Die Frage nach der Schuld in Bernhard Schlinks „der Vorleser“
Der Nachkriegsroman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink (*1944) erschien 1995 und wurde 2008 von Stephen Daldry (*1961) verfilmt. Es ist ein Buch über Schuld und Moral, eine Aufarbeitung kollektiver und individueller Schuld gleichermaßen.
Der erste Teil des Romans und auch des Films dürfte, obgleich es nie explizit gesagt wird, im Herbst 1958 einsetzen. Der 15-jährige Michael Berg (im Film gespielt von David Kross, *1990/Ralph Fiennes, *1962), der zugleich der Ich-Erzähler des Romans ist, ist an Gelbsucht erkrankt und übergibt sich auf dem Heimweg von der Schule. Ihm kommt die 21 Jahre ältere Hanna Schmitz (Kate Winslet, *1975) zur Hilfe. Als Michael Hanna im Frühjahr nach seiner Genesung in ihrer Wohnung aufsucht, um sich zu bedanken, sieht Michael Hanna heimlich beim Umziehen zu, was ihn erregt. Obgleich er davonläuft, kommt es später dann doch zu einer primär sexuellen Beziehung, zu deren Ritual ein gemeinsames Waschen und später das Vorlesen durch Michael aus Büchern wird. Immer wieder kommt es zu für Michael nicht nachvollziehbaren Wutausbrüchen Hannas. So ist sie etwa auf einem gemeinsamen Ausflug stinkwütend von Michael morgens allein im Hotelzimmer zurückgelassen worden zu sein, obwohl er ihr eine Notiz hinterlassen hat. Als sie als Straßenbahnkontrolleurin befördert werden soll, verlässt sie umgehend die Stadt, wofür Michael sich die Schuld gibt, weil er sie am Tag zuvor im Schwimmbad verleugnet hat.
Jahre später ist Michael als Jurastudent Beobachter eines Prozesses gegen weibliche Wachen eines Außenlagers des Konzentrationslagers Auschwitz, die bei einem Todesmarsch Gefangene in eine Kirche gesperrt und dort nach einem Bombenangriff lebendig verbrennen lassen haben sollen. Unter den Angeklagten entdeckt Michael Hanna, die sich während des Prozessverlaufs durch ihr Verhalten immer tiefer hineinreitet. So kann sie etwa nicht erklären, wieso sie, als man ihr bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin anbot, die Firma verließ und zur SS ging. Die anderen Angeklagten werfen Hanna vor, einen gefälschten Bericht verfasst zu haben – die Handschriftenprobe verweigert sie. Auch soll sie Lieblinge unter den Gefangenen gehabt haben, von denen sie sich vorlesen ließ, ehe sie sie fallen und vergasen ließ.
Irgendwann dämmert es Michael: Hanna ist Analphabetin. Das Vorlesen, die Flucht vor einer Beförderung (damals bei Siemens, später bei denn Verkehrsbetrieben), die Unfähigkeit Michaels Notiz zu lesen, das Verweigern der Handschriftprobe lassen ihn zu diesem Schluss kommen. Für Michael beginnt damit ein innerer Kampf: Soll er Hanna auf Kosten ihrer Würde schützen und offenbaren, dass sie nicht lesen und schreiben kann oder soll er sich zurückhalten? Um sich ein besseres Bild zu machen, trampt er zu einem nahen KZ und landet dabei im Wagen eines ehemaligen Wehrmachtsoffiziers, der ihm erklärt:
„‚Nein, ich rede nicht von Befehl und Gehorsam. Der Henker befolgt keine Befehle. Er tut seine Arbeit, haßt die nicht, die er hinrichtet, rächt sich nicht an ihnen, bringt sie nicht um, weil sie ihm im Weg stehen oder ihn bedrohen oder angreifen. Sie sind ihm völlig gleichgültig. Sie sind ihm so gleichgültig, daß er sie ebensogut töten wie nicht töten kann.’“ (S. 146)
