014, 318 Seiten, ISBN 3707605108, 9783707605105