Der Holocaust und die Geschichte des BND aus Täterperspektive in einem Roman von Chris Kraus
Mit seinem grandiosen, tragikomischen Film „Die Blumen von gestern“ ließ Chris Kraus die traumatisierte Enkelgeneration von Tätern und Opfern des Holocaust, noch dazu in einer Liebesgeschichte, aufeinanderstoßen. Der Film polarisierte und wurde von den herrschenden Feuilletons als gescheitert verrissen. Ähnliche Kritik erntete Kraus mit seinem in Grundzügen von der eigenen Familiengeschichte inspirierten 1200-Seiten-Roman „Das kalte Blut“. Wie der Film behandelt auch dieser beeindruckende Roman die grausame Vergangenheit und ihr Nachwirken bis in die Gegenwart.
Der Plot setzt 1974 in einem Münchener Krankenhaus ein, wo Konstantin Solm, kurz Koja, mit einer Kugel im Kopf das Zimmer mit dem pazifistischen Hippie Basti teilt, dessen Kopf über ein implantiertes Ventil vom Druck überschüssiger Flüssigkeit reguliert werden muss.
Koja erzählt dem Bettnachbarn seine bizarr verwirrende Geschichte, die sich durch das mörderische 20. Jahrhundert zieht. 1909 wurde er als zweiter Sohn einer baltendeutschen Familie in Riga geboren. Die Familie Solm, infiziert vom lettisch gefärbten Antisemitismus, war zuerst Opfer der Bolschewiki geworden, was sie für die Werbung lettischer und deutscher Faschisten empfänglich machte. Während Koja sich auf den Spuren des Vaters und Malers zur Kunst hingezogen fühlte, interessierte sich der fünf Jahre ältere Bruder Hubert (Hub) früh für die autoritäre Struktur des NS-Regimes. Die Adoption der elternlos gewordenen Ev durch die Familie Solm geschah in Unkenntnis ihrer jüdischen Herkunft, von der Hub und Koja erst später erfuhren und sie fortan aus Liebe vor dem Rassenwahn der Nazis beschützten. Auf Vermittlung seines Bruders wurde Koja ebenfalls Angehöriger der SS und Mitglied der Einsatzgruppe A, die wesentlich für die Judenvernichtung im baltischen Raum verantwortlich war. Mit seinem künstlerischen Talent fälschte Koja für Ev Ariernachweise und ließ sich immer stärker in die NS-Verbrechen verwickeln, um andererseits Ev schützen zu können. Zum Beweis seiner Loyalität ließ er sich „nötigen“, an einer Erschießung teilzunehmen. Beide Brüder waren somit Täter, der eine aus Überzeugung, der andere eher im Bemühen, seine jüdische Adoptivschwester und Liebe zu retten. Ähnlich wie bei Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ (2006), evoziert der Kraus-Roman gegen den inneren Widerspruch der Leser eine Nähe zu dem durchaus sympathischen Protagonisten und SS-Mann Koja, die automatisch in eine schmerzhafte Selbstbefragung mündet. Wieso ist eine Nähe zu dem Täter spürbar, und hätte man selber zum Täter werden können? Eine äußerst produktive Frage, nicht zuletzt angesichts einer zu beobachtbaren neuen Faschisierung von Bevölkerungskreisen nicht nur im Kontext der „Flüchtlingskrise“. Merkwürdigerweise wurde Littells wichtiger Roman damals als Zumutung verrissen, einzig Klaus Theweleit hatte eine begeisterte Rezension verfasst. Doch heute führen Kritiker ausgerechnet Littells Werk als positives Gegenstück zu Chris Krausʼ Roman ins Feld, dem ein Misslingen auf ganzer Linie attestiert wird. Beide Romane lassen sich jedoch kaum wirklich miteinander vergleichen. Kraus erspart dem Leser im Gegensatz zu Littell die langen und qualvollen Berichte von den Massenerschießungen. Dennoch haben beide Werke eines gemeinsam: Sie durchbrechen das Tabu, die Täter ausschließlich simplifizierend negativ oder als „Bestien“ zu beschreiben und wagen es, sich ihnen auf komplexe Weise zu nähern. Genau in diesem Wagnis liegt eine enorme Leistung beider Autoren. So klar die Verurteilung der Verbrechen ist, deren Relativierung beide Autoren keinen Vorschub leisten, so verweigern sich beide der einfachen Schwarz-Weiß-Malerei. Denn die grausame Erkenntnis zeigt, dass Täter sowohl zartbesaitete und liebende Familienmitglieder sein können, während sie im anderen Kontext als Massenmörder agieren. Kraus, dessen Großvater und Großonkel als SS-Angehörige die Vorlage für die Solm-brüder lieferten, hat die von ihm rezipierte und umfangreiche Literaturliste auf der Diogenes-Seite zugänglich gemacht. Darunter befinden sich auch Harald Welzers „Opa war kein Nazi“ und vor allem „Schervitz. Der jüdische SS-Offizier“ (2004) von Anita Kugler, die Kraus in seinem Nachwort zum Roman dankend hervorhebt. Schervitz hatte sich dem NS-Regime angedient, aber in seiner Funktion auch viele „seiner“ Juden durch Weiterbeschäftigung in der Lenta, einer Fabrik mit vielen Werkstätten in Riga, vor der Vernichtung gerettet.
Von Schervitz hat sich Kraus offenbar bei der Entwicklung der Figur Ev inspirieren lassen. Denn die jüdische und mit arischer Identität ausgestattete Adoptivschwester von Hub und Koja zeigte sich gegenüber ihren Brüdern und deren NS-Verstrickung zunehmend empört und wollte sich ausgerechnet in Auschwitz für die Gesundheit der Häftlinge engagieren.
Die Hälfte des Romans „Das kalte Blut“ behandelt die Nachkriegszeit und den von Altnazis um die Gruppe Gehlen initiierten Bundesnachrichtendienst. Kraus rekapituliert dessen Geschichte anhand nachgewiesener Pläne und Aktionen. Beide Solm-Brüder, die den Krieg überlebten, arbeiteten fortan für Gehlen. Dieser genoß die Unterstützung Adenauers ebenso wie die der USA, die gegenüber dem weiterhin zu bekämpfenden Kommunismus im Kalten Krieg in den Seilschaften der Altnazis das kleinere Übel sahen. Koja setzte seine Agententätigkeit gleich für mehrere Seiten, nämlich BND, Verfassungsschutz unter Otto John, CIA, KGB und Mossad, fort. Sein Verwirrspiel mit Identitäten und Loyalitäten führt zu einer gefährlichen Konfrontation, die ihn letztlich mit Kugel im Kopf ins Münchener Krankenhaus und an die Seite des pazifistischen Basti bringt.
Autor: Matthias Reichelt
Chris Kraus: Das kalte Blut. Roman. Diogenes, Zürich 2017, 1200 S., 32 €.