Anmerkungen zu: Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007.
Das Hauptaugenmerk der historischen Antisemitismusforschung ist bislang, vor allem was das 19. Jahrhundert betrifft, vorrangig auf Ideologien und organisatorische Strukturen gerichtet gewesen. Die Frage, wie einzelne Menschen zum Antisemitismus fanden, stößt außerhalb der NS-Täterforschung nach wie vor auf ein geringes wissenschaftliches Interesse. Gelungene biographische Studien wurden bislang nur dem Pionier des Rassenantisemitismus Wilhelm Marr, dem Hofprediger Adolf Stoecker und dem Parteiführer Max Liebermann von Sonnenberg gewidmet.[1] Zwar hat die ideengeschichtliche Erforschung der Vordenker der völkischen Bewegung große Fortschritte gemacht.[2] Doch kommen auch heute noch in allen Ansätzen – von der Ideologiekritik über die politische Sozialgeschichte bis hin zu Diskurs- und Semantikanalysen – rezeptionsgeschichtliche Aspekte zu kurz, so dass die Verbreitung, Wahrnehmung und (mit Blick auf den Nationalsozialismus) die Kontinuität völkischen Gedankenguts nach wie vor schwer einzuschätzen sind. Ulrich Sieg hat mit seiner Arbeit über den Orientalisten und selbsternannten „Propheten Deutschlands“ Paul de Lagarde daher gleich mehrere Forschungslücken gefüllt. Lagarde ist nicht nur als Stichwortgeber von Antisemitismus und völkischem Nationalismus in seiner eigenen Epoche von erheblicher Bedeutung. Er war einer der wenigen Antisemiten des 19. Jahrhunderts, zu denen sich die Nationalsozialisten freimütig bekannten und deren politische Schriften Adolf Hitler intensiv studierte.
Paul de Lagarde wurde 1827 als Paul Bötticher in Berlin geboren. Seine erste Lebenshälfte stand unter keinem guten Stern. Nur wenige Tage nach der Geburt starb seine Mutter. Zu seinem Vater, einem strenggläubigen Pietisten, hatte er zeitlebens ein frostiges Verhältnis. Um mit seiner freudlosen Jugend zu brechen, ließ er sich 1854 von seiner Tante adoptieren und nahm deren Namen de Lagarde an. Seine außergewöhnliche Sprachbegabung prädestinierte Paul de Lagarde für eine akademische Karriere, die jedoch in den 1860er Jahren ins Stocken geriet. Nach einem Forschungsaufenthalt in London und Paris erhielt er in Deutschland keine Professur und musste als Gymnasiallehrer arbeiten. Erst 1869 wurde er auf den ersehnten Lehrstuhl für Orientalistik in Göttingen berufen. Dies geschah auf persönliche Intervention des preußischen Königs, der Lagardes konservative Gesinnung schätzte und das Prestigeprojekt der Septuaginta-Edition vorangetrieben wissen wollte. Als Professor erwarb sich Lagarde den Ruf eines international angesehenen Fachgelehrten, der durch außerordentliche Sprachkenntnisse und bienenhaften Fleiß auf sich aufmerksam machte. Allerdings fiel er auch durch verstörende narzisstische Züge in seiner Persönlichkeit auf, die auf sein wissenschaftliches und politisches Schrifttum abfärbten.
Lagarde war Anhänger eines extrem positivistischen Wissenschaftsverständnisses, das nur die Möglichkeit einer objektiven und gültigen Wahrheit zuließ. Hieraus ergab sich die Unfähigkeit, die den Geisteswissenschaften immanente Notwendigkeit eines kontroversen wissenschaftlichen Diskurses zu akzeptieren. Daher interpretierte Lagarde Kritik oder Nichtbeachtung als bewusste persönliche Kränkung, die es robust zu beantworten galt. So fiel der Göttinger Professor im Wissenschaftsbetrieb immer wieder durch wüste Kritikerschelte, gezielte Indiskretionen, bizarre Reformpläne und kühne Selbstheroisierung auf. Wegen seiner Machtfülle als Ordinarius und des Prestigeunternehmens der Septuaginta-Edition konnte er sich sein Querulantentum leisten, ohne nennenswerte Konsequenzen fürchten zu müssen. Dass es ihn menschlich und wissenschaftlich isolierte, störte Lagarde ohnehin nicht, denn die Selbststilisierung zum heroischen Einzelgänger und verfolgten Propheten betrieb er nach allen Regeln der Kunst. Er benötigte diese Aura für die Popularisierung seiner unzeitgemäßen Reformideen. Denn trotz seines Positivismus und seiner Hingabe an die Wissenschaft sah Lagarde den eigentlichen Sinn seines Lebens in der Stiftung eines neuen Glaubens, der zur „Wiederverzauberung“ der kalten und rationalistischen Moderne führen sollte.
