Meyer, Steffen: Ein Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager in seinem Umfeld: Bergen-Belsen von „außen“ und „innen“ 1941-1950. Stuttgart 2003.
Bergen-Belsen von “außen” und “innen”
“Je abstoßender wir ihnen erschienen, um so größer war ihre Sünde und Schande.” (Lilly Kertesz)
Welche Berührungspunkte gab es zwischen dem Lager Bergen-Belsen und seinem Umfeld? Wie nahmen sich Häftlinge, SS-Personal und Bevölkerung gegenseitig wahr? Welche Handlungsspielräume hatten SS-Personal und Bevölkerung in ihren Verhaltensweisen gegenüber den Häftlingen? Diesen Fragen geht Steffen Meyer in seiner im Stuttgarter ibidem-Verlag erschienenen Untersuchung “Ein Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager in seinem Umfeld“ nach. Der Historiker wertete hierzu bekannte Quellen aus: die von Hanna Fueß für eine Kriegschronik zwischen 1946 und 1949 gesammelten Berichte, die Aussagen von Zeitzeugen in einem Kurs der VHS Bergen in den frühen 1980er Jahren sowie die in den 1990er im Rahmen einer Examensarbeit von Claudia Dettmar gemachten Interviews.*
Es ist nicht verwunderlich, dass die Bevölkerungen im Umfeld von Konzentrationslagern eine besondere Abwehr gegen Schuldvorwürfe entwickeln. Die Leugnung, seinerzeit Kenntnis von den in den Lagern begangenen Verbrechen gehabt zu haben, gehört dabei sicher zum Standard. Überraschen kann aber doch, wenn Fragmente nationalsozialistischer Ideologie weiter zur Beschreibung und Erklärung dessen herhalten müssen, was sich vor der eigenen Haustür ereignete. Und wenn sich – entgegen aller Aufklärungsarbeit – viele Menschen noch in den 1980er und 1990er Jahren auf offenkundig geschichtsrevisionistische “Quellen” stürzen und stützen, muss dies erschrecken.
Steffen Meyer verdeutlicht mit seiner Studie, dass es vielfältige Kontakte zwischen der Bevölkerung und dem Lager, d.h. den Häftlingen wie Bewachern gab. Unübersehbar waren die ankommenden Transporte, denen sich nach der Ankunft an der Verladerampe in Bergen ein 5-Kilometer langer Fußmarsch anschloss. Die Kriegsgefangenen der ersten Lagerphase wurde genauso als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt wie anschließend KZ-Häftlinge in Arbeitskommandos außerhalb des Lagers für die Kriegswirtschaft, aber auch für die Versorgung des Lagers selbst. Beim Transport von Heizmaterialien oder Lebensmitteln hatten sie unweigerlich Kontakt mit der Bevölkerung. Und es kamen auch Menschen aus dem Umfeld ins Lager hinein, etwa als institutionelle Funktionsträger oder eben als Lieferanten. Später bemühte man sich, diese Kontakte zu banalisieren oder zu verschleiern. Als sich der Historiker Eberhard Kolb Anfang der 1960er Jahre mit der Lagergeschichte beschäftigte, machte er eine deprimierende Erfahrung: “Ich stieß wie auf eine Gummiwand, als ich einige Anwohner befragte, die mehr über das Lager wussten und auch noch Unterlagen hatten.” Etliche äußerst wertvolle Unterlagen seien dann auf “mysteriöse Weise” verschwunden. Und bis heute lassen sich die Zeitzeugen, die mit ihren Erinnerungen aufklärend wirken wollen, scheinbar an einer Hand abzählen.
Im Zentrum der banalisierenden Rückschau steht ein Bericht, den der Amtsgerichtsrat Ernst von Briesen (1879-1966) im Jahr 1950 geschrieben hat. Briesen war in Bergen bis zu dessen Auflösung in die SA Ortsgruppenleiter des “Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten”, zwischen 1940 und 1942 war er in leitender Funktion in den Kriegsgefangenenlagern Stalag XI B Fallingbostel und Stalag XI C/311 Bergen-Belsen tätig. In seinem Bericht beschreibt er das Kriegsgefangenenlager als “Musterlager”; das Massensterben im Winter 1941/42 erwähnt er lapidar am Rande. Über das KZ merkt er an, dass die Behandlung der Häftlinge bis zur Jahreswende 1944/45 “durchaus menschlich” gewesen sei. Der Lagerkommandant Kramer und das SS-Personal werden von ihm entlastet, ja er lädt die Verantwortung letztlich den Häftlingen selbst auf, wenn er behauptet, dass sie “wenig diszipliniert, den Anordnungen der Lagerleitung nicht mehr gehorchten.” Die Bevölkerung habe von all dem erst nach der Befreiung des Lagers erfahren.
