Harry Oelke/ Wolfgang Kraus u.a. (Hg.), Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, 2016.
Dorothea Wendenbourg/ Andreas Stegmann/ Martin Ohst (Hg.), Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten, 2017.
Ulrich A. Wien (Hg.), Judentum und Antisemitismus in Europa, 2017.
Reformationsjubiläum und Lutherjahr 2017 haben den Anlass geboten, auch die Schattenseiten der Reformation und Martin Luthers in Form der Judenfeindlichkeit erneut in den Fokus der fachwissenschaftlichen Öffentlichkeit zu rücken. Als Ertrag liegen drei Sammelbände vor, die Beiträge von zwei Tagungen und einer Ringvorlesung zusammenfassen. Gemeinsam ist allen drei Bänden der rezeptionsgeschichtliche Ansatz, der sich weniger Luthers „Judenschriften“ selbst widmet als ihrer Langzeitwirkungen in Kirche, konfessionellen Milieus und Gesellschaft.
Der von Harry Oelke und Wolfgang Kraus herausgegebene Sammelband vereint die Referate einer Tagung vom Oktober 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Rezeption von Luthers „Judenschriften“ in den letzten beiden Jahrhunderten. Deutliche Rezeptionsspuren finden Gury Schneider-Ludorff und Oliver Arnhold in völkisch-theologischen Reformbewegungen in der Weimarer Republik sowie bei den Deutschen Christen im Dritten Reich. Neuauflagen der Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“, beispielsweise vom thüringischen Landesbischof Martin Sasse, wurden unverblümt zur Legitimierung der Judenpolitik der Nationalsozialisten eingesetzt. Die Inhalte dieses Werks – vielleicht mit Ausnahme der Diskriminierungs- und Vertreibungsforderungen – wurden von den Völkischen und Nationalsozialisten aber kaum zur Kenntnis genommen. Die Mischung aus Exegese und mittelalterlichen Mythen passte nicht zu ihren Rassentheorien und leistete keinen Beitrag zur angestrebten Germanisierung des Christentums. Entscheidend war allein, dass man mit Martin Luther einen berühmten Gewährsmann für sich in Anspruch nahm.
In Theologie und Kirche fiel die Rezeption von Luthers Judenfeindlichkeit überraschend dürftig aus. Volker Leppin und Anselm Schubert weisen an Hand der Gesamtausgaben und Lutherbiografien nach, dass Luthers „Judenschriften“ im 19. Jahrhundert allgemein bekannt waren. Zur Agitation wurden sie aber auch nach dem Aufkommen organisierter antisemitischer Bewegungen, an denen sich protestantische Geistliche und Theologiestudenten in erheblichem Maße beteiligten, nur vereinzelt eingesetzt. Leider werden die entsprechenden Fälle, wie der Neustettiner Synagogenbrand 1881, gar nicht näher diskutiert, so dass zuweilen der falsche Eindruck entsteht, erst die Nationalsozialisten hätten Luthers Judenhass für ihre Propaganda wiederentdeckt. Überzeugender wird die eng begrenzte Rezeption im theologischen Feld nachvollzogen. Martin Friedrich und Hanns Christof Brennecke zufolge zählten nicht einmal das konfessionelle Luthertum und die Erweckungsbewegung die „Judenschriften“ zu den kanonisierten Werken des Reformators. Ihre theologische Relevanz wurde als gering eingeschätzt und ihre Hasstiraden als störend für die Judenmission empfunden. Das Desinteresse blockierte zwar die Breitenwirkung von Luthers Judenfeindlichkeit, zugleich aber auch die kritische Auseinandersetzung mit diesem Erbe vor 1945. Selbst die Bekennende Kirche wandte sich, laut Siegfried Hermle, weniger gegen Luthers Antijudaismus als gegen dessen rassenantisemitischen Missbrauch durch die Deutschen Christen. Christian Wiese stellt fest, dass nicht einmal die Lutherrezeption im Judentum ein Korrektiv bot. Diese sei in den USA viel kritischer ausgefallen als in Deutschland, wo die Juden unter einem größeren Assimilationsdruck standen und sich stärker an der protestantischen Leitkultur orientierten. Etwas aus dem Blick gerät dabei, dass sich Martin Luther auch gegen den Antisemitismus instrumentalisieren ließ, indem man seine frühen Schriften als maßgeblich darstellte und die judenfeindlichen Spätschriften als Verirrung abtat. Diese Strategie ist zum Beispiel bei Reinhold Lewin zu erkennen, der 1911 die erste wissenschaftliche Abhandlung über Luthers „Judenschriften“ vorlegte. Der Rückzug auf den frühen Luther diente nach 1945 weniger der Verteidigung der Juden als dem Ausweichen einer kritischen Auseinandersetzung mit Antijudaismus und Antisemitismus in Dogmatik und Kirchengeschichte, wie die Beiträge von Harry Oelke, Reiner Anselm und Wolfgang Kraus zeigen. Die Gastkommentare von Bernd Hamm und Johannes Heil ziehen das ebenso überraschende wie bezeichnende Fazit, dass Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert bei kirchenfernen Antisemiten viel mehr Resonanz fanden als im kirchlichen Raum.
Der Sammelband „Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus“ bündelt die Beiträge einer international besetzten kirchengeschichtlichen Tagung in Berlin zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im 16. sowie im 19. und frühen 20. Jahrhundert vom Oktober 2015. Dieser Band greift zeitlich, thematisch und regional deutlich weiter aus. Schon die Referate zur Frühen Neuzeit widmen sich nur indirekt der Lutherrezeption, sondern eher der Wahrnehmung des zeitgenössischen Judentums durch Altgläubige, Reformation und Humanismus. Hans-Martin Kirn und Manfred Schulze verweisen an Hand des Verhaltens der Päpste und der Schriften des Theologen Johannes Eck auf die lange Tradition katholischer Judenpolemik, die mit dem Vorwurf des „Judaisierens“ auch auf reformatorische Bewegungen ausgeweitet werden konnte. Humanismus und Reformation revidierten das altgläubige Judenbild aber nur marginal. Die Beiträge von Thomas Kaufmann, Christoph Strohm und Daniele Garrone zeigen, dass eine Aufwertung des Alten Testaments wie bei Reuchlin, Bucer oder Calvin nicht automatisch zu mehr Toleranz gegenüber den zeitgenössischen Juden führte. Hier erkennt man deutlich den Widerspruch zu den Thesen Heiko A. Obermans, der der schweizerisch-oberdeutschen Reformation in der „Judenfrage“ ein besseres Zeugnis ausstellte als den Lutheranern.[1]
Entsprach Luthers Antijudaismus, abgesehen von der aktionistischen „scharfen Barmherzigkeit“, im 16. und 17. Jahrhundert noch dem Mainstream, so ging er mit den geistesgeschichtlichen und theologischen Strömungen der Neuzeit nicht mehr konform. Mit Assimilation und Emanzipation verschwand die Judenfeindlichkeit nicht, aber ihr Kontext und ihre weltanschaulichen Begründungen hatten sich fundamental gewandelt. Entweder säkularisierte sie sich (wie in Aufklärung und Frühnationalismus) oder wandte sich einer außerkirchlichen Religiosität zu (wie in Romantik und völkischer Bewegung). Ob es eine als Frühantisemitismus zu bezeichnende Übergangsphase gab, kann der Sammelband nicht beantworten, da das 17. und 18. Jahrhundert, mit Ausnahme einiger Verweise auf Johann Andreas Eisenmenger, ausgespart bleiben. Detailliert wird hingegen die Ausdifferenzierung der Haltung des deutschen Protestantismus gegenüber Judentum und Antisemitismus in den Beiträgen von Albrecht Beutel, Simon Gerber, Martin Friedrich, Andreas Stegmann, Martin Ohst, Notger Slenczka, Christian Nottmeier (zum 19. Jahrhundert) sowie Arnulf von Scheliha und Johannes Wallmann (zur Weimarer Republik) verfolgt.
Die durchaus widersprüchlichen Befunde werden in einer dritten Einheit im internationalen Vergleich beleuchtet. Die Verhältnisse in den lutherischen Ländern Skandinaviens werden ebenso in den Blick genommen wie Länder mit nichtprotestantischer Mehrheitsgesellschaft (Frankreich, Österreich, Russland). Diese doppelte Kontrastierung widerlegt eine angebliche Prädisposition des lutherischen Bekenntnisses für den Antisemitismus. Martin Schwarz Lausten, Vidar Leif Haanes und Risto Saarinen erkennen in Skandinavien nur eine schwache Verbindung von Luthertum und Antisemitismus, während sich mehrheitlich katholische oder orthodoxe Länder alles andere als resistent gegenüber dem modernen Antisemitismus zeigten. Im Frankreich der Dritten Republik waren die Protestanten sogar denselben Anfeindungen ausgesetzt wie die Juden. Die politisch-gesellschaftlichen Faktoren vor Ort waren offenbar entscheidender als die Konfession.
Der Sammelband leidet etwas darunter, dass er überwiegend von Theologen und Kirchenhistorikern bestückt wird, die wenig Erfahrung aus der Antisemitismusforschung mitbringen. So erklärt sich wohl auch Tobias Grills schlichtweg falsche Einordnung der Erscheinungsformen des russischen Antisemitismus in die soziologische Klassifizierung Gavin Langmuirs in einem ansonsten hervorragenden Beitrag. In einige Abhandlungen hat sich eine unnötige apologetische Tendenz eingeschlichen, die für die Kirchengeschichte beider Konfessionen beim Thema Antisemitismus immer noch üblich ist. Dorothea Wendenbourg kommt auf der Grundlage einer umfassenden Untersuchung von Lutherbiografien und Florilegien zu dem Schluss, dass vielen Gläubigen Luthers Haltung zu den Juden gar nicht oder nur oberflächlich bekannt gewesen sei. Der zuvor diskutierte Sammelband widerlegt diese Einschätzung. Martin Ohst spricht Adolf Stoecker und Reinhold Seeberg vom Rassenantisemitismus frei, der eine Domäne des Kulturprotestantismus gewesen sei. Darauf scheint der Beitrag von Christian Nottmeier direkt zu antworten, indem er den Antisemitismus ausschließlich im konservativen Luthertum verortet und die führenden Intellektuellen des Kulturprotestantismus zu Kämpfern gegen den Antisemitismus stilisiert. Dabei gehen die Ambivalenzen im Werk Friedrich Naumanns und Adolf Harnacks leider unter. Die Abgrenzung von christlichem Antijudaismus und modernem (Rassen-)Antisemitismus orientiert sich in vielen Beiträgen zu naiv an der apologetisch motivierten Wahrnehmung der Zeitgenossen. Mit wenigen Ausnahmen (Astrid Schweighofer für Österreich) versäumt es der Sammelband, auf Mischformen hinzuweisen.
Der von Ulrich A. Wien herausgegebene Sammelband „Judentum und Antisemitismus in Europa“ beinhaltet die Beiträge einer Ringvorlesung an der Universität Koblenz-Landau vom Sommersemester 2016. Im hier diskutierten Kontext sind vor allem jene Referate interessant, die den vergleichenden Blick auf judenfeindliche Traditionen im Katholizismus eröffnen. Die Beiträge über die Kirchenväter Chrysostomus und Augustins, den katholischen Humanismus und Kaiser Karl V. offenbaren eine ambivalente Wahrnehmung des Judentums, die zwischen einem strukturellen Antijudaismus und der Faszination für das Volk des Alten Bundes schwankte. Vertreibungs- und Vernichtungsfantasien, wie es sie im monastischen Klerus durchaus gab, standen aber auch pragmatische wirtschaftspolitische Erwägungen entgegen.
Im Unterschied zum Sammelband „Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus“ werden konfessionelle Unterschiede in der Neuzeit eher betont als relativiert. Sogar noch der moderne Antisemitismus des 19. Jahrhunderts habe klar auszumachende konfessionelle Profile entfaltet. Laut Thomas Brechenmacher reklamierte die katholische Kirche traditionsgemäß eine doppelte Schutzherrschaft für sich, mit der sie die Christen vor der falschen Lehre der Juden und die Juden vor gewaltsamen Ausschreitungen der Christen zu schützen beabsichtigte. Mit der Judenemanzipation wurde dieses Konzept hinfällig, aber bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil leidenschaftlich verteidigt. Das Profil des katholischen Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert sei nicht biologistisch-rassistisch gewesen, aber alle anderen Vorurteile gegenüber Juden seien als legitim betrachtet worden. Diese Charakterisierung orientiert sich zu stark an der zentralistischen Perspektive des Vatikans. In der Praxis war der katholische Antisemitismus eher an die politischen Verhältnisse in den einzelnen europäischen Ländern angepasst. In der Diaspora diente er der Integration des Milieus und seiner Abschirmung gegen die Moderne. In mehrheitlich katholischen Ländern fusionierte der katholische Antisemitismus dagegen viel stärker mit dem Nationalismus, weshalb hier auch schon sehr früh die Grenze zum vermeintlich verbotenen Rassenantisemitismus verwischt wurde. In den 1920er Jahren ist diese Grenze auch in Deutschland endgültig gefallen. Wie ließe sich ansonsten das katholische Profil der frühen NSDAP erklären? Immerhin distanziert sich Brechenmacher deutlich von der Immunitätsthese der kirchennahen Kommission für Zeitgeschichte.
Anstatt den Vortragsstil beizubehalten, hätte man mit einem sorgfältigeren Lektorat einige Schwächen des Sammelbandes vermeiden und die doch sehr unterschiedliche Qualität der Aufsätze angleichen können. Äußerst irreführend ist der Titel „Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur“, denn in dem betreffenden Beitrag geht es nicht um jüdische Schriftsteller, sondern um das Judenbild in den Werken nichtjüdischer Literaten. Vorlesungen konzentrieren sich aus didaktischen Gründen oft auf „klassische“ Quellen und diskutieren nur selten Forschungsstände, weshalb der vorgebildete Leser manchen Beiträgen kaum neue Erkenntnisse abgewinnen kann. Erfreulich hebt sich hier Gangolf Hübinger ab, der u.a. die wenig beachtete Intellektuellenbefragung Bruno Willes von 1920 bespricht.
In der Kirchengeschichte war es jahrzehntelang üblich, ausschließlich über den angeblich bis in die Moderne hinein mentalitätsprägenden Antijudaismus zu forschen. Andere Motive für judenfeindliche Einstellungen, wie sie Uriel Tal schon in den 1960er Jahren in Protestantismus und Katholizismus aufdeckte[2], wurden kaum zur Kenntnis genommen. In allen drei Sammelbänden spiegelt sich nun erstmals ein neuer Forschungskonsens zum Themenbereich Antisemitismus und Konfession, der von ausgreifenden Kontinuitätsthesen Abstand nimmt. Christlich-konservative Milieus wurden im 19. Jahrhundert zu einer Hauptträgerschicht des modernen Antisemitismus. Dies lässt sich aber nicht mit dem Überhang des christlichen Antijudaismus erklären. Konservative Christen beider Konfessionen suchten die kritische Auseinandersetzung mit verhassten Modernisierungsprozessen, die sie auf das Judentum projizierten. Somit war der christlich-konservative Antisemitismus selbst „modern“ und nicht auf vormoderne Traditionsbestände – wie beispielsweise Martin Luthers „Judenschriften“ – angewiesen. Mit dieser Erkenntnis heben sich die vorliegenden Sammelbände wohltuend vom Reformationsjubiläums-Feuilleton ab, wo nicht selten eine direkte Linie von Luther zu Hitler gezogen wird. Zur Apologie des Luthertums – wie sie einige zum Teil einander widersprechende Beiträge des Bandes „Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus“ anstimmen – gibt es aus der Perspektive der Antisemitismusforschung aber keine Berechtigung.
Autor: Thomas Gräfe
Literatur
Harry Oelke/ Wolfgang Kraus u.a. (Hg.), Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016.
Dorothea Wendenbourg/ Andreas Stegmann/ Martin Ohst (Hg.), Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten, Tübingen: Mohr 2017.
Ulrich A. Wien (Hg.), Judentum und Antisemitismus in Europa, Tübingen: Mohr 2017.
Anmerkungen
[1]Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1983.
[2]Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870-1914, Ithaca 1974.