Im Mai 1900 widmete der Verein zur Abwehr des Antisemitismus Houston Stewart Chamberlains Kulturphilosophie eine ausführliche Besprechung. An die Stelle des „Knüppels“ der Radauantisemiten habe der vielgelesene Laienphilosoph eine antisemitische Weltanschauung „im wissenschaftlichen Gewande“ treten lassen, die durch ihre „Vornehmheit und Begeisterungsfähigkeit“ umso verheerender auf die deutsche Jugend wirke.[1] Der Tragweite dieser hellsichtigen Einschätzung dürften sich die Autoren nicht bewusst gewesen sein. Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), der Schwiegersohn Richard Wagners und selbsterklärte völkische „Dilettant“, gehörte bereits im Kaiserreich zu den populärsten Predigern eines weltanschaulichen Rassenantisemitismus und später zu den wichtigsten geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus. Umso erstaunlicher ist die dürftige Forschungslage, die mit Geoffrey Fields veralteter Biografie und der für Historiker unergiebigen sprachwissenschaftlichen Dissertation Anja Lobenstein-Reichmanns, nur zwei nennenswerte Publikationen hervorgebracht hat.[2] Udo Bermbachs umfangreicher Biografie[3] kommt daher Pioniercharakter zu, nicht zuletzt weil sie eine detail- und kenntnisreiche ideengeschichtliche Verortung Chamberlains zwischen Wagnerianismus, völkischer Bewegung und Nationalsozialismus unternimmt. Überraschend und zum Teil den von Bermbach selbst erarbeiteten Fakten widersprechend ist allerdings das unentwegte Bemühen des Autors, Chamberlain von allen drei Weltanschauungen zu distanzieren.
Udo Bermbach hat sich in seinen bisherigen Veröffentlichungen über den Wagnerianismus und den Bayreuther Kreis als führender Wagner-Apologet einen Namen gemacht. Dabei bewegt er sich durchaus nicht auf dem Boden der Bayreuther Orthodoxie, sondern verteidigt den linken Wagner der Dresdener und Züricher Zeit gegen den völkischen Wagner Bayreuths, der angeblich ausschließlich ein Produkt seiner Epigonen wie Hans von Wolzogen, Ludwig Schemann und Houston Stewart Chamberlain sei.[4] Dass Bermbach die Apologie nun auch auf Chamberlain ausdehnt, ist zu Recht bereits von anderen Rezensenten gerügt worden.[5] Die Charakterisierung Chamberlains orientiert sich oft naiv an seinem bildungsbeflissenen Selbstbild, mit dem er in der Tat viele Zeitgenossen über die wissenschaftlichen Defizite und den weltanschaulichen Fanatismus seiner Arbeiten hinwegzutäuschen verstand. Verwerflicher als die aufgesetzt wirkenden Ehrenrettungsversuche sind einige Auslassungen, die in der ansonsten materialgesättigten Studie Bermbachs nicht sofort ins Auge fallen. So untersucht der Autor Chamberlains Einbindung in die völkische Bewegung nicht, sondern lässt gezielt den falschen Eindruck entstehen, Chamberlain habe sich von ihr ferngehalten. Der Leser erfährt beispielsweise, dass der Bayreuther Philosoph den Roman „Die Sünde wider das Blut“ (1918) peinlich fand, nicht aber, dass er acht Jahre lang mit dessen Autor Artur Dinter im Briefkontakt stand und ihn weltanschaulich beriet. Manipulierte Fakten und Halbwahrheiten erhält der Leser auch bezüglich der Kontakte zu jüdischen Intellektuellen, die Bermbach als Beweis für die Weltgewandtheit Chamberlains aufführt. (S. 12) Kein Wort darüber, dass sie mit Ausnahme Walther Rathenaus alle konvertiert, ausgetreten oder gar selbst Antisemiten bzw. Wagnerianer waren. Wenn Bermbach den getauften Maximilian Harden für einen Juden hält (S. 209), bleibt nur zu hoffen, dass dies auf Unkenntnis und nicht auf der unkritischen Adaption rassistischer Definitionsangebote beruht.[6] Auch einige andere Zuordnungen verursachen Kopfschütteln. So wird Hermann Bahr, der Cheftheoretiker der Wiener Moderne, zu einem Völkischen erklärt und in einem Atemzug mit Artur Dinter genannt. (S. 458)