Bezeichnenderweise wurden Lagardes politisch-religiöse Ideen erst beachtet, als sich die deutsche Öffentlichkeit im Kontext von „Gründerkrach“ und Kulturkampf verstärkt mit den Kosten von Modernisierungsprozessen auseinanderzusetzen begann. Eine breite Leserschaft fanden die seit 1878 in mehreren Auflagen und Erweiterungen erschienenen Deutschen Schriften. Sie waren ein Sammelsurium zeitkritischer Diagnosen und wirklichkeitsfremder Reformentwürfe, die zum Teil noch aus den 1850er Jahren stammten. Das Bismarck-Reich war Lagarde zu liberal, materialistisch und bürokratisch-steril. Ihm fehle eine religiöse Fundierung. Die gemeinsame Orientierung auf ein ideales Ziel, das die Grundlage wahrer Frömmigkeit bilden könne, habe die pragmatische Machtpolitik des Reichsgründers nicht hervorgebracht. Abhilfe sieht Lagarde in der Stiftung einer nationalen Religion, deren nähere Charakterisierung allerdings widersprüchlich ausfällt. Einerseits will Lagarde den neuen Glauben philologisch aus den Quellen des Neuen Testaments gewinnen, andererseits wettert er gegen den „Buchstabenglauben“, der echte Frömmigkeit ersticke. Einerseits lehnt er die existierende konfessionelle und kirchliche Spaltung des Christentums ab und kritisiert vor allem den Protestantismus in scharfen Tönen, andererseits zeigt er keine institutionellen Alternativen auf und bleibt mit seinen heterodoxen Thesen dem Kulturprotestantismus verpflichtet. Einerseits solle der neue Glaube historisch und christlich fundiert sein, andererseits sind seine Vorstellungen präsentisch und postchristlich, wenn er den deutschen Nationalismus in pathetischen Worten sakralisiert und fordert, die Religion müsse am „germanischen Wesen“ ausgerichtet sein.
Den Zeitgenossen vertrauter dürfte hingegen der Rundumschlag gegen alle Übel der Moderne gewesen sein, gegen Liberalismus und Judentum, Bürokratie und verkopfte Schulbildung, Alkohol- und Nikotinkonsum usw. Lagarde ordnete sich selbst als radikalen Konservativen ein und verfasste gar ein Programm für eine konservative Partei der Zukunft (1884). Doch sein Nationalismus, der u.a. die Propagierung eines deutschen Mitteleuropas und die Kolonialisierung osteuropäischen Lebensraums umfasste, war so maßlos, realitätsresistent und mit religiöser Semantik durchtränkt, dass er nicht mehr als konservativ beschrieben werden kann.
