Ein „unappetitliches Phänomen“ oder eine erbärmliche antisemitische Katharsis?
Der Mann ist gerade 200 Jahre alt geworden. Mit seinem Namen verbinden wir eine Lichtgestalt der großen deutschen Komponisten. Mit seinem Schatten einen Heizer des Holocaust. Richard Wagner, von den einen gefeiert, von den anderen als rassischer Antisemit bezeichnet. Der Autor Dieter David Scholz nimmt mit seinem Buch „Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht – Eine Korrektur“ dieser Sichtweise vor.
Scholz entlastet Seite für Seite Richard Wagner und sein Werk von der Verantwortung für Hitlers Ideologie. Zum Schluss steht Wagner zur Mittagszeit am Äquator, denn der antisemitische Schatten ist kaum noch sichtbar.
Scholz gibt sich selbst seriös, spricht gleichzeitig den Rezipienten der Wagnerforschung, die Wagner mit in der Verantwortung für Hitlers Ideologie sehen, ihre Kompetenz ab. Dies geht bis zur Unterstellung von „infamer Moral“. Scholz pocht auf Verifizierung, führt Wagners Abstammung, die Rezeption, die Konzeption, die Musikfiguren, die christliche Haltung und als Belastungszeugnis Cosima, Wagners Frau, an. Doch bei all dem bleibt die eigene Beweiskette substanziell trüb. Statt logische Argumente vorzubringen, wird viel zu oft in Aussagen hinein spekuliert.
Die Femme Fatale
Cosima wird zur Projektionsfigur für Wagners Antisemitismus. Hier wirkt sie, die Erbsünde, herbeigeführt durch Eva alias Cosima. Diese Femme fatale, die Wagner ihren Antisemitismus „einimpft“, die diesen beeinflussbaren Wagner mit ihrem Antijudaismus in das antisemitische Unglück stürzt. Scholz spricht von einer krankhaften Erhöhung Wagners ins Religiöse durch Cosima. Er zieht sogar die Möglichkeit in Betracht, dass es ohne diese antisemitische Femme fatale keine antisemitischen Hetzschriften seitens Wagner gegeben hätte. Mag sein, verifizierbar ist diese Aussage jedoch nicht. Es handelt sich um eine gesteuerte Spekulation, die zudem nicht berücksichtigt, dass Wagner seine antisemitische Schrift „das Judenthum in der Musik“ bereits 1850, das heißt vor seiner Beziehung mit Cosima, veröffentlicht hat.
Kapitalismus und Judenfrage
Scholz spricht in Bezug auf die antisemitische Hetzschrift von einem „fauxpas“. Ein nicht beabsichtigter Fehltritt? Der dann 1869 in noch schärferer Semantik gespickt mit dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung neu aufgelegt wird? Die Logik der zweiten Auflage ergibt sich natürlich durch diese „Eva“ mit ihrem fundamental-christlichen Antijudaismus. Herr Scholz, bleiben SIE bitte sachlich.
Die Übernahme des Mythos einer jüdischen Weltverschwörung deutet auf einen durchaus rassischen Antisemitismus hin, den der Autor zu einer bloßen Kapitalismuskritik im Sinne von Karl Marx abmildert.
Schließlich ist Richard Wagner ein Kind seiner Zeit, das heißt das moderne kapitalistisch-industrielle Zeitalter mit der sozialen Frage führt ihn zwangsläufig zur Judenfrage. Doch insbesondere am Thema Kapital wird das antijudaistische Klischee deutlich. Scholz bemäntelt Wagners Antisemitismus, in dem er behauptet, dass Wagner nur gegen die Kommerzialisierung der Kunst ist. Aber genau und gerade in dieser Aussage wird die Judenfrage sichtbar. Der Jude als Bedrohung für die Kultur. Eine Bedrohung, die nach einer Lösung schreit. Hierin nichts Politisches zu sehen, wie Scholz es tut, ist abwegig.
Wagners Kulturpessimismus
Ebenfalls sieht Scholz Richard Wagners antijüdischen Kulturpessimismus nicht als völkisch besetzt an. Dass Wagner die jüdischen Künstler mit Aussagen wie die Juden sind „unfähig zu künstlerischer Tätigkeit und unwillkürlich abstoßend“ und der Jude kann die Kunst nur „imitieren“ in den Dreck zieht, ist für Scholz nicht beachtenswert. Stellt nicht Wagner die Juden sogar über die Bildungsphilister? Hier liegt er vor, der verifizierte Beleg, dass die Juden schließlich doch Kulturmenschen sind, oder?