Sieht man von den peinlichen Apologieversuchen und den tendenziösen Lücken bei der Befassung mit Chamberlains Korrespondenz ab, kann die Darstellung von Leben und Werk aber insgesamt überzeugen. Besonders lobenswert ist, dass sich der Autor nicht nur dem Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1899) widmet, sondern auch die weniger bekannten Schriften zu Musik, Kunst, Philosophie und Religion einer ideengeschichtlichen Analyse unterzieht. Wertvolle Einblicke in Chamberlains Arbeits- und Leseverhalten gibt das Kapitel über die Privatbibliothek des Philosophen, die im Originalzustand erhalten ist. Zu Recht erkennt Bermbach in Chamberlain keinen dogmatischen Wagner-Schüler, sondern einen eigenständigen, vielseitigen und kreativen Denker. Doch in der darüber hinausgehenden Deutung von Chamberlains Werken verstrickt sich der Autor in Widersprüche. Er wirft Chamberlain vor, Wagners kulturelle Regenerationsfantasien biologistisch konkretisiert zu haben, um ihn dennoch von den Völkischen und den Nationalsozialisten abzurücken. Dazu genügt Bermbach allein schon der Verweis auf Chamberlains bildungsbürgerlichen Habitus – wo doch die völkische Bewegung in sozialgeschichtlicher Hinsicht ein Sammelbecken verkrachter bildungsbürgerlicher Existenzen war.[7] Chamberlain unterscheide sich zudem in seiner betonten Christlichkeit von den Nationalsozialisten (S. 159) – wo er doch mit seinem Entwurf eines arischen und „entjudeten“ Christentums zum Ideengeber der Deutschen Christen wurde.[8] Chamberlains religiöse Schriften beruhen nur scheinbar auf der Rezeption theologischer Fachdebatten. Tatsächlich sind sie direkt vom antisemitischen „Altmeister“ Theodor Fritsch abgekupfert, dessen Name selbstverständlich nicht fällt.[9] Gewiss zeigt Chamberlains Leseverhalten, dass er weit über den völkischen Tellerrand hinausblickte. Aber er zog daraus keine Konsequenzen, sondern blieb ein „noioser Dilettant“ (Friedrich Nietzsche), der das Gelesene in das Korsett einer vorgefertigten völkischen Weltanschauung zwängte.
Völlig verfehlt ist Bermbachs Versuch, Chamberlains Schrifttum einen wissenschaftlichen Wert abzuringen und es in einen Gegensatz zu seinem weltanschaulichen „Grundlagen“-Buch zu bringen.[10] Angesichts des Bemühens, „Geistesheroen“ wie Goethe, Kant und Jesus Christus für völkisches Gedankengut zu erschließen, müssen die Nachfolgeschriften als Ergänzung und Erweiterung der „Grundlagen“ verstanden werden. Alle drei Personen der Weltgeschichte ereilt dasselbe Schicksal. Sie werden von Chamberlain arisiert, ihrem eigentlichen geistesgeschichtlichen Kontext entrissen und als blutgebundene germanische Denker beweihräuchert. Selbst die geifernden „Kriegsschriften“ möchte Bermbach mit der Behauptung „retten“, andere große Deutsche wie Thomas Mann und Werner Sombart hätten sich im Weltkrieg ähnlich geäußert. (S. 434-442) Sie verteidigten zwar auch die deutsche Kultur gegen westliche Zivilisation, plädierten aber nicht für eine völkisch-technokratische Diktatur oder pöbelten gegen die „Judenpresse“. Solche Unterschiede werden, auch in anderen Zusammenhängen, ignoriert oder kleingeredet. Houston Stewart Chamberlain, ein Philosoph auf einer Ebene mit den deutschen Geistesgrößen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – quod erat demonstrandum.
