Hans-Dieter Arntz: Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung, Aachen 2012.
Die Fachliteratur zum Thema „Holocaust“ ist um ein neues Buch reicher geworden. Fachkreise im In- und Ausland befassen sich zurzeit intensiv mit der 710 Seiten starken Dokumentation „Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen“, die im Oktober 2012 vom Helios Verlag Aachen herausgegeben wurde.
In Ergänzung der Forschungsarbeiten von Prof. Eberhard Kolb und Alexandra-Eileen Wenck stellt der Euskirchener Historiker Hans-Dieter Arntz erstmals die Erinnerungen, Aussagen und Dokumente eines allseits respektierten „Judenältesten“ in den Vordergrund. Eine derartige Sichtweise stand bisher noch aus.
Der im deutschen Rheinland geborene Josef Weiss (1893-1976) bekleidete bereits im niederländischen Lager Westerbork wichtige Funktionen, ehe er sich im Inferno des Konzentrationslagers Bergen-Belsen zur charismatischen Persönlichkeit und zum Repräsentanten der holländischen und deutschen Juden des „Sternlagers“ profilierte. Insofern unterscheidet sich das deutschsprachige Buch von vielen Tagebüchern und Autobiografien, die nur ein kleines und individuelles Spektrum umfassen können.
Josef Weiss (holländisch: Joep Weisz) ist der Protagonist des eigentlich als Biografie konzipierten Buches. Bereits 1933 emigrierte er in die Niederlande und erlebte dort im Laufe der Zeit all das, was mit dem Untergang der holländischen Juden umschrieben werden kann. Daher sind diesbezügliche Aussagen und besonders die Beschreibung der Zustände im „Polizeilichen Judendurchgangslager Westerbork“ bedeutsam. In diesem Zusammenhang bewegt besonders das Kapitel „Die Deportation der Waisenkinder“, da es nicht nur dokumentarisch aufgearbeitet ist, sondern in Form eines Essays die persönliche Auseinandersetzung der Beteiligten in den Mittelpunkt stellt.
Da Josef Weiss später nicht nur der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen war, sondern dort auch zusätzlich die Registratur des Gesamtlagers und der „inneren Verwaltung“ zu leiten hatte, zählt er zu den wenigen Augenzeugen, die kompetent über das Geschehen und die Vernichtungsmaßnahmen zu berichten wussten. Daher sind die Kopien seiner Listen, die er nach dem Kriege den Behörden zur Verfügung stellte, von historischer Bedeutung. Dass es aber auch viele „unbesungene Helden“ gab, die bisher keinen Platz in der Historie fanden, hebt der Autor immer wieder anhand von bisher unbekannten Beispielen hervor.
Die positive Charakterisierung des letzten „Judenältesten“ von Bergen-Belsen ist insofern bedeutsam, weil die Diskussion über die angeblich freiwilligen, fanatischen oder gezwungenen Kollaborateure und Hilfsarbeiter des Holocaust weiterhin anhält. Auch die Reputation eines „Judenältesten“ ist bis heute durch viele Vorwürfe schwer belastet. Das vorliegende Buch beweist jedoch, dass ein „Judenältester“ zwar ein Funktionshäftling in der Befehlskette des deutschen NS-Terrors war und als exponierte Persönlichkeit williger Befehlsempfänger zu sein hatte, aber andererseits auch Repräsentant eines „Judenrates“ und Helfer der unzähligen, für den Holocaust vorgesehenen jüdischen Opfer sein musste. Aus dieser Problematik heraus entstand ein Balanceakt, der nie ganz frei vom Vorwurf der Kollaboration und Korruption war. Der Aachener Helios Verlag greift in seiner Vorschau die Beurteilung von Prof. Kolb auf, derzufolge sich Josef Weiss, der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen, um seine jüdischen Leidensgenossen sehr verdient gemacht hat. An anderer Stelle heißt es:
„Der Name Bergen-Belsen wurde zu einem Synonym für Terror, Gräuel und verhungerte Menschen im NS-Konzentrationslagersystem. Dass in einem solchen Inferno ein Jude aus der Voreifel zum Vorbild und zur Hoffnung vieler gequälter Menschen werden konnte und als „letzter Judenältester“ schließlich zur charismatischen Persönlichkeit wurde, widerspricht der grundsätzlichen Diskriminierung aller Funktionshäftlinge. Das vorgelegte Material ergibt aber dennoch einen eindringlichen Überblick über die eigentlich unbeschreibbaren Verbrechen im Konzentrationslager Bergen-Belsen (1944/45).“
In der Fachliteratur fehlen bisher derart dokumentarisch belegbare Biografien, und noch nie wurde aus einer derartigen Perspektive heraus die Gesamt-Darstellung eines Judenältesten dokumentiert. Dass dies am Beispiel des dantesken Bergen-Belsen mit seinen Tausenden von unbeerdigten Toten möglich wurde, macht den exemplarischen Wert des Arntz-Buches aus und schließt wahrscheinlich eine weitere Lücke in der Holocaust-Forschung.
