Ein Gespräch von Markus Mohr und Matthias Reichelt am 25.11.2005 mit der Journalistin Gabriele von Arnim in Berlin zu ihrem 1989 im Kindler Verlag erschienenen und mittlerweile vergriffenen Buch „Das große Schweigen. Von der Schwierigkeit mit den Schatten der Vergangenheit zu leben.“
Matthias Reichelt: Was hat Sie damals motiviert, dieses Buch zu schreiben, das doch aus dem Rahmen Ihres publizistischen Werkes fällt?
Gabriele von Arnim: Ich habe 10 Jahre in New York gelebt und wurde dort immer wieder mit unserer deutschen Vergangenheit konfrontiert. Man hat mich gefragt: „Was habt ihr eigentlich gelesen, was habt ihr in der Schule gehört, was habt ihr mit euren Eltern gesprochen, welche Literatur hat sich mit dem Thema beschäftigt?“ Ich habe dann bemerkt, dass ich darauf nicht richtig antworten konnte und begann zu ahnen, dass ich in diese Verdrängung der Nachkriegszeit selber mit hineingehörte. Auch ich hatte mich gemütlich darin eingerichtet und mich nicht mit der deutschen Vergangenheit beschäftigt. Zurückgekommen aus Amerika bin ich eines Tages nach Dachau gefahren, ich hatte gar nicht gewusst, dass Dachau ein hübsches, altes bayerisches Städtchen ist und habe eine Geschichte darüber geschrieben, wie diese Stadt umgeht mit der KZ-Gedenkstätte, wie die Menschen leben damit. Und ich war wieder mitten drin in der großen Verdrängung. Offenbar war das mein Thema. Und so habe ich mich nach langem Zögern und nicht ohne Angst entschlossen, etwas darüber zu schreiben, wie wir mit der sogenannten jüngsten Geschichte eigentlich umgehen bzw. nicht umgehen. Dachau war wie ein Mikrokosmos, der für die gesamte Bundesrepublik gelten konnte. Ich wollte mehr wissen über die Verdrängungsmechanismen, wollte herausfinden‚ wie verbreitet sie gegriffen hatten und natürlich auch etwas über mich selbst herausbekommen, weshalb auch ich in dieser Verdrängung so bequem mitgelebt habe. Dolf Sternberger hat einmal von „vitaler Vergesslichkeit“ gesprochen.
Markus Mohr: Erinnern Sie sich noch an eine Anekdote, die diese Verdrängung verdeutlicht.
Gabriele von Arnim: Ich erinnere mich nur noch vage, dass ich einmal einer Frau gegenüber saß, von der ich wusste, dass sie mit Hitler befreundet gewesen war. Alle ihre Kinder hatten entweder Göring oder Hitler oder sonst eine Nazi-Größe als Paten. Ich war vielleicht 16 oder 17, und begann ganz vorsichtig Fragen zu stellen. Mir war es peinlich und ich wurde rot, während sie fröhlich erzählen konnte, wie wunderbar es gewesen wäre. Zu dieser Frau habe ich meine damalige beste Schulfreundin, eine Jüdin, mitgenommen, und ihr nicht erzählt, zu was für Leuten wir gehen würden. Sie hat mich vor ein paar Jahren noch einmal daran erinnert, wie unglaublich es gewesen sei, sie ausgerechnet zu dieser Person mitzunehmen. Das treibt mir heute noch die Schamröte ins Gesicht, weil ich denke, wie kann ich so unsensibel gewesen sein, dass ich meine jüdische Freundin in ein Haus mitnehme, in dem Hitler verkehrt hat.
Das Thema ist eben auch und immer wieder und immer noch auch ein ganz persönliches, ein familiäres Thema. Das Buch hat ja – wie ich finde – einen großen Mangel, dass ich dort nicht über meine eigene Familie geschrieben habe. Das hatte ich damals ganz bewusst ausgelassen, da meine Schwester in derselben Zeit eine Biografie über unseren Vaters schrieb. Aber vielleicht war ich ja auch feige. Als das Buch herauskam, hat meine Familie kaum reagiert. Und mein Vater erklärte mir bei einem gemeinsamen Mittagessen, wie viel er gearbeitet und wie viele Ämter er bekleidet habe in den 1950er Jahren und sagte dann wörtlich: „Mein Kind, ich hatte einfach keine Zeit, mich mit diesem Thema zu beschäftigen.“ Da saß ich sprachlos. Mir fiel nichts ein. Ich habe nichts mehr gefragt.
Meine Schwester allerdings, das sei hier doch auch noch erwähnt, hat ihm andere Töne und andere Empfindungen entlocken können. Sie hat zart und hartnäckig zugleich nachgefragt und nicht locker gelassen. Sie ist ihm näher gekommen.