Das Buch ist also voller moralischer Dilemma und Schuldfragen. Zu Beginn steht eine äußerst fragwürdige Beziehung zwischen einem Jugendlichen und einer Erwachsenen, die jedoch, ohne dass er es weiß, von ihm abhängig ist. Hanna ist in dieser Beziehung ein eindeutig missbräuchlicher Part und das nicht zuletzt wegen ihres verheimlichten Analphabetismus. Als Michael ihr im Hotel den Zettel hinterlässt, schmeißt sie diesen weg. Als er zurückkommt, spielt sich folgende Szene ab:
„‚Faß mich nicht an.‘ Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht.“ (S. 54)
Michael seinerseits verleugnet Hanna gegenüber anderen und entwickelt ein Interesse für seine Mitschülerin Sophie. Er gesteht sich dies auch selbst als Verrat ein. Deshalb hat er auch Schuldgefühle, als Hanna nach einem Fehlverhalten seinerseits plötzlich spurlos verschwindet. Doch im Grunde gilt hier das, was für Hannas Vorleserinnen im KZ galt: Michael und diese Mädchen gleichermaßen sind bzw. waren ihr völlig gleichgültig. Sie geht aus Angst, als Analphabetin bloßgestellt zu werden.
Diese Scham ist der Motor für nahezu all ihre Handlungen und genau deshalb ist ein Aspekt in Hannas Verhalten auch für den Leser problematisch, wird doch suggeriert, sie sei bei der SS quasi gelandet, weil sie der Beförderung bei Siemens entgehen wollte. Es kommt einem ein bisschen so vor, als würde Hanna in ihrem Verhalten in Schutz genommen, weil quasi äußere Einflüsse sie dazu trieben, auch wenn Schlink sich gegen diese Deutung verwehrt. Er schreibt aber auch selbst im Roman als Michael:
„Die Gewähr dafür, dass die geschriebene [Version der Geschichte] die richtige ist, liegt darin, daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe.“ (S. 205)
Dann findet sich aber wiederum Folgendes in der Argumentation des Anklägers vor Gericht, was die Schuldfrage wieder zuungunsten Hannas verschiebt:
„‚Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen nicht Leib und Leben kostet, absetzen muß.’“ (S. 107)
Andererseits rächt sich Hannas Bemühen, ihr Defizit zu verheimlichen, vor Gericht, weil sie sich immer tiefer in ihr Lügengespinst verstrickt und den Behauptungen der anderen Angeklagten, die auch als ziemlich gehässige und eigennützige Frauen in Erscheinung treten, nichts entgegenzusetzen hat.
Dann wäre da Michael, der einerseits mit dem Konflikt der Nachkriegsgeneration mit ihrer Elterngeneration hadert und verzweifelt versucht, die Handlungen der Menschen unter nationalsozialistischer Herrschaft zu begreifen, und andererseits Hannas Täuschung wider besseres Wissen mitträgt. Diese Schuld wird auch nicht dadurch abgegolten, dass er Hanna nach deren Verurteilung zu lebenslanger Haft Kassetten ins Gefängnis schickt, mit denen sie sich selbst Lesen beibringen kann.
Letztlich krank jeder Charakter in „Der Vorleser“ an seiner Schuld und sei es die Kollektivschuld, an denen die Deutschen seit 1945 kranken und die gerade die Nachkriegsgenerationen innerlich zerreißt, fühlen sie doch eine Schuld für etwas, woran sie keine tragen. Mehr noch: Sie begreifen nicht, wie die Generation ihrer Eltern oder Großeltern (mittlerweile mitunter Urgroßeltern) diese Dinge tun konnte. Der Roman gibt Erklärungsansätze: Gleichgültigkeit, unglückliche Fügungen, Angst und Scham, Überforderung. Man kann sich dabei schwerlich des Gefühls erwehren, dass die Vorstellung, der Holocaust sei die Folge von Gleichgültigkeit oder unglücklicher Fügung noch erschreckender ist als die Erklärung Überzeugung und Hass hätten dazu geführt.