Scholz macht aus Wagner schließlich einen Pazifisten und beruft sich hierbei auf den Satz „Die Gewalt kann zivilisieren, die Kultur muss dagegen aus dem Boden des Friedens sprossen“. Nur dass Wagner den Frieden erst hergestellt sieht, wenn der Jude sich assimiliert, seine Identität aufgibt und im Sinne des antisemitischen Stereotyps sich vom wuchernden Judentum befreit. Erst dann ist der Jude erlöst und Frieden hergestellt.
Die Rezeption macht aus Wagner einen rassischen Antisemiten
In der Rezeption ist dieser antisemitische Erlösungsgedanke in Wagners Werken laut Scholz nicht logisch-korrekt interpretiert worden. Richard Wagners Werk ist damit zu Unrecht als antisemitisch abgestempelt.
Für Wagnerkritiker wie Hartmut Zelinksy spiegelt sich Wagners Antisemitismus jedoch deutlich in seinen Werken wider. Wagner macht seine Musik zum ideologischen Träger des Antisemitismus. Im Parsifal wird mit der Figur Kundry der Mythos des ewigen Juden dramatisiert. Scholz spricht hier von einer „Auslegungsakrobatik“, da Kundry eine nichtjüdische Figur ist. Nach Scholz wird in der Rezeption der in Wagners Werken vorhandene Ahasvermythos einfach nur falsch gedeutet. Es ginge Wagner um „Mitleid“, „Weltschmerz“ und „Sinnlichkeit“. Der vermeintliche Erkenntnisgewinn: Richard Wagner, ein äußerst emotionaler Mensch.
Auch Scholz‘ Auslegung mutet recht akrobatisch an. Zu bejahen ist, dass Wagners Opernfiguren tatsächlich nicht jüdisch sind. Das müssen sie auch gar nicht sein, da sie ohne das Attribut „jüdisch“ eindeutig zu erkennen sind. Der geldgierige, der ewige Jude und am Ende die Erlösung. Kundry kann am Ende nur durch die Taufe und den Tod erlöst werden. Hier greift er, der Antijudaismus. Über den geldgierigen Beckmesser bis Klingsor im Parsifal. Schließlich entmannt sich Klingsor, um zur Gralsgemeinschaft dazu zu gehören. Doch trotz dieser Selbstaufgabe seiner Identität bleibt er ein Ausgestoßener. Hier schließt sich der Kreis der jüdischen Selbstverleugnung bis zur Assimilation, die der Ausgrenzung und der Endlösung nicht entgegenwirken kann.
Scholz sieht die Rezipienten in der Beeinflussung durch die Vorrezipienten. Der Zeitgeist nach 1945 hat geradezu nach einem antisemitischen Wagner gefordert. War denn nicht das Haus Bayreuth mit Hitler eng liiert und Bayreuth religiöse Wirkstätte? Selbst ein Wagnerverehrer wie Thomas Mann hat nach Scholz ein „antifaschistisches“ Gesicht aufgelegt. Historikern und Kulturkritikern wie Erich Kuby, Ludwig Marcuse und besonders im Fokus Hartmut Zelinsky und Adorno wird eine durchweg unseriöse Darstellung der Historie unterstellt. Eine eigene differenzierte Betrachtungsweise des Wagnerischen Antisemitismus spricht Scholz ihnen ab.