Wie haben Lagardes Zeitgenossen und die Nachlebenden die politisch-religiösen Auslassungen des „Propheten“ aufgenommen? Während Fritz Stern in seinem ideengeschichtlichen Klassiker The Politics of Cultural Despair (1961) Paul de Lagarde ein geschlossenes völkisches Weltbild attestierte, das ohne Umwege in den Nationalsozialismus führte[3], betont Sieg die Brüche in Lagardes Weltanschauung. Er möchte sie in erster Linie vor dem Hintergrund der gestörten Persönlichkeit des Gelehrten und der politischen und kulturellen Sinnkrise des Kaiserreichs interpretiert wissen. Diese neue historische Einordnung ändert jedoch nichts an der Erkenntnis, dass Lagarde Antisemit und völkischer Nationalist „sans phrase“ war und sich nie gegen eine entsprechende politische Vereinnahmung gewehrt hat. Gegenüber Persönlichkeiten und Zirkeln der völkischen Bewegung wahrte er zu Lebzeiten nur Distanz, weil ihm ihr Auftreten zu plebejisch und wissenschaftsfeindlich war. Dass die Popularisierung seines Gedankenguts auch durch den Bayreuther Kreis oder den ultraradikalen Antisemiten Theodor Fritsch erfolgte, störte Lagarde nicht. Der pathetische Ton, die Vagheit, Widersprüchlichkeit und verbale Radikalität seiner Texte öffneten zudem Tür und Tor für eine Rezeption durch intellektuell wenig anspruchsvolle völkische Ideologen und Politiker vom Schlage eines Georg von Schönerer, Julius Langbehn, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler.[4]
Anders als die ältere ideengeschichtliche Forschung begreift Sieg Rezeption nicht als einlinigen Prozess. Mit Sprachstil, Selbststilisierung und Rezeptionslenkung untersucht er „Werkzeuge“, mit denen Lagarde die Wirkung seiner politischen Pamphlete erfolgreich steuerte. Gerade im Zeitalter des Fin de Siècle war der Erfolg kulturpessimistischen Gedankenguts weniger von der Kohärenz der Inhalte abhängig als von der Ausfüllung eines wortgewaltigen Prophetentums wider die verhasste Moderne. Aus dem Prinzip „style over substance“ zogen auch die Persönlichkeiten und die Werke Wagners, Schopenhauers und Nietzsches ihre Faszination und nachhaltige Wirksamkeit auf das deutsche Bildungsbürgertum. Es lag voll im Trend eines vitalistischen Kulturpessimismus, die Anhäufung apodiktischer Werturteile als tiefgründige Philosophie zu verkaufen und durch sie Affirmation einzufordern, anstatt einen rationalen Diskurs anzuregen. Dieser charismatischen Wirkung widmet Sieg zu Recht mehr Aufmerksamkeit als es die ältere Rezeptionsforschung getan hat.
Schwer nachzuvollziehen ist hingegen Ulrich Siegs Kritik am Stand der historischen Antisemitismusforschung. Sie sei „kopflastig und übertheoretisiert“ und reduziere hermeneutische Ansprüche zugunsten moralisierender Tendenzen.[5] Beide Diagnosen widersprechen nicht nur einander, sie sind zumindest für die neuere Antisemitismusforschung schlicht unzutreffend. Als Kontrastprogramm möchte Sieg mit der Lagarde-Biographie eine „psychologisch einfühlsame Interpretation“ angelehnt Methoden aus der Ethnologie („dichte Beschreibung“) bieten. Dieses Versprechen kann allerdings den methodischen Konservatismus der Studie kaum verbergen. Sieht man einmal von einigen nicht besonders tiefschürfenden Ausflügen in die Psychologie ab, verknüpft Sieg die biographische Methode ausschließlich mit der klassischen Ideengeschichte. Handwerklich ist daran nichts auszusetzen, doch bedeutet der selbst auferlegte Theorieverzicht, dass bei der Befassung mit Lagardes völkischer Gedankenwelt viele Deutungsoptionen ungenutzt bleiben.
Beispielsweise hätten Lagardes Familiensituation, die Unfähigkeit, jede Form von Pluralismus zu akzeptieren und die unablässige Rede von „Wiedergeburt“ den psychoanalytisch geschulten Kulturwissenschaftler hellhörig werden lassen müssen. Die überlieferten Selbstzeugnisse hätten es erlaubt, Lagardes narzisstische Persönlichkeitsstruktur entlang Freudscher Begrifflichkeiten zu analysieren. Da Sieg auf dieses theoretisch-methodische Handwerkszeug verzichtet, bleibt ihm nur der Verweis auf die unglückliche Kindheit und auf diverse Charakterschwächen. Eine individualpsychologische Interpretation, gar angelehnt an die psychoanalytische Antisemitismusforschung, kann so nicht vorgenommen werden.
