Imke Scheib: Christlicher Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Adolf Stoecker im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, Leipzig 2021.
Der Titel von Imke Scheibs Studie dürfte beim Leser sofort eine Frage aufwerfen: Warum ist von „christlichem Antisemitismus“ die Rede und nicht von Antijudaismus? Schließlich hat die Religions- und Kirchengeschichte lange Zeit das unveränderte Fortwirken des christlichen Antijudaismus in die Moderne hinein betont und gleichzeitig die Kirche vom modernen Antisemitismus freigesprochen. Auf der Grundlage der Pionierstudie Uriel Tals hat mittlerweile ein Umdenken eingesetzt. Der im 19. Jahrhundert als politische und soziale Bewegung neu formierte Antisemitismus griff ältere Mythen, Stereotype und Feinbilder in Form einer „Erfindung von Tradition“ eklektizistisch auf und verpflanzte sie in den völlig neuen historischen Kontext der kapitalistischen Industriegesellschaft. Die Kirche setzte den vormodernen Antijudaismus nicht einfach fort, sondern wurde ein Player des modernen Antisemitismus, denn viele ihrer Protagonisten schoben vermeintliche Fehlentwicklungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur den Juden in die Schuhe.[1]
Im Mittelpunkt von Imke Scheibs Studie steht der Hofprediger Adolf Stoecker, der seit 1879 als Pionier des parteipolitischen Antisemitismus auftrat. Zuvor hatte seine Christlich Soziale Partei versucht, im Windschatten des Sozialistengesetzes die Arbeiter für Thron und Altar zurückzugewinnen. Nach dem kläglichen Scheitern dieses Vorhabens, versuchte Stoecker mit dem Antisemitismus nun kleinbürgerliche Wählerschichten anzusprechen. Scheib zeigt allerdings, dass es dem Hofprediger um mehr als politische Taktik ging. Stockers Antisemitismus stand in enger Verbindung zu seiner Behandlung der „sozialen Frage“. Durch die Gleichsetzung von modernem Judentum und Manchesterkapitalismus schob er die Verwerfungen der Hochindustrialisierung den Juden in die Schuhe. Dagegen setzte Stoecker eine sozialkonservative Synthese von autoritärem Sozialstaat und Rechristianisierung. (S. 50-80) Zur Durchsetzung seiner Ziele scheute er nicht davor zurück, in der „Berliner Bewegung“ mit noch radikaleren Antisemiten zusammenzuarbeiten.
Kaiser, Regierung und Kirchenleitung ließen Stoecker trotz zahlreicher Skandale bis 1890 gewähren, weil sie in ihm einen Bundesgenossen beim konservativen Umbau des Kaiserreichs sahen. Kritik erntete er hingegen von liberalen Zeitungen, Politikern und Theologen, Vertretern der Judenmission, Rabbinern, jüdischen Intellektuellen, aber auch von einfachen Bürgern. Interessanterweise standen die modernen und säkularen Aspekte von Stoeckers Antisemitismus selten so im Mittelpunkt wie in der Debatte des preußischen Abgeordnetenhauses über die Anitsemitenpetition im November 1880. Anstoß nahm man eher am Kirchenmann als am Politiker. Das war sicherlich taktisch motiviert, denn Stoecker zog sein Prestige aus dem Hofpredigeramt, das seine Kritiker immer wieder als unvereinbar mit Parteipolitik darstellten. Zu berücksichtigen ist aber auch der Erfahrungshorizont der Zeitgenossen. Man beurteilte Stoecker vor dem Hintergrund spätmittelalterlicher Judenpogrome, des Dreißigjährigen Kriegs und des Kulturkampfs. Religiöse Intoleranz wurde als verwerflicher und folgenreicher eingeschätzt als Rassenhass oder Sozialneid. Konflikte zwischen Christen und Juden verortete man auf derselben Ebene wie Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken. Damit belasteten die Anti-Antisemiten den „Judenfrage“-Diskurs um ein Missverständnis, das erst während der zweiten Antisemitismuswelle in den 1890er Jahren zurückgedrängt wurde. Stoecker koppelte seinen Antisemitismus zwar an den konservativen Protestantismus von orthodoxen Lutheranern und Pietisten, begründete seine Angriffe aber nicht theologisch. Antijudaist in vormoderner Tradition war Stoecker nur in seinen Predigten. Der Antijudaismus sorgte allerdings dafür, dass viele protestantische Gegner des Antisemitismus mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen hatten, denn auch sie gingen von einer Superiorität des Christentums aus und forderten von den Juden die Taufe oder zumindest die Assimilation. Bezeichnend ist hier die Haltung der Judenmission, die zuerst mit Stoecker sympathisierte, sich aber von ihm abwandte als die antisemitische Bewegung in den 1890er Jahren ins Völkische abdriftete und dadurch die Taufe als „Lösung der Judenfrage“ delegitimierte. (S. 287-331) Auch wenn die Haltung der Anti-Antisemiten nicht immer konsistent war, gelang es ihnen, mit Berichterstattung und Prozessen Stoeckers Image anzukratzen, was zu seiner Abberufung als Hofprediger beitrug. Zugleich wurde Stoecker durch den Rassenantisemitismus, der auf religiöse Dogmen keine Rücksicht mehr nahm, von rechts überholt.
