Jürgen Seidel: Blumen für den Führer, München 2010
In der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur ist keine Epoche so ausgiebig behandelt worden wie der Nationalsozialismus. Zunehmend mehr Texte beschäftigen sich dabei mit dem Alltag im Dritten Reich und der Frage, wie sich einfache Menschen verhalten haben. So auch Jürgen Seidel in seinem neuen Roman Blumen für den Führer.
Im Mittelpunkt des mit 432 Seiten recht umfangreichen Werks steht die in einem Internat lebende 15-jährige Halbwaise Reni. Wegen ihrer Schönheit („Reni … hatte ein Gesicht und eine Anmut, die jeden sofort fesselten. Die großen blauen Augen standen im richtigen Abstand zueinander, die Höhe der Wangenknochen stimmte, Schwung und Farbe ihrer Lippen, die Nase fügte sich in alles, die Zähne waren gerade gewachsen, regelmäßig, weiß, die Stirn, das Kinn … alles harmonierte.“) wird Reni auserwählt, Adolf Hitler bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936 in Berlin einen Blumenstrauß zu überreichen. Während sich Reni auf diesen großen Augenblick vorbereitet, gibt sich der Inhaber des Internats, Graf Haardt, als ihr Vater zu erkennen, der vor 16 Jahren Renis Mutter, eine Dienstmagd auf seinem Anwesen, schwängerte und anschließend im Stich ließ. Haardt holt Reni nun zu sich auf seinen Gutshof, um sie in das Berliner Nazi-Establishment einzuführen und so mit Hilfe ihrer Attraktivität Zugang zu führenden Partei-Größen zu erhalten.
In ausschweifenden Beschreibungen schildert Seidel, wie Reni der Faszination des väterlichen Reichtums und dem Prunk der Nazi-Größen in Berlin erliegt, wie aus dem Internatsmädchen Reni innerhalb kurzer Zeit die junge, angepasste Komtesse Renata wird. Ärgerlich ist nicht, dass Seidel in seinem Roman zeigt, wie eine junge Frau ihr an Albert Schweitzer ausgerichtetes humanistisches Wertesystem innerhalb kurzer Zeit zugunsten einer Unterwerfung unter die NS-Ideologie aufgibt. Auch die vielfach kitschigen Personenbeschreibungen und die vordergründigen Spannungselemente könnte man bei einem Unterhaltungsroman übersehen. Kritisiert werden muss hingegen, dass der Horizont des Romans kaum über den seiner Protagonistin hinausreicht: Weder wird ihre Entwicklung genauer erläutert, noch wird den Nebenfiguren, die sich im Gegensatz zu Reni nicht anpassen, sich dem NS-System teilweise sogar verweigern und Widerstand leisten, die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie der Hauptperson. Damit fehlt dem Roman der Punkt, von dem aus Renis Verhalten in Frage gestellt werden könnte.
Am Rande eines Empfangs mit Nazi-Größen lässt Seidel schließlich seine Protagonistin ihr bisheriges Leben wie in einem Lore-Roman resümieren: „Sie entschloss sich, allen zu verzeihen, allen, die sie kannte. Denn jeder hatte seine Gründe so zu handeln, wie er handelte.“ Dass hier ein jugendliches Opfer in seiner ideologischen Beschränktheit spricht, dürfte sich insbesondere jüngeren Lesern – das Buch richtet sich an Leser ab 12 (!) – nicht erschließen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass sie den hier formulierten Werterelativismus für bare Münze nehmen. Die aufklärerische Absicht, Trivialität sich selbst entlarven zu lassen, ist leider gescheitert.
Autor: Tomas Unglaube; Erstveröffentlichung: vorwärts.de, 23.3.2010
Jürgen Seidel: Blumen für den Führer, München: cbj 2010, 432 S., ab 12, € 16.95 (D), € 17.50 (A), sFr 30,90. ISBN 978-3-570-13874-8