Der Wert eines Lebens – „Der Soldat James Ryan“ in der Analyse
„Der Soldat James Ryan“ oder auch „Saving Private Ryan“ ist ein Spielfilm von Steven Spielberg (*1946) aus dem Jahre 1998, der vor dem Hintergrund der Operation Overlord spielt.
Eingeleitet wird der Film mit einer Szene, die einen alten US-Kriegsveteranen (Harrison Young, 1930 – 2005) zeigt, der von seiner Familie begleitet vor einem Grab des Soldatenfriedhofs in Colleville-sur-Mer niederkniet. Darauf folgt eine Rückblende zum D-Day und der Landung alliierter Truppen in Omaha Beach am 6. Juni 1944. Spielberg inszeniert diese Szene der ersten Invasionswelle absolut schonungslos in all ihrer Brutalität und walzt sie bewusst zu quälender Länge aus. Im Zentrum steht hier von Anfang an der von Tom Hanks (*1956) gespielte Captain John H. Miller, der so zur Hauptidentifikationsfigur für den Zuschauer wird. Miller ist eigentlich Englischlehrer und die Tatsache, dass wir diese Information nach einiger Geheimnistuerei während des Films erhalten, verdeutlicht, dass diese Männer, die damals im Zweiten Weltkrieg kämpften und teilweise ihr Leben ließen, eben keine Berufssoldaten, sondern ganz normale Bürger waren, die der Krieg an die Front zwang.
Spielberg ist darauf bedacht, die Erlebnisse dieser Menschen möglichst authentisch und lebensnah zu inszenieren. Das wird etwa durch die Verwendung eines bestimmten Jargons deutlich. So entspinnt sich etwa dieser Dialog zwischen Miller, dem noch etwas unbedarften Übersetzer Technician Fifth Grade Coropral Timothy P. Upham (Jeremy Davies, *1969) und Maschinengewehrschütze Private Richard Reiben (Edward Burns, *1968):
REIBEN: „Even if you think the mission’s FUBAR, Captain?“
MILLER: „Especially if you think the mission’s FUBAR.“
UPHAM: „What’s FUBAR?“
Deutsch:
REIBEN: „Selbst, wenn Sie denken, die Mission ist FUBAR, Captain?“
MILLER: „Insbesondere, wenn Sie denken, die Mission wäre FUBAR.“
UPHAM: „Was ist FUBAR?“
Auch für den Zuschauer mag dieses Wort, Fubar, zunächst ungewöhnlich klingen und Upham findet es nach eigener Aussage in keinem Wörterbuch. Tatsächlich handelt es sich bei Fubar um ein Akronym, das im Zweiten Weltkrieg entstand und sich in seiner Vielschichtigkeit nur schwerlich übersetzen lässt: Fucked up beyond all recognition, frei übersetzt in etwa: „bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt“, wobei „fucked up“ eben auch „vermasselt“ oder „aussichtslos“ und „recognition“ „Anerkennung“ bedeuten kann, womit sich Fubar eben nicht nur auf völlig zerfetzte Gefallene beziehen konnte, sondern eben auch auf Missionen, die so aussichtslos waren, dass man dafür keine Anerkennung ernten würde. Mit eben einem solchen Spezialauftrag werden Miller und seine Einheit nach der Einnahme der Atlantikküste betraut:
Sie sollen einen der hinter feindlichen Linien verstreuten Fallschirmjäger namens Private James Ryan (Matt Damon, *1970) ausfindig machen und sicher nach Hause bringen, was bei Millers Team auf Unverständnis stößt. Was könnte einen einzelnen Soldaten inmitten des groß angelegten Angriffs auf das Deutsche Reich und der Befreiung der von ihm besetzten Gebiete so wichtig machen? Grund ist die Sole Survivor Policy („Politik des einzigen Überlebenden“) der US-Streitkräfte. Ryan hatte drei Brüder, von denen einer in Neuguinea fiel und zwei bei der Landung in der Normandie. Auf Befehl von General George C. Marshall (1880 – 1959; Harve Presnell, 1933 – 2009) soll nun der vierte Bruder sicher heimgebracht werden, um seiner Mutter weiteres Leid zu ersparen.