Der Amtsgerichtsrat von Briesen wurde Eberhard Kolb 1960 vom Bezirksvorsteher als jemand empfohlen, der “objektive Angaben” über das KZ machen könne. Der “Bericht” wurde 1968 in der rechtsextremistischen Zeitschrift “Nation Europa” veröffentlicht. Im Streit um eine Straßenbenennung nach “Anne Frank” veröffentlichte 1985 ein Berger Anzeigenblatt Briesens Text erneut und auch Claudia Dettmar wurde während ihres Projekts von Bürgern immer wieder auf den – wie sie meinten – wichtigen Text hingewiesen. Neben Leugnung und Banalisierung sind viele Aussagen durch das Fehlen jeglicher Empathie mit den Opfern gekennzeichnet. Nur wenige Äußerungen bezeugen, dass den KZ-Häftlingen bei zufälligen Kontakten mit Wehrmachtsangehörigen vom nahegelegenen Truppenübungsplatz oder Menschen aus der Bevölkerung Interesse für ihre Situation entgegengebracht wurde oder ihnen in einer konkreten Situation sogar geholfen wurde.
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers berichten ehemalige Häftlinge von sehr unterschiedlichen Reaktionen aus der Bevölkerung der umliegenden Dörfer. Neben Freundlichkeit, Anteilnahme und Hilfe stießen sie auf massive Ablehnung. Die Zeitzeugen aus dem Landkreis beziehen sich in ihren Schilderungen vor allem auf die Plünderungen, die etliche Bauernhöfe nach der Befreiung über sich ergehen lassen mussten. In Bergen kam als Besonderheit hinzu, dass die Bewohner zunächst ihre Häuser räumen mussten, um für eine kurze Übergangszeit Platz für Angehörige ihrer Einheiten und befreite Kriegsgefangene zu schaffen. Vor diesem Hintergrund sahen sich viele Berichterstatter als Opfer. Dass in einer Zeit des Hungers für die deutsche Bevölkerung zudem das DP-Camp Bergen-Belsen bis 1950 zu einer Hochburg des Schwarzhandels wurde, verlängerte die verzerrte Wahrnehmung – inklusive der Fortschreibung antisemitischer Ressentiments.
Die Untersuchung von Steffen Meyer bietet zu allen Phasen der Lagergeschichte aufschlussreiches Material zur “Außensicht”. Indem er den Stimmen und Stimmungen die jeweilige konkrete Situation im Lager gegenüberstellt, kann er deutlich machen, welche “Anstrengungen” die Zeitzeugen jeweils unternahmen, das Verbrechen vor ihrer Haustür in einen sie entlastenden Zusammenhang zu stellen. Die von Schuldabwehr getragenen Deutungsmuster decken sich im übrigen, wie Meyer aufzeigen kann, auch mit dem Gebaren der Stadt, die bis in die späten 1980er Jahre darum bemüht war, den Namen Bergen nicht auf den Hinweisschildern erscheinen zu lassen, die den Weg zur Gedenkstätte wiesen.
* Die Berichte der “Sammlung Hanna Fueß” sind in Teilen in dem von Rainer Schulze herausgegebenen Band “Unruhige Zeiten” veröffentlicht; über den VHS-Kurs gibt es eine Dokumentation von Hans-Heinrich Zander “Berger Bürger erzählen die Nachkriegsgeschichte ihrer Stadt”, die unveröffentlichte Magisterarbeit von Claudia Dettmar hat den Titel “Bergen-Belsen. Das Verhältnis der Bergener Bevölkerung zum KZ vor und nach 1945. Umgang, Wahrnehmung und Erinnerung an die NS-Zeit”.
Autor: Reinhard Rohde
Meyer, Steffen: Ein Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager in seinem Umfeld: Bergen-Belsen von „außen“ und „innen“ 1941-1950. Stuttgart 2003. 134 Seiten. 19,90 Euro.