Sinnvoller als das Messen mit den großen zeitgenössischen Schriftstellern und Wissenschaftlern wäre es gewesen, Chamberlain als völkischen Intellektuellen einzustufen. Er verstand es meisterhaft, sich in aktuelle Debatten wie die Rassenforschung, den Neukantianismus, den Babel-Bibel-Streit oder die Kriegspropaganda öffentlichkeitswirksam hineinzuschreiben und sie mit völkischen Inhalten zu füllen, die dort zuvor nicht präsent waren. Als Ideologeme sind Antisemitismus, Antiultramontanismus, Elitismus, organizistisches Denken und die Aversion gegen westliche Werte zu nennen, die immer wieder in unterschiedlichen Gewichtungen vorgebracht wurden.[11] Während anderen völkischen Agitatoren wie Theodor Fritsch, Adolf Bartels und Adolf Hitler der Ruf des unbürgerlichen „Pogromdeppen“ (Kurt Tucholsky) anhaftete, verstand es Chamberlain mit seiner aufgesetzten Bildung und seinem ausgeprägten Sprachtalent, völkisches Gedankengut für das Bildungsbürgertum zu enttabuisieren, ohne es auch inhaltlich zu entschärfen. Wo er sich, wie in seinen Briefen und in den Artikeln für völkische Zeitungen und Zeitschriften, für ein klar umrissenes Publikum äußerte, offenbarte Chamberlain sein wahres Gesicht, das ihn als enthemmten und zutiefst antirationalistischen Fanatiker zeigt, der wie so viele Vertreter des Wiener Fin de Siècle allein aus Liebe und Hass heraus lebte. Interessant, dass Chamberlain sich selbst auch genauso einschätzte. (S. 386)
Bermbach erkennt im Antisemitismus nicht das Fundament, wohl aber ein wichtiges Additiv von Chamberlains Philosophie. (S. 433) Eine durchaus zutreffende Einschätzung, würde der Autor nicht bevorzugt relativierende oder widersprüchliche Aussagen zitieren, um Zweifel an Chamberlains Judenfeindlichkeit zu säen. Dabei schreckt er nicht davor zurück, radikale Aussagen als moderat umzuwerten, wie im Falle von Chamberlains Empfehlungen zum Umgang mit den rumänischen Juden. (S. 296f.) Auf dem Berliner Kongress 1878 war die Judenemanzipation zur Bedingung für die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Rumäniens gemacht worden.[12] Wenn Chamberlain empfahl, den Juden die vollen Bürgerrechte vorzuenthalten, war dies nicht moderat, sondern eine Aufforderung zum Bruch internationalen Rechts. Man gewinnt den Eindruck, dass Bermbach im Verlauf seiner Studie immer mehr die kritische Distanz verliert und sich zum Anwalt Chamberlains aufschwingt. Wenn eine Biografie ihrem Untersuchungsobjekt schon unbedingt Empathie entgegenbringen will, so sollte sie sich dabei wenigstens auf ein solides psychologisches Fundament stellen. Sigmund Freuds provokante These vom Antisemitismus als christlichem Selbsthass scheint in vielen biografischen Aufzeichnungen und völkischen Schriften Chamberlains durch: In den Juden erblickte er eben jenen modernen Menschenschlag, zu dem er als Kosmopolit, gescheiterter Akademiker, heterodoxer Christ und englischer Dandy ohne bluts- und bodenmäßige Verwurzelung wider Willen selbst gehörte. Überdeutlich wird der Projektionsmechanismus in Chamberlains Haltung zum Christentum, aus dem er alle ihm unerwünschten Aspekte als „jüdisch“ abspaltete. Zur psychologischen Funktion des Antisemitismus kam eine ideengeschichtliche hinzu, indem Chamberlain den Rassenkampf zwischen Juden und Germanen zum Bewegungsgesetz der Geschichte erklärte. Die von Bermbach durchaus zutreffend aufgezeigten Inkonsequenzen sind auf einen schwammigen Rassebegriff zurückzuführen, der eine konsequente Biologisierung mit Rücksicht auf die idealistisch-humanistische Tradition des deutschen Bildungsbürgertums vermied. Dies hebt Chamberlain zwar von den Nationalsozialisten, keineswegs aber von der völkischen Bewegung ab, die stärker den traditionellen Geisteswissenschaften als den neuen Humanwissenschaften verpflichtet blieb.[13]
