„Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst
statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!“
(Wolfgang Borchert: „Dann gibt es nur eins!“)
Steven Spielberg (*1946) gilt nicht ohne Grund als einer der bedeutendsten Filmregisseure aller Zeiten und seine zwei wohl bedeutendsten Filme liefen beide 1993 in den Kinos an, obgleich sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Zum einen „Jurassic Park“, der trotz seiner wissenschaftskritischen Note ein unterhaltsamer Science-Fiction-Blockbuster ist, und zum anderen „Schindlers Liste“, ein Historienfilm über den deutschen Großindustriellen Oskar Schindler (1908 – 1974; im Film gespielt von Liam Neeson, *1952), der während der NS-Diktatur mit seiner Frau Emilie Schindler (1907 – 2001; Caroline Goodall, *1959) zusammen etwa 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor dem Holocaust rettete. Der Film ist selbst längst ein Stück Geschichte geworden, sensibilisierte er doch eine ganze Generation für die Schrecken der NS-Zeit und stieß eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem düstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte an. Er zeigte aber auch, dass es nicht einmal in einer Zeit wie der des Nationalsozialismus eine klare Trennung von Gut und Böse gab. Obgleich der Film selbst in Schwarz-Weiß ist, sind die dargestellten Figuren gar nicht so leicht in dieses Schema zu pressen, denn so verläuft Geschichte nicht.
Wenn wir Oskar Schindler zu Beginn des Films kennenlernen, ist er ein Lebemann und Kapitalist, ein Kriegsgewinnler und Nutznießer des Systems, aber auch hier schon ein ziemliches Schlitzohr, das alle möglichen Gesetzeslücken nutzt, aber auch vor Dokumentenfälschung nicht zurückschreckt. Wobei der Film Schindler als nobler inszeniert, als er es in Wirklichkeit war und viele seiner Betrügereien unerwähnt lässt, obgleich man sich fragen muss, ob ein Betrug am NS-Regime ihn wirklich unsympathischer hätte aussehen lassen. Er war Mitglied der NSDAP und machte sich die jüdischen Zwangsarbeiter in Krakau als billige Arbeitskräfte zunutze. Das war im Oktober 1939, einen Monat nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, der Schindler ein Vermögen von umgerechnet einer Million Euro nach heutigen Maßstäben einbringen sollte, weil er billig produzieren konnte und eben auch „kriegswichtiges Gerät“ herstellte. Von diesem Vermögen war bei Kriegsende nichts mehr übrig. Wie im Film gezeigt, setzte Schindler es ein, um seine Zwangsarbeiter, die zunächst im Krakauer Ghetto, später im Konzentrations- und Arbeitslager Plaszow eingesperrt waren, von den Nazis freizukaufen und sie so vor der Deportation nach Auschwitz und der dortigen Vergasung zu retten, indem er SS-Leute bestach und vorgab, eine weitere Fabrik beim KZ-Außenlager Brünnlitz in seiner Heimatstadt errichten zu wollen, die jedoch letztlich nur Fassade war. Als Schlüsselmoment des Sinneswandels Schindlers wird im Film die Räumung des Ghettos inszeniert, doch in der Realität dürfte es ein weit schleichenderer Prozess gewesen sein, der aus dem Opportunisten einen Gegner des Regimes machte. Überzeugter Nazi war Schindler nie. Er teilte die NS-Ideologie nicht, aber anfangs schien sie ihm nützlich. Wie wenig regimetreu Schindler von Anfang an war, zeigen auch seine zahlreichen Tricksereien und Lügen gegenüber der Schutzstaffel (SS) und anderen Regimevertretern. Die titelgebende Liste hat es in der Form, wie im Film gezeigt, nie gegeben. Schindler diktierte nicht aus dem Kopf 1200 Namen. Es gab hingegen mehrere nach und nach von Schindlers Sekretären angefertigte Listen, womit wir bei Schindlers rechter Hand wären:
Die wohl größte künstlerische Freiheit des Films ist die aus dramaturgischen Gründen beschlossene Zusammenlegung von drei historischen Figuren: So werden Schindlers jüdische Helfer Mieczysław „Mietek“ Pemper (1920 – 2011), Abraham Bankier (1895 – 1956) und Itzhak Stern (1901 – 1969) auf die Figur Itzhak Sterns (Ben Kingsley, geboren als Krishna Pandit Bhanji, *1943) vereint. Dabei waren Pempers Berichte eine wichtige Grundlage für den Film. Schindlers Schwarzmarktkontakt Leopold „Poldek“ Pfefferberg (1913 – 2001; Jonathan Sagall, *1959) war sogar die treibende Kraft hinter dem Film. Er bearbeitete Spielberg 11 Jahre lang, um ihn zur Verfilmung des Stoffes zu überreden und war dann als Berater für den Film tätig.