Durch die Behandlung sowohl des Antisemitismus als auch des Anti-Antisemitismus gelingt es Imke Scheib, die Handlungsspielräume von Stoecker und seinen Gegnern sichtbar zu machen. Zu kritisieren bleibt, dass sich die Autorin allein auf die Verhältnisse in Berlin konzentriert, wodurch ihr die Verlagerung der Christlich Sozialen Partei in die Provinz entgeht. Im Siegerland und in Minden-Ravensberg fand Stoecker eben jene Verhältnisse vor, die er in der Reichshauptstadt nicht herstellen konnte: Beide Regionen waren durch Bergbau und Zigarrenindustrie früh ins Industriezeitalter eingetreten, so dass die „soziale Frage“ hier ebenso drängend war wie in Berlin. Zugleich verfügten sie aber über eine ländlich und pietistisch geprägte Bevölkerung, mit deren Erschließung sich Liberalismus und Sozialdemokratie schwer taten. Hier konnte Stoecker seine christlich-deutsche Gesellschaftsutopie doch noch im Kleinformat verwirklichen.[2] Mit der Abspaltung des Christlich-Sozialen Volksdiensts von der zur NSDAP-Helferin degenerierten Hugenberg-DNVP erlebte Stoeckers dritter Weg zwischen Konservativen und Rassisten sogar noch einmal eine kurze Renaissance in der Weimarer Republik.[3] Insofern wäre die Niedergangsthese zu überdenken. Auch in einem anderen Bereich urteilt Scheib vorschnell. Wenn man an die Befunde von Ekkehard und Wolfgang Stegemann über Judenfeindlichkeit in Exegese, Dogmatik und kirchlichen Erklärungen nach 1945 denkt, ist die Feststellung, dass es den Antijudaismus im kirchlichen Kontext heute nicht mehr gäbe (S. 393f.), eher Wunsch als Wirklichkeit.[4] Allerdings sind Stoecker und andere konservative Christen des 19. und 20. Jahrhunderts – und hier hat Scheib wieder Recht – nicht in dieser Schublade zu verorten, sondern waren integraler Bestanteil des modernen Antisemitismus.
Autor: Thomas Gräfe
Anmerkungen
[1] Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870-1914, Ithaca 1974. Für beide Konfessionen mit ähnlichen Befunden: Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen (2.Aufl.) 1999; Wolfgang E. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Köln 2000.
[2] Helmut Busch, Die Stoeckerbewegung im Siegerland. Ein Beitrag zur Geschichte der christlich- sozialen Partei, Marburg 1964; Frank Nipkau, Traditionen der Erweckungsbewegung in der Parteipolitik? Die Christlich-Konservativen und die Christlich-Soziale Partei in Minden-Ravensberg 1878-1914, in: Josef Mooser u.a. (Hg.), Frommes Volk und Patrioten. Erweckungsbewegung und soziale Frage im östlichen Westfalen 1800 bis 1900, Bielefeld 1989, S. 368-390.
[3] Günther Opitz, Der Christlich-Soziale Volksdienst. Versuch einer protestantischen Partei in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1969.
[4] Ekkehard W. Stegemann/ Wolfgang Stegemann (Hg.), Vom Anti-Judaismus zum Anti-Israelismus. Der Wandel der Judenfeindschaft in theologisch-kirchlichen Diskursen, Stuttgart 2021.