Anstatt sich der Binnenlogik des völkischen Diskurses zuzuwenden, macht Bermbach äußere Einflüsse geltend und nimmt zum Beispiel Chamberlains Aussagen zum Wiener „Völkerchaos“ für bare Münze (S. 97) und gibt das Philosophieren über Rassentheorien als „wissenschaftsbasierte Debatte“ (S. 231) aus. Entsprach Chamberlains Rassenantisemitismus also einfach nur dem auf Nation und Rasse fixierten Geist der Zeit? Tatsächlich zeigen jedoch zahlreiche zeitgenössische Intellektuellenbefragungen zur „Judenfrage“ sehr deutlich, dass sich dieser „Zeitgeist“ auf den äußersten rechten Rand des Bildungsbürgertums beschränkte und dass selbst Nationalisten und Rassisten nicht automatisch Antisemiten waren.[14] Die Behauptung, Chamberlain habe sich mit seiner Rassentheorie auf dem Boden der zeitgenössischen Wissenschaft bewegt, ist schlicht falsch. Die Rassenforschung hat sich zwar an Chamberlains politischer Tendenz orientiert, befürchtete aber, seine pseudowissenschaftlichen Ergüsse könnten dem Ruf der jungen Disziplin schaden.[15] So blieb das entscheidende Widererkennungsmerkmal von Chamberlains Rassentheorie der Antisemitismus. Aber auch das möchte Bermbach noch relativieren. Schließlich sei Chamberlain „nur“ für die Diskriminierung der Juden gewesen und habe im Unterschied zu den Nationalsozialisten ihre physische Verfolgung abgelehnt. (S. 297) Bedenkt man, dass die gewaltsame „Endlösung der Judenfrage“ selbst für die Nationalsozialisten erst unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs zu einer realistischen Option wurde, wird der unhistorische Charakter dieses Entlastungsarguments deutlich. Houston Stewart Chamberlain steht für die völkisch-bildungsbürgerlichen Wurzeln des Nationalsozialismus. Bermbach umgeht diesen Forschungskonsens mit einem Taschenspielertrick, indem er Chamberlains Weltanschauung mit der politischen Praxis des Dritten Reiches vergleicht, anstatt mit dem Nationalsozialismus in der bayerischen „Ordnungszelle“ der frühen 1920er Jahre, d.h. dem Nationalsozialismus der Bruckmanns, Bechsteins, Hanfstaengls und Wagners. Wenn Chamberlains Gedankengut von Hitler missverstanden bzw. missbraucht worden sei (S. 612f), obwohl die Nationalsozialisten lediglich die naheliegenden politischen Schlussfolgerungen daraus zogen, Chamberlain Parteimitglied war, für den „Völkischen Beobachter“ schrieb und Hitler für den Vollstrecker seines Gedankenguts hielt – wer kann dann überhaupt noch als geistiger Vorläufer des Nationalsozialismus gelten? Chamberlains Anti-Politik war ein eindeutiges Synonym für völkische Politik. Wie „politikfern“ er und die Bayreuther Entourage tatsächlich waren, zeigt ihre Parteiname für den Hitler-Putsch vom November 1923. Offenbar glaubt Bermbach ernsthaft, Chamberlain entnazifizieren und aus „Acht und Bann“ (S. 1) herausnehmen zu können, indem er Brauntöne in Graustufen verwandelt. Angesichts dessen kann es kaum verwundern, dass die „neue Rechte“, die selbst fleißig nach „entbräunten“ völkischen Vorbildern sucht, das Buch mit Beifallsstürmen begleitet.[16]
Zum Eingang seiner Studie zitiert Bermbach Robert Musil, der in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ über die Werke der zeitgenössischen Weltanschauungsverkündiger schrieb: „Sie zeigen wohl ein spielendes Vergnügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Missverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennt.“ (S. 10) Verwerflich werden diese Unrichtigkeiten und Missverständnisse erst dann, wenn sie nicht im guten Glauben unterlaufen, sondern einem geschichtspolitischen Zweck dienen. Letzteres trifft auf Udo Bermbachs Chamberlain-Biografie leider nicht weniger zu als auf Chamberlains Kulturphilosophie selbst.
Autor: Thomas Gräfe
Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2015. ISBN 978-3-476-02565-4
Anmerkungen
[1] Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 10 (1900), S. 161-164.
[2] Geoffrey Field, Evangelist of Race. The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981 (unverdienterweise nie in deutscher Übersetzung erschienen); Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse, Berlin 2008.
[3] Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart 2015.
[4] Udo Bermbach, „Blühendes Leid“. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart 2003; Ders., Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Stuttgart 2005; Ders., Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart 2011.
[5] Christian Geulen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.9.2015; Gerhard Altmann, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), S. 495; Arno Mentzel-Reuters, in: Informationsmittel (IFB). Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft, http://ifb.bsz-bw.de/bsz433757337rez-1.pdf (1.3.17).
[6] Sven Brömsel, Exzentrik und Bürgertum. Houston Stewart Chamberlain im Kreis jüdischer Intellektueller, Berlin 2015.
[7] Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 127-132. Dies gilt im Übrigen auch für die junge NSDAP, die einen überdurchschnittlichen Anteil an Studenten unter ihren Mitgliedern aufwies.
[8] Barbara Liedtke, Völkisches Denken und Verkündigung des Evangeliums. Die Rezeption Houston Stewart Chamberlains in evangelischer Theologie und Kirche während des „Dritten Reiches“, Leipzig 2013.
[9] Hildegard Châtellier, Rasse und Religion bei Houston Stewart Chamberlain, in: Stefanie von Schnurbein/ Justus H. Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 184-207; Thomas Gräfe, Der falsche Gott (Theodor Fritsch, 1916), in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd.6, Berlin 2013, S. 193-196.
[10] Für den Nachweis von Wissenschaftlichkeit genügen Bermbach allein schon lobende Worte von etablierten Akademikern über Chamberlain. Tatsächlich rezipierte Chamberlain die zeitgenössischen Forschungsergebnisse von Anthropologie, Biologie und Theologie extrem eklektizistisch, verzerrt und tendenziös. Überraschenderweise gab er theologische Sachverhalte noch angemessener wieder als naturwissenschaftliche. Außerdem weisen seine Texte unzählige apodiktische und dezisionistische Aussagen auf, die sich dem Wissenschaftlichkeitskriterium der Falsifizierbarkeit grundsätzlich entziehen – von seinem Vitalismus, logischen Zirkelschlüssen und seiner subjektivistischen Erkenntnistheorie ganz zu schweigen. Die positive Rezeption in akademischen Kreisen ist nicht in Chamberlains Wissenschaftlichkeit, sondern in der Sprengung des Objektivitätszwangs zu suchen, die den universitären Wissenschaftlern nicht möglich war, aber ihrer radikalnationalistischen Sozialisation entgegenkam. Vgl. Peter E. Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart 1990, S. 176-228; Annegret Kiefer, Das Problem einer „jüdischen Rasse“. Eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Ideologie 1870-1930, Frankfurt a.M. 1991, S. 113-121; Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900-1935, Göttingen 2008, S. 63.
[11] Field, Evangelist, S. 447-458; Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain, S. 222-364.
[12] Massimo F. Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt a.M. 2003, S. 73f.
[13] Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlains rassentheoretische Geschichtsphilosophie, in: Werner Bergmann/ Ulrich Sieg (Hg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 139-166; Julian Köck, „Die Geschichte hat immer Recht“. Die völkische Bewegung im Spiegel ihrer Geschichtsbilder, Frankfurt a.M. 2015.
[14] Thomas Gräfe, Der Hegemonieverlust des Liberalismus. Die „Judenfrage“ im Spiegel der Intellektuellenbefragungen 1885-1912, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 25 (2016), S. 73-100.
[15] In den Werken der NS-Rassenforscher wird Chamberlain zwar häufig zitiert, seine Rassentheorie wird allerdings wegen ihrer allzu offenkundigen Unwissenschaftlichkeit nie übernommen. Die stark theologisch ausgerichtete Judentumsforschung orientierte sich hingegen sehr eng an Chamberlain, nicht zuletzt weil sie unter der Aufsicht des selbsterklärten Chamberlain-Nachfolgers Alfred Rosenberg stand. Vgl. Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011; Ruben Philipp Wickenhäuser, Rassenforschung, Rassenkunde, Rassenideologie. Eine wissenschaftshistorische Betrachtung der physischen Anthropologie zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit, Norderstedt 2015.
[16] Junge Freiheit 16.10.2015.