R: Wir fanden den persönlichen Ton, die Selbstreflexion an ihrem Buch sehr wichtig. Es ist leicht wissenschaftlich zu schreiben, da damit eine Distanz hergestellt wird. Sie haben sich durch Ihren direkten Ton als Person mit einbezogen, was aber auch angreifbar macht. Hatten Sie von Anfang an vor, das Buch als Tagebuch zu schreiben?
Gabriele von Arnim: Ich wusste zunächst gar nicht, wie ich dieses Thema anpacken sollte. Ich wusste nur, ich will mit Menschen reden, Fragen stellen, aber ich wusste nicht, ob ich es in Kapitel einteilen sollte, ein Interviewbuch machen wollte. Auf einmal bemerkte ich, dass das Thema so überhand nahm, dass es mich von morgens bis abends beschäftigte, dass ich träumte davon, dass jeder, und wenn ich ihn nur zufällig traf, angesprochen wurde darauf. Irgendwann war klar, dass es die Form eines Tagebuchs erhalten wird. Mir selber hat es nachträglich gesehen gut getan, das Buch zu schreiben. Ich konnte offener reden, auch mit meinen jüdischen Freunden, habe viel mehr begriffen, was diese Vergangenheit eigentlich bedeutet, wie sie ganz unverblümt oder auch unterschwellig bis heute in unser Leben, in unser Fühlen eingreift. Und wie heikel es häufig immer noch ist, als Jude ausgerechnet in diesem Land zu leben. Obwohl oft gerade jüdische Freunde genervt waren von meinem ewigen Reden über die Vergangenheit und die immer bleibende Verlegenheit auch jetzt.
„Kann denn nicht irgendjemand irgendwann mal normal mit uns umgehen? Musst Du denn gleich wieder auf das Thema zu sprechen kommen?“ Dass das noch lange eine Gratwanderung bleiben wird und bei uns Nichtjuden eine Befangenheit bleibt, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Wie heißt es bei Faulkner: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“
M.: Bei der Lektüre Ihres Buches trifft man auf viele Leute, die heute immer noch aktuell sind. Zum Beispiel Jörg Friedrich, der in den 1980er Jahren löblicherweise die Kalte Amnestie publizierte und vor kurzem mit dem „Brand“ bei den Revisionisten trumpfte. Für den Fall, dass Sie heute Ihr Buch noch einmal neu auflegen: Würden Sie in solch einem Nachwort auf solche Personen, die die Seiten gewechselt haben, eingehen?
Gabriele von Arnim: Die spannende Frage für mich liegt darin, ob diese Personen zwar die Seiten gewechselt haben, aber sind sie im Kern ihrer Persönlichkeit gleich geblieben? Das kann man bei Jörg Friedrich fragen, würde aber übrigens auch für Otto Schily gelten.
R.: Könnte es nicht sein, dass bei Jörg Friedrich der Impetus auf dem Tabubruch lag, der in den 1980er Jahren noch in der Behandlung der Nazivergangenheit akademischer Berufsgruppen bestand und heute eben die Geißelung der alliierten Luftangriffe auf Deutschland als „Vernichtungskrieg“?
Gabriele von Arnim: Bei dem aktuellen „Bombenbuch“ von Friedrich musste ich an das viel geschmähte Interview mit Martin Walser im „Spiegel“ denken, in dem er sagte, wir sollten uns nicht so über die Rechtsradikalen aufregen, denn es gäbe auch einen Kostümfaschismus oder Kostümierungsfaschismus, der nur und allein dazu dienen solle, möglichst viele Menschen zu verletzen und möglichst viele Tabus zu brechen. Da ist ja eine Menge dran. Wenn es wirklich nur das wäre. Aber er hat alles, was dahinter steckt nicht mitbedacht. Er hat nur die Jungs gesehen, die mit Hakenkreuzen auf die Straße gehen. Wenn sie allein das Problem wären, müsste man vielleicht weniger Angst haben. Aber dahinter stehen die Ideologen, stehen Menschen mit Macht und Geld und Zielen.
R.: Wenn Sie die Zeit seit Erscheinen des Buches Revue passieren lassen. Ist das Thema befriedigend abgehandelt worden, oder wurde es nur berufsgruppenspezifisch als „Shoah-Business“ behandelt?