Josef Weiss wurde in seiner Funktion – von Machthabern und Gefangenen gleichzeitig – „anerkannt“. Während aber derartige Funktionshäftlinge und die meisten „Judenältesten“ den Holocaust nicht überlebten oder aus besonderen Gründen von der Bildfläche verschwanden, sahen ihn die mehr als 2.000 Überlebenden des „Sternlagers“ und des „Verlorenen Zuges“ nach der Befreiung weiterhin als wichtige jüdische Persönlichkeit an und respektierten auch seine Maßnahmen. Die Tatsache, dass er in seiner von der SS aufoktroyierten Funktion später sogar in Tröbitz demokratisch als „Judenältester“ bestätigt und sogar demokratisch gewählt wurde, bezeugt den bis heute anhaltenden tadellosen Ruf dieses verdienstvollen jüdischen Häftlings. Der renommierte Niederländer Eli Dasberg (1904-1989) würdigte den Mitgefangenen und Freund Josef Weiss als jemanden, der „würdig blieb in einer unwürdigen Umgebung.“ Diese Aussage wird durch den Untertitel des Buches hervorgehoben.
Zu den vielen Zeitzeugen gehört auch Dr. Wolf Murmelstein, der Sohn des letzten Judenältesten von Theresienstadt. Die diesbezüglich beigefügten Aussagen über den berühmten Vater, Dr. Benjamin Murmelstein, ergeben interessante Parallelen, aber auch grundsätzliche Unterschiede in der gleichnamigen Funktion. Wenn es nach den Plänen der SS gegangen wäre, hätten sich die beiden „Judenältesten“ Mitte April 1945 in Theresienstadt begegnen können, denn die 3 Räumungstransporte, die in der Zeit vom 6. bis zum 10. April das Inferno von Bergen-Belsen verließen, sollten eigentlich nach Theresienstadt gehen. Dass aber dies angeblich ein „Eichmann-Komplott“ war und die typhuskranken Belsen-Insassen die dort ausharrenden Gefangenen anstecken sollten, ist eine brisante Behauptung, die Dr. Wolf Murmelstein in dem Buch von Hans-Dieter Arntz aufgestellt.
Bereits in seinem Buch „JUDAICA“ (1983) publizierte der Autor Hans-Dieter Arntz den inzwischen berühmt gewordenen Bericht von Josef Weiss „Sederabend 1945 in Bergen-Belsen“, der inzwischen bei vielen Sederfeiern in verschiedenen Sprachen vorgelesen wird. Holländische, israelische und amerikanische Zeitungen würdigten inzwischen die Lebensleistung des letzten Judenältesten von Bergen-Belsen. Und in seiner Heimat Euskirchen-Flamersheim wurde inzwischen eine Straße nach ihm benannt, wenn er dort auch längst vergessen schien.
Somit ergibt sich folgendes: obwohl Josef Weiss ein kleines Rädchen im Getriebe der SS-Organisation war und auch die gesamte „interne Lagerverwaltung“ bürokratisch zu leiten hatte, galt er den Juden im Inferno von Bergen-Belsen als unbestrittene Instanz. Andererseits war er wohl einer der besten Kenner spezifischer Vorkommnisse im Lager Bergen-Belsen, und daher ist die Biografie bzw. die Dokumentation von Hans-Dieter Arntz sicher ein wertvolles Mosaiksteinchen in der Historie des Holocaust.
Ein Online-Link weist zu dem sehr detaillierten Inhaltsverzeichnis des Buches und den Ergebnissen der jahrelangen Forschungsarbeit des Autors hin. Das Titelbild stammt von dem renommierten Ariel Zachor (studioRel in Amsterdam). Etwa 100 Fotos und Dokumente vervollständigen die Biografie über Josef Weiss (1893-1976) und dessen Wirken im niederländischen Lager Westerbork und schließlich im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Autor: Dieter Hay
Hans-Dieter Arntz: Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung, 712 Seiten, mit zahlreichen Fotos und Dokumenten, ISBN 978-3-86933-082-2, Helios-Verlag 2012, Euro 38,00