Zutreffend erkennt Sieg in der Schaffung einer nationalen Religion das Zentrum von Lagardes Weltanschauung. Leider bewegt sich der Autor auf religionsgeschichtlichem Terrain zuweilen unsicher und gerät in Deutungsschwierigkeiten. Er registriert nicht, dass die Frontlinien zwischen Liberalismus und Konservatismus in Politik und Theologie nicht kongruent verliefen. So wundert sich Sieg beispielsweise darüber, dass Lagarde für seine religiös-politischen Traktate ausgerechnet vom liberalen Protestantenverein gelobt wurde, während er von kirchlicher Seite Prügel bezog.[6] In politischen Fragen war der Göttinger Professor zweifelsohne konservativ. Aber mit seinen Thesen von der Überlebtheit der historischen Religionen, der Verachtung kirchlicher Institutionen und Dogmen, der Notwendigkeit historisch-kritischer Theologie und der Absicht, Volk, Nation und Religion miteinander in Beziehung zu setzen, stand Lagarde (ob er es wollte oder nicht) im Lager des Kulturprotestantismus und war somit Anhänger eines liberalen Religionsverständnisses. Das gilt im Übrigen auch für seine völkischen Epigonen und ihre Suche nach einer „arteigenen“ Religion. Hierfür wäre die Lagarde-Rezeption in Friedrich Langes Deutschbund aufschlussreich gewesen. Die Vorstellungen von einem „christlichen Deutschtum“, die in diesem einflussreichen völkischen Zirkel gepflegt wurden, bezogen sich explizit auf die Deutschen Schriften.[7] Kirchenfeste konservative (!) Christen beider Konfessionen wussten mit Lagardes religiösen Reformideen dagegen nichts anzufangen, obwohl sie in der harschen Kritik an Moderne, Liberalismus und Judentum mit dem Göttinger Orientalisten politisch übereinstimmten.
Zu selten verweist Sieg auf den Kulturkampf als historischen Kontext für Lagardes nationalreligiöse Konzepte. Der Konflikt zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat wuchs sich zu einer fundamentalen Auseinandersetzung um die Rolle der Religion in einem modernen Staatswesen aus. Das Verhältnis von Nation und Religion war daher eine aktuelle politische Frage und nicht ein abstrakter Gelehrtendiskurs, der aus einem allgemeinen Kulturpessimismus oder aus ökonomischen Verwerfungen („Große Depression“, Überfüllungskrise an den Universitäten) erwuchs. Für die Mehrheit der Zeitgenossen ließ sich die Verhältnisbestimmung von Nation und Religion durch die Etablierung des Protestantismus als nationale Leitkultur lösen.[8] Nicht so für Lagarde. Ihm war der Protestantismus zu liberal und sektiererisch, der Katholizismus zu ultramontan und das Judentum ohnehin artfremd. Daher konnte seine Nationalisierung der Religion bzw. Sakralisierung des Nationalismus nicht auf vorhandenen konfessionellen Nationskonzepten aufbauen, sondern musste die Nation selbst als Letztwert setzen. Die Nation erscheint als das ideale Ziel und damit die Grundlage wahrer Frömmigkeit, die den alten, etablierten und in ihrer Ethik universalistischen Religionen gefehlt habe. Das lässt Lagardes nationalreligiöses Gedankengut in einem modernen Licht erscheinen. Es handelte sich eben nicht um einen unzeitgemäßen Neuaufguss des romantischen Nationalismus von Herder, Fichte und Schleiermacher. Sieg bleibt jedoch dabei, auch Lagardes religiöse Vorstellungswelt als konservativ und sogar pietistisch einzustufen, was den Kern der Sache verfehlt.