Gabriele von Arnim: Sie haben genau das Wort gesagt, das dazu passt: abgehandelt. Dabei glaube ich, dass die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Reden und dem privaten Schweigen nach wie vor besteht. Sie finden Hunderte von Büchern in den Bibliotheken und wenige Antworten in den Familien. Dort können Sie nach wie vor das Schweigen erleben, das wirkt weiter. Es ist eben auch wirklich schwierig. Wie lehre ich Erinnerung, damit sie etwas bewirkt, wie gehe ich damit um; wie können Jugendliche so lernen aus der Vergangenheit, dass es ihr Verhalten prägt? Ich glaube, dass diese Geschichte nur wirklich in einen eindringt, wenn man einmal den Versuch unternommen hat, sich auf irgendeine Weise damit zu identifizieren. Also nicht nur viel über die Zeit zu wissen, sondern sie zu erspüren. Denn aus Fakten allein lernt es sich schwer. Fakten bleiben kalt. Weil sie den Menschen nicht mit einbeziehen. Es war, hat Karl Jaspers 1946 in seinem berühmten Vortrag über die Schuldfrage gesagt, es war die „Phantasielosigkeit des Herzens“, die die Menschen schweigen ließ, wenn ihre Nachbarn schikaniert, gedemütigt und schließlich deportiert wurden. Und es ist genau diese „Phantasielosigkeit des Herzens“, die uns auch heute daran hindert, nicht nur floskelhaft, sondern wirklich aus der Geschichte zu lernen.
R.: Es wird ja immer wieder behauptet, dass Bildung eine Voraussetzung sei, um antisemitischen, rassistischen Tendenzen zu widerstehen. Würde dies stimmen, hätte man Schwierigkeiten zu begründen, weshalb Georg Elser sehr früh genau wusste, was kommen würde, und unwahrscheinlich mutig zur Tat schritt.
Gabriele von Arnim: Das möchte man immer so gerne, dass die humanistische Bildung das Humanum im Menschen belebt und bestimmt. Was eben einfach – leider – nicht stimmt. Was für eine Enttäuschung. Und was ist die Alternative? Vielleicht gibt es ja Menschen, die durch eine humanistische Erziehung eine Ahnung von Mitmenschlichkeit bekommen. Aber solange das alles abstrakt bleibt, hilft es meist wenig. Dann sind die anderen Komponenten, die der Mensch in seinem Wesen nun mal in sich trägt, wichtiger. Zum Beispiel die Gier nach dem Lehrstuhl des jüdischen Professors, den dieser aufgeben musste. Die Gier nach dem Redakteursposten, der Kinderarztpraxis usw. Und diese Leute waren ja nicht unbedingt die schlimmsten, aber ihr Verhalten ist ein besonderer Schock. Wie hat es Carlo Schmid einmal formuliert: „Alle Schichten des Volkes sind für das Schicksal einer Demokratie verantwortlich. Aber die Bildungsschichten sind es in besonderer Weise. Wenn diese versagen sind sie schuldiger als andere.“ Ich habe keine Antwort auf die Frage, warum Bildung nicht schützt vor dem Absturz in die Barbarei.
M.: Es werden soziale Gelegenheiten genutzt. Die Bildung ist da nur eine weitere Ressource.
Gabriele von Arnim: Man wagt ja in heutigen Zeit kaum noch, bestimmte altmodische Worte zu benutzen, die übrigens oft die schönsten Worte sind. Also, was nützt mir die Bildung, wenn wir in einer Gesellschaft ohne Herzensbildung leben. Das wäre dann ein zentraler Punkt. Wir sind, glaube ich, eine Gesellschaft ohne Herzensbildung. Wir haben Angst vor Gefühlen, was u.a. auch mit der Vergangenheit zu tun hat. Denn alle die, die damals gejubelt und gebrüllt haben, wollten später vor allem nicht mehr fühlen. Bloß nichts fühlen, hieß die Devise. Man könnte sich ja wieder irren.
R.: Hat die Mahnmalsdebatte etwas genützt?
Gabriele von Arnim: Doch, es hat schon etwas gebracht, weil damit das Thema auf der Tagesordnung blieb und bleibt. Dadurch mussten sich auch die Menschen weiterhin damit befassen, die das vielleicht gar nicht wollten. Klar ist allerdings auch, dass bei vielen der Wunsch dahinter steht, mit diesem Mahnmal nun endlich die Vergangenheit in Stein gehauen zu sehen und ruhen lassen zu können. Aber das klappt glücklicherweise nicht. Wir müssen allerdings aufpassen – auch in diesem Gespräch – nicht nur über die Vergangenheit und die Form des Erinnerns zu reden, sondern zu versuchen, den Faden zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu spannen. Barbara Distel und Wolfgang Benz, u.a. Hrsg. der Dachauer Hefte, haben einmal gesagt, es gehe ihnen nicht „um die Beschwörung der Vergangenheit als Selbstzweck, sondern um die Nutzanwendung der Erinnerung für eine demokratische und humane Gesellschaft.“ Und unsere demokratische Gesellschaft ist gefährdet. Durch den Rechtsradikalismus, der viel zu selten erwähnt und viel zu wenig bekämpft wird, weil er vielleicht allzu behaglich eingebettet ist in eine Gesellschaft, die zwar die pöