Sex, Brausepulver and Rock ’n‘ Roll – Günter Grass‘ „Die Blechtrommel“ und ein einzigartiger Blick auf die NS-Zeit
„Die Blechtrommel“ ist das vermutlich bekannteste Werk des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass (1927 – 2015) und polarisiert etwa so viel wie sein Autor, der vor allem in die Kritik geriet, als er 2006 mit dem Erscheinen seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ bekannt machte, mit 17 Jahren in die Waffen-SS eingetreten zu sein, nachdem er sich über Jahrzehnte hinweg als moralische Instanz Nachkriegsdeutschlands inszeniert hatte. Das Urteil zu Grass, „Die Blechtrommel“ und deren Oscar-prämierter Verfilmung von Volker Schlöndorff (*1939) spalteten aber schon zuvor die Geister. In der Rezeption war vom Preisen als literarischer Geniestreich bis hin zur Indizierung oder Herabwürdigung als obszönen Schund so ziemlich jedes denkbare Urteil vertreten. Grass‘ ewiger Intimfeind, der Literaturkritiker und Holocaust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013) revidierte sogar sein anfängliches Urteil, als sich die positiven Stimmen zu „Die Blechtrommel“ mehrten – aus: „Nichts Menschliches und Allzumenschliches braucht der Schriftsteller zu umgehen. Aber er muß uns durch sein Werk überzeugen, daß die Berücksichtigung dieser Vorgänge notwendig oder zumindest nützlich war. Das vermag Grass nicht“, wurde binnen drei Jahren eine weit wohlwollendere Kritik, in der er etwa anführte: „Oskar protestiert physiologisch und psychisch gegen die Existenz schlechthin. Er beschuldigt den Menschen unserer Zeit, indem er sich zu einer Karikatur macht. Der totale Infantilismus ist sein Programm.“
Aber worum geht es überhaupt in „Die Blechtrommel“? Buch wie Film sind die Erzählung des Protagonisten Oskar Matzerath (David Bennent, *1966). Während dieser im Roman seinen Rückblick aus seinem Zimmer in einer Psychiatrie Anfang der 1950er-Jahre erzählt, tritt er im Film als schlichte Off-Stimme auf, über deren Hintergrund der Zuschauer im Unklaren gelassen wird. Der entscheidende erste Satz des Romans fehlt im Film also: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.“
Oskar Matzerath kommt 1924 in Danzig zur Welt und gibt an, er gehöre zu jenen „hellhörigen Säuglingen“, deren „geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur bestätigen muss“. Damit offenbaren sich indirekt zwei Dinge: Oskar ist ein unzuverlässiger Erzähler, dessen Worten man nicht zwingend Glauben schenken sollte. Dies unterstreicht der Umstand, dass er sich zum Zeitpunkt seiner Erzählung in der Psychiatrie befindet. Ferner spricht es Bände über Oskars Persönlichkeit: Er ist voll und ganz von sich überzeugt. Wie von seiner Mutter Agnes Matzerath, geb. Koljaiczek (Angela Winkler, *1944) bei der Geburt versprochen, bekommt Oskar zu seinem dritten Geburtstag eine Blechtrommel geschenkt, mit der er fortan durchs Leben geht. Sie ist sein ständiger Begleiter, wird jedoch immer wieder ersetzt bzw. erneuert. Die Trommeln kommen zunächst vom jüdischen Spielwarenhändler Sigismund Markus (Charles Aznavour, 1924 – 2018). An jenem dritten Geburtstag beschließt Oskar jedoch auch, aufzuhören zu wachsen, und stürzt sich die Kellertreppe hinab – ob der Sturz nun kausal für sein eingestelltes Wachstum verantwortlich ist oder nur Oskars Eltern als Erklärung dienen soll, lassen Film und Roman offen. Ferner entdeckt Oskar seine Fähigkeit, mit seiner Stimme Glas zum Zerspringen bringen zu können. Trommelnd und kreischend terrorisiert Oskar seine Mitmenschen und setzt mit Trotz und Penetranz seinen Willen durch, was vor allem toleriert wird, weil ihn „die Erwachsenen“ weiterhin als dreijähriges Kind wahrnehmen.