[9] Der zutreffende Verweis darauf, dass Lagardes nationale Religion nichts mit parallel aufkommenden neuheidnischen bzw. rassenreligiösen Phantasien zu tun hatte, sondern christlich zurückgebunden war, taugt nicht, um aus ihr ein konservatives Projekt zu machen. Mit Blick auf rechtsintellektuelle Zirkel in der Weimarer Republik und die Deutschen Christen in der NS-Zeit muss man die von Lagarde vorgedachte Germanisierung des Christentums als den anschluss- und zukunftsfähigeren Ansatz annehmen.[10]
Welche Rolle spielte der Antisemitismus in diesem Zusammenhang? Sieg analysiert ihn eher als eingestreutes Stilmittel denn als notwendigen Bestandteil nationalreligiöser Vorstellungen. So ist es auch nur konsequent, wenn er zu dem Urteil gelangt, der Antisemitismus habe in der Lagarde-Rezeption eine untergeordnete Rolle gespielt.[11] Es trifft zwar zu, dass Lagardes Judenfeindlichkeit häufig eine bunte Mischung aus alten und neuen Stereotypen war, um gegen Liberalismus, Moderne und ungeliebte Kritiker zu Felde zu ziehen. Doch auch in Lagardes nationalreligiöser Weltanschauung hatte der Antisemitismus eine klar auszumachende Funktion. Er diente dazu, das konfessionelle Christentum der Gegenwart als „verjudet“ zu delegitimieren und der Notwendigkeit einer neuen nationalen Religion Raum zu verschaffen.[12] Mit dieser Betrachtungsweise rückt der Antisemitismus von der Peripherie ins Zentrum von Lagardes völkischem Weltbild. Obwohl Sieg im Untertitel seiner Studie von den „Ursprüngen des modernen Antisemitismus“ spricht und diesem Thema mehrere Kapitel widmet, fehlt in seiner Darstellung eine präzise Funktionsbestimmung des Antisemitismus. Der Autor setzt sich zwar intensiv mit Lagardes judenfeindlichen Tiraden auseinander, doch gewinnt der Leser dabei den Gesamteindruck, die Juden seien für den verbitterten Göttinger Gelehrten „nur“ ein Hassobjekt unter vielen anderen gewesen. Dieser Eindruck scheint sich in der von Sieg vorgenommenen Rezeptionsforschung zu bestätigen. Denn sie deckt auf, dass Lagardes judenfeindliche Äußerungen nur bei Personenkreisen begeisterten Anklang fanden, von denen man es ohnehin erwartet hätte.[13] Doch für die Rezeption dürfte weniger entscheidend gewesen sein, was Lagarde über die Juden sagte und wer sich darauf bezog. Es kam vielmehr darauf an, dass es aus der Feder eines etablierten und international angesehenen Wissenschaftlers stammte, der zudem als Orientalist auch noch „vom Fach“ war. Ähnlich wie Heinrich von Treitschke (1834-1896) dürfte Lagarde erheblich dazu beigetragen haben, dem Antisemitismus im Bildungsbürgertum den „Kappzaum der Scham“ (Theodor Mommsen) zu nehmen. Ein aufschlussreiches Beispiel ist Lagardes Gutachtertätigkeit in Ritualmordprozessen. Er konnte sich als Wissenschaftler nicht auf den Antitalmudismus und die verquere Ritualmordthese August Rohlings (1839-1931) einlassen, wollte aber auf eine antisemitische Tendenz nicht verzichten. So stellte er in seinen Gutachten zwar fest, dass der „jüdische Ritualmord“ quellenmäßig nicht zu belegen sei, hielt es aber für möglich, dass jüdische Sekten ihn praktizierten.[14] Dies zeigt, wie geschickt es Lagarde verstand, paranoiden Antisemitismus mit der Aura des honorigen Fachgelehrten zu verbinden.
Was Lagardes Einfluss auf die Inhalte antisemitischer und rassistischer Ideologien seit der Jahrhundertwende angeht, so ist Sieg dagegen im Recht, wenn er relativierende Töne anschlägt und auf die Vieldeutigkeit der Lagardeschen Weltanschauung verweist. Insbesondere in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wurde sie nur noch als Steinbruch behandelt, aus dem man sich die ideologisch verwertbaren Bestandteile nach Belieben herausbrechen konnte. Für einen biologistisch ausgerichteten wissenschaftlichen Rassismus gab Lagardes Werk nichts her, umso mehr aber für nationalreligiöse Phantasien. Allerdings veranschlagt Sieg ihre Bedeutung für die NS-Ideologie und Politik als gering und ignoriert ideengeschichtliche Ansätze, die den Nationalsozialismus als „politische Religion“ deuten.[15]
Der Versuch Ulrich Siegs, mit seiner Biographie Paul de Lagarde stärker im ideengeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts zu verorten, anstatt ihn als Vordenker des Nationalsozialismus pauschal zu verdammen, ist grundsätzlich zu begrüßen, weist jedoch drei Schwachstellen auf. Erstens ist Siegs Einschätzung der älteren Forschungslage zu pauschal. In seinem Klassiker Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich (1964) stufte Peter Pulzer Lagarde beispielsweise treffend als Mischung aus einem romantischen Konservativen und einem modernen Imperialisten ein. Von einem Vordenker des Nationalsozialismus ist bei ihm nicht die Rede. Ähnlich differenziert äußert sich auch die wenig beachtete Studie von Robert W. Lougee, und mit der Arbeit von Vincent Viaene liegt bereits seit über zehn Jahren ein revisionistischer Beitrag vor.[16] Zweitens kann Sieg die Kontinuitätsthese, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Befunde, nicht überzeugend entkräften. Die radikale Rechte, von völkischen Zirkeln im Kaiserreich bis zu den Nationalsozialisten, berief sich massiv auf Lagarde. Dabei rezipierte sie die politisch-religiösen Schriften des Göttinger Gelehrten zwar selektiv und bedarfsgerecht. Antisemitismus und ultraradikaler Nationalismus waren aber Lagardes Weltanschauung immanent und brauchten nicht erst durch nachträgliche Manipulation hervorgekehrt zu werden, wie es z.B. im Fall Friedrich Nietzsches geschehen ist.[17] Daher kann es nicht verwundern, dass Sieg hinter die Lagarde-Apologie Viaenes zurückrudert, obwohl er in der revisionistischen Tendenz mit ihm übereinstimmt. Drittens übersieht Sieg die Modernität von Lagardes nationalreligiösem Gedankengut. In ihm ging es nicht wie in älteren romantisch-konservativen Konzepten darum, Nation und Religion einfach zu synthetisieren. Vielmehr sakralisierte Lagarde in antisemitischer und antikirchlicher Konsequenz die Nation selbst. Hier hatte der Nationalsozialismus, der sich gekonnt als politische Religion in Szene setzte, eine optimale Andockstelle gefunden, die auf mehr Kontinuität verweist, als Sieg zulassen möchte. An dieser Stelle macht sich erneut die Fixierung des Autors auf die Ideengeschichte negativ bemerkbar. So zieht er in den Kapiteln zur Rezeptionsgeschichte ausschließlich schriftliche Traditionsquellen heran. Welche Verbindungen zwischen konkreten Frömmigkeitsformen im Nationalsozialismus und nationalreligiösem Gedankengut Lagardescher Prägung bestehen könnten, untersucht er nicht.
Bei aller Kritik im Detail ist Ulrich Siegs Lagarde-Biographie ein wertvoller Beitrag zur Antisemitismus- und Nationalismusforschung, der durch eine präzise Quellenkritik spektakulären Thesen und geschichtspolitischen Fallstricken aus dem Weg gehen kann. In den Geisteswissenschaften ist heute Modernisierungs- und Liberalismuskritik wieder en vogue, häufig bemäntelt als postmodernes Lamento über die rationalistische „Entzauberung der Welt“ (Max Weber). Bei aller Empathie, die Sieg seinem Untersuchungsobjekt entgegenbringt, widersteht er der Versuchung einer Apologie, und es gelingt ihm, die Abgründigkeit der Lagardeschen Versuche einer „Wiederverzauberung“ der Welt aufzudecken. Sie kamen über hasserfüllte Feindbildkonstruktionen und den narzisstischen Wunsch nach einer Gesellschaft ohne Konflikte und ohne Pluralismus nicht hinaus.
Autor: Thomas Gräfe
Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007.
Anmerkungen
[1] Vgl. Moshe Zimmermann, Wilhelm Marr. The Patriarch of Anti-Semitism, Oxford 1986; Gerit Koch, Adolf Stoecker 1835- 1909. Ein Leben zwischen Politik und Kirche, Erlangen 1993; Thomas Weidemann, Politischer Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Der Reichstagsabgeordnete Max Liebermann von Sonnenberg und der nordhessische Wahlkreis Fritzlar-Homberg-Ziegenhain, in: Bambey (Hg.), Heimatvertriebene Nachbarn, S. 113-184.
[2] Vgl. Uwe Puschner/ Walter Schmitz/ Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871-1918, München u.a. 1996; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001.
[3] Vgl. Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of Germanic Ideology, Berkeley 1963 (zuerst 1961), S. 3-94.
[4] Siehe insbesondere die Auswertung der Lektürespuren in den Deutschen Schriften aus Hitlers Privatbibliothek. Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 338ff.
[5] Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 19.
[6] Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 166, 179.
[7] Zum Verhältnis von Nationalismus, Antisemitismus und Konfession immer noch unübertroffen: Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870-1914, Ithaca 1974. Zur Affinität von Kulturprotestantismus und völkisch-religiösen Bewegungen: Rainer Lächle, Protestantismus und völkische Religion, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch zur Völkischen Bewegung, S. 149-163. Zum Deutschbund: Dieter Fricke, Der Deutschbund. Gründung und Charakter, in: Puschner u.a., Handbuch zur Völkischen Bewegung, S. 328-340. Leider nichts über Friedrich Lange und den Deutschbund bei Sieg.
[8] Vgl. Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992.
[9] Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 161-202. Noch eklatantere Vernachlässigung der ultranationalistischen Aspekte von Lagardes religiöser Vorstellungswelt bei Vincent Viaene, Paul de Lagarde. A nineteenth-century „radical“ conservative and precursor of National Socialism? in: European History Quarterly 26 (1996), S. 530-541. Immerhin gesteht sogar Viaene zu „He [Lagarde, T.G.] did not realize that this sacro egoismo made a sham of his universalist pretensions and necessarily transformed his evangelical German ethic into a mere tribal one: Deutschtum did not deepen Evangelium but emptied it of its essence.“ (S. 550) Diese Tendenz lässt sich allerdings nicht als unbeabsichtigte Aporie abtun.
[10] Vgl. Stefanie Schnurbein/ Justus H. Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001.
[11] Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 309, 320.
[12] Daher auch Lagardes Ansicht, die Lehre Christi stehe im diametralen Gegensatz zur jüdischen Tradition und seine verquere Interpretation des Apostels Paulus, dem er unterstellte, jüdische Einflüsse ins Urchristentum eingeführt zu haben, weswegen man zwischen gutem Evangelium und schlechtem (d.h. „verjudetem“) Christentum unterscheiden müsse. Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 166ff.
[13] Vgl. Sieg, Deutschland Prophet, S. 292-353.
[14] Sieg verweist hier nur auf den Fenner-Prozess (1887), nicht jedoch auf den spektakuläreren Bernstein-Fall (1888/89), in dem Kaiser Wilhelm II. persönlich um die Anfertigung wissenschaftlicher Gutachten zur „Ritualmordfrage“ gebeten hatte, die Franz Delitzsch, Hermann Strack und eben Paul de Lagarde lieferten. Zu Recht bescheinigte man Lagardes Gutachten am Hof judenfeindliche Tendenzen und riet dem Kaiser, dem Theologen Strack mehr Glauben zu schenken, der die Ritualmordlegende grundsätzlich verwarf. Zum Bernstein-Fall: Barnet Hartston, Reluctant Justice. Government Legal Intervention on behalf of Jews in Imperial Germany, in: German Studies Review 27 (2004), S. 91-93; Ders., Sensationalizing the Jewish Question. Anti-Semitic trials and the press in the early German empire, Leiden 2005, S. 160-166.
[15] Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München (2.Aufl.) 2002.
[16] Vgl. Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914. Mit einem Forschungsbericht des Autors, Göttingen 2004 (zuerst 1964), S. 131-133; Robert W. Lougee, Paul de Lagarde. A study of radical conservatism in Germany, Cambridge Mass. 1962, S. 288-296; Viaene, Paul de Lagarde, S. 527-557.
[17] Zur kontinuierlichen Lagarde-Rezeption der radikalen Rechten: Ina Ulrike Paul, Paul Anton de Lagarde, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch zur Völkischen Bewegung, S. 45-93. Zu Nietzsche: Massimo F. Zumbini, Untergänge und Morgenröten. Nietzsche – Spengler – Antisemitismus, Würzburg 1999. Seltsam ist, dass Vincent Viaene ausgerechnet Nietzsche und Langbehn als unmittelbare Vorläufer des Nationalsozialismus aufführt, während er Lagarde freispricht. Viaene, Lagarde, S. 551. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 292-325 rückt diese Fehleinschätzung zurecht.