Letztlich wirft der Film damit ein uraltes ethisches Dilemma auf, welches etwa auch „Watchmen“ oder „The Good Place“ (Ted Danson, *1947, der in „Der Soldat James Ryan“ Captain Fred Hamill spielt, ist hier in einer Hauptrolle zu sehen) thematisieren und welches in seiner bekanntesten Veranschaulichung heutzutage gemeinhin als „Trolley-Problem“ bekannt ist. In dieser bekanntesten Variante des Gedankenexperiments rast eine Straßenbahn (englisch: „Trolley“) auf eine Weiche zu. Die Bremsen sind kaputt und auf der Strecke werden Bauarbeiten durchgeführt. Ändert der Fahrer die Stellung der Weiche nicht, überfährt der Wagen fünf Arbeiter, ändert er die Weichenstellung, überfährt der Trolley einen Arbeiter. Anders gesagt: Wenn der Wert eines Menschenlebens unermesslich ist, wie kann man dann ein Leben gegen mehrere Leben bzw. die Leben Weniger gegen die Vieler aufwiegen? Und ist die Tötung einer Person zur Rettung mehrerer gestattet? Oberflächlich könnte man der Argumentation folgen, dass ein Mann nicht rechtfertigt, acht Männer auf Rettungsmission zu schicken – noch dazu mitten im Krieg. Ob das wirklich so ist, ist eine Problemstellung, die die Moralphilosophie seit Langem beschäftigt und auf die aus gutem Grund nie jemand eine zufriedenstellende Antwort finden konnte.
Die Mission wird natürlich auch von Millers Leuten infrage gestellt, von denen bei Filmende alle bis auf Upham und Reiben gefallen sind. Miller selbst trägt Ryan im Sterben liegend auf, sich des Opfers wert zu erweisen („James, earn this… earn it!“). Was einen bei Filmende zum gealterten Ryan, der sich als der Veteran aus der Eröffnungsszene herausstellt, am Grab Millers zurückführt, der salutiert und Miller sagt, er hoffe, er habe sich würdig erwiesen („I hope that, at least in your eyes, I’ve earned what all of you have done for me.“). Hier drückt Spielberg – wie leider so oft – stark auf die Tränendrüse und appelliert an den US-Amerikanischen Patriotismus.
Eben der ist auch der größte Schwachpunkt eines sonst authentischen Kriegsdramas: Die tapferen und guten Amerikaner auf der einen Seite und die verlogenen und feigen Deutschen auf der Gegenseite. Besonders deutlich wird dies an der Figur eines deutschen Soldaten (Joerg Stadler, *1961), den Miller entgegen dem Wunsch seiner Truppe als Kriegsgefangenen in Richtung der alliierten Stellungen schickt, weil er sich ihnen ergeben hat und seine Tötung gegen das Kriegsrecht verstieße, sie ihn auf ihrer Mission aber auch nicht selbst gefangen nehmen können. Eben dieser Soldat erschießt bei der Schlacht während des Showdowns Miller. Als er sich danach wieder ergeben will, tötet Upham ihn. Kurzum: Miller hält sich an die Regeln, während der Deutsche den Mann erschießt, dem er sein Leben verdankt. Trotz des teils amoralischen Verhaltens der US-Soldaten sind es Szenen wie diese, die letztendlich eine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Parteien zur Folge haben, obwohl die Mehrheit der deutschen Soldaten ebenso unfreiwillig an der Front gelandet sein dürfte wie ihre amerikanischen und britischen Gegner. Der Film transportiert damit wieder einmal die Mär eines Hitler geschlossen fanatisch hörigen Volkes und bedient sich damit ironischerweise genau des Narrativs, das die Nazis selbst so gerne verbreiteten. Wenn uns die Geschichte aber eines gelehrt hat, dann, dass sich in ihr die Dinge nie so einfach verhalten.