Die dritte Schlüsselfigur von „Schindlers Liste“ ist der Lagerleiter von Plaszow: SS-Hauptsturmführer Amon Göth (1908 – 1946; Ralph Fiennes, *1962). Man könnte hier erwarten, dass, wenn Schindler im Rahmen der künstlerischen Freiheit ein wenig wohlwollender behandelt und inszeniert wurde, sein Gegenpart und Hauptantagonist des Films aus dramaturgischen Gründen und zur Verdeutlichung der Schrecken des Holocaust noch grausamer dargestellt wurde, als er wirklich war. Das Gegenteil ist der Fall. Spielberg und sein Team kamen zu dem Schluss, dass das Publikum eine authentische Darstellung Göths als eben eine solche Überzeichnung angesehen hätte. Kurzum: Der wahre Amon Göth war zu grausam, als dass ein durchschnittliches Kinopublikum es für glaubhaft gehalten hätte. So zeigt der Film einmal, wie Göth von seinem Balkon aus wahllos jüdische Häftlinge erschießt. Dass solche „Schießübungen“ nicht nur zur Tagesordnung gehörten, sondern Göth sich dafür mitunter in eine Art Weidmannskluft mit Tirolerhut warf und auf einen Wachturm kletterte, um ihn als Hochsitz zu nutzen, lässt der Film hingegen aus. Amon Göth war nicht nur ein überzeugter Nazi, sondern ein Psychopath, dem das Regime die Möglichkeit gab, seine sadistischen Neigungen ausleben zu können.
Im Grunde erzählt „Schindlers Liste“ zwei Geschichten, von denen eine jedoch mit der anderen untrennbar verbunden ist – umgekehrt leider nicht. Schonungslos wie kein anderes filmisches Werk zeigt „Schindlers Liste“ die Verbrechen der NS-Diktatur: Zwangsarbeit, Deportation und am Ende die Ermordung jüdischer Menschen. Allein deshalb ist „Schindlers Liste“ ein ungemein bedeutendes filmisches Werk, das bis heute auch zu Bildungszwecken etwa an Schulen eingesetzt wird. Vor diesem Hintergrund erzählt der Film aber auch die titelgebende Geschichte von Oskar Schindler, eines Deutschen, der sich zumindest in letzter Konsequenz nicht an den Verbrechen beteiligte, ihnen sogar alles, was er aufbringen konnte, entgegensetzte und dabei sein eigenes Leben riskierte. Dass Schindler kein nobler Retter war, sondern eigentlich ein hedonistisch veranlagter Halunke, verstärkt die Aussage, dass es ganz gewöhnliche Menschen sind, die im rechten Moment „Nein“ sagen, die es braucht, um dem Bösen Einhalt zu gebieten. Dass der Film Schindler heroisiert und besser darstellt als er war, ist die vielleicht einzige wirkliche Schwäche des Films. Allerdings ist das Klagen auf hohem Niveau bei einem der besten und bedeutendsten Filme der Geschichte.