Hartmut Zelinskys These eines Wagnerischen Rassenantisemitismus entschärft Scholz mit der Argumentation, dass es Wagner lediglich um die christliche Ethik ging und nicht um Gobineaus Rassentheorie. In der Folge bedeutet die christliche Ethik ein Leben nach dem christlichen Glauben, der bei Wagners Kulturprotestantismus für den jüdischen Glauben keinen Raum lässt. In der Logik finden wir uns beim Antijudaismus wieder, der gekoppelt ist mit dem rassischen Antisemitismus. Die Belletristen wie Wilhelm Marr, Heinrich von Treitschke, Karl Eugen Dühring und Houston Stewart Chamberlain für die Verbreitung des rassischen Antisemitismus in die Verantwortung zu nehmen, ist richtig. Hieraus jedoch einen Freispruch für Wagners rassischen Antisemitismus abzuleiten, ist folgewidrig. Insbesondere belegen die von Scholz zur Entlastung herangezogenen Richard Wagner Zitate das Gegenteil. So äußert sich Wagner im Dezember 1878, „Persönlich habe er die besten Freunde unter den Juden gehabt, aber ihre Emanzipation und Gleichstellung, bevor wir Deutschen etwas waren, sei verderblich.“ Deutlich wird eine antijüdische Haltung, die fast ein Jahr später von Heinrich von Treitschke mit ähnlichen Worten publiziert wird. Bei Treitschke heißt es, „die Juden sind unser Unglück“, bei Wagner, die Juden führen uns ins Verderben. Bei Treitschke gehören die Juden kulturell nicht zu Deutschland, bei Wagner ebenfalls nicht, was sichtbar wird an dem Ausspruch „bevor wir Deutschen etwas waren“. Wagner spricht in der Sprache von Treitschke und Treitschke in der Sprache von Wagner. Wenn sich aber eine Parallele in der Semantik zeigt, kann ein rassischer Antisemitismus und seine Wirkungsmächtigkeit nicht geleugnet werden.
Schlussbetrachtung
Wie geht man es an, den gesamten Wagner zu erfassen und zu interpretieren? Hat Richard Wagner mit Hilfe seines musikalischen Werkes dem rassischen Antisemitismus Vorschub geleistet, ihn geradezu für das Bildungsbürgertum salonfähig gemacht? Können wir Wagner von seinem Werk trennen? Gibt es den ehrbaren antisemitischen Wagner und das antisemitisch-freie musikalische Werk? Scholz wählt mit der Zerlegung der Wagnerischen Komplexität durchaus einen guten Weg. Im Fokus stehen die biografischen Meilensteine wie die Abstammung, seine Beziehung zu seiner Frau Cosima, seine eigene religiöse Grundhaltung, die Rezeption, die Konzeption und das musikalische Werk.
Dieser biografischen Kette fehlt es jedoch an Stringenz. Die Aushebelung der Argumente der kritischen Wagnerrezipienten bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Scholz‘ Argumentation ist nicht an jeder Stelle prüfbar, sondern basiert vielfach auf Vermutungen und Spekulationen. Damit ist die Argumentationskette unstimmig und verzerrt. Scholz versucht auf abstruse Weise das antisemitische Bild von Richard Wagner fast als Spukgebilde zu enttarnen. Selbst Äußerungen wie die zu dem königlichen Hofdirigenten Hermann Levi „er als Jude habe nur zu lernen zu sterben“ werden von Scholz bagatellisiert. Seine Verifizierung bewegt sich im denkbaren Raum. So sei diese Äußerung Richard Wagners vermutlich nur eine Metapher. Und die Bayreuther Blätter mit ihrer antisemitischen Hetze? Das ist nicht Richard Wagners Werk gewesen. Nein, hier haben sich lediglich antisemitische Autoren verwirklicht und ihren Schmutz nach außen getragen.
Richard Wagner und sein Antisemitismus sind jedoch nicht von seinem Werk zu lösen. Denn das Werk des Künstlers ist ein Teil seiner Rollenidentität. Und Wagners Werk, ob theoretisch oder musikalisch, ist in die Gesellschaft hinein wirkend gewesen.
Man kann Wagners Musik mögen oder nicht mögen, man kann auch weiterhin dem einstigen antisemitischen Gral Bayreuth huldigen. Bei all dem muss einem nur klar sein, dass Richard Wagners Antisemitismus nicht nur ein „unappetitliches Phänomen“ ist, wie Scholz es uns weismachen will.
Auf der ideologisch antijüdischen Wagner-Hitler-Brücke bleibt für Scholz am Ende ein alternder, gütlicher Pazifist Namens Richard Wagner zurück. Was für eine erbärmliche antisemitische Katharsis Herr Scholz.
Autorin: Soraya Levin
Dieter David Scholz, Wagners Antisemitismus, Jahrhundertgenie im Zwielicht – Eine Korrektur, 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt, 224 Seiten mit 1 Abb., Bibliogr. und Reg. Gebunden, WBG-Preis EUR 29,90, Buchhandelspreis EUR 39,90, ISBN 978-3-534-25802-4.