Dies ermöglicht ihm aber auch eine einzigartige Perspektive auf die Welt. In einer Vielzahl kurzer Episoden erlebt der Leser bzw. Zuschauer den Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus aus der Sicht eines meist wenig beachteten Beobachters, der sich unter den einfachen und unbedarften Menschen jener Zeit bewegt. Während sein recht naiver vermeintlicher Vater Alfred Matzerath (Mario Adorf, *1930) als Deutscher rasch für die Nazis begeistern kann, steht Oskars leiblicher Vater und Cousin seiner Mutter, der Pole Jan Bronski (Daniel Olbrychski, *1945) der Entwicklung im Deutschen Reich, die bald auf Danzig übergreift, von Anfang an kritisch gegenüber. Er stirbt bei Kriegsbeginn, weil er mit anderen Polen die Post besetzt, während Oskar ihn und einen anderen Widerständler unentwegt nervt, weil er seine Trommel repariert haben will. Markus hat sich zu diesem Zeitpunkt wegen der in Danzig marodierenden SA-Leute bereits das Leben genommen.
Nach dem Tod von Agnes zieht Maria Truczinski (Katharina Thalbach, *1954) als Haushaltshilfe bei Matzeraths ein und Oskar verliebt sich in sie, was einige der vielen im Grunde pornografischen Passagen des Romans zur Folge hat. Doch auch Alfred verkehrt mit der jungen Frau (sie ist wie Oskar 16) – sehr zum Zorne Oskars. Als Maria einen Sohn, Kurt, zur Welt bringt, ist Oskar fest davon überzeugt, der Vater zu sein. Oskar tröstet sich mit einer Nachbarin, deren wohl homosexueller Mann bald darauf ebenfalls von den Nazis in den Suizid getrieben wird.
Die NS-Ideologie dringt insgesamt schleichend in den Alltag der Menschen ein und vereinnahmt diese. Es ist diese Banalität in der Darstellung des Bösen, die vermutlich die größte Stärke des Romans darstellt. Möglich wird dies nur durch die einzigartige Erzählperspektive. Schlüsselfigur ist hierbei der treudoofe Vater Alfred Matzerath, der sich zunächst mit Begeisterung den Nazis anschließt. Als Oskar, nachdem er eine Zeit lang mit anderen Kleinwüchsigen, die sich als Schausteller betätigen, umhergezogen ist, zu Kurts drittem Geburtstag heimkehrt, bringt er ihm eine Blechtrommel mit, die jener jedoch verschmäht. Stattdessen verprügelt er den ihm körperlich unterlegenen Oskar. Die Nazis, die schon nach Oskar gesucht haben, um ihn wegzusperren, statten Matzerath, für den damit das böse Erwachen beginnt, einen Besuch ab. Die Abkehr von den Nazis endet im Keller seines Ladens bei Kriegsende: Während die Rotarmisten die Nachbarin vergewaltigen, will Matzerath ein NSDAP-Parteiabzeichen verstecken und wirft es auf den Boden. Als Oskar es ihm zurückgibt, will Alfred es verschlucken, es bleibt ihm im Hals stecken. Das unbeholfene Würgen ist einem der Soldaten so suspekt, dass er Matzerath erschießt. Als wenig später der KZ-Überlebende Fajngold (1942 – 2020) den Laden übernehmen soll und Maria ihm die Leiche ihres Mannes im Keller zeigt, meint Fajngold, seine Kinder und Frau hätten genauso dagelegen, bevor man sie verbrannt hätte. Diese Szene verdeutlicht: Die Nazis brachten letztendlich über jedermann gleichermaßen Tod und Unheil. Jenen, die unbeirrbar plärren: „Es war nicht alles schlecht!“, entgegnet eine Szenerie wie diese: „Doch war es!“
Der Film endet mit Oskars Sturz in das Grab des Vaters, mit dem er seinen Wunsch, wieder zu wachsen, besiegelt, und der Vertreibung gen Westen. Im Roman wird so jedoch nur das dritte Buch eingeleitet, welches von den Beschwernissen der Nachkriegszeit berichtet. Maria und Kurt halten die Familie mit Schwarzmarkthandel über Wasser. Oskar macht Maria einen Antrag, den sie jedoch zurückweist. Er verdient sich daraufhin auf sich gestellt als Aktmodell und kann sich eine eigene Wohnung leisten. Er ist besessen von seiner Nachbarin, der Krankenschwester Dorothea, die später von Beate, die wiederum in Dr. Werner verliebt ist, der seinerseits Dorothea liebt, sie ihn aber nicht, ermordet wird. Statt Beate wird jedoch Oskar des Mordes für schuldig befunden, weshalb er auch in der Psychiatrie endet. Dass dieser letzte Erzählstrang es nicht in den Film schaffte, überrascht nicht sonderlich, will sich der Film doch weniger auf den Sonderling Oskar als die ihn umgebende Welt konzentrieren. Es war zwar ein zweiter Film in Planung, doch Hauptdarsteller David Bennent wollte keinen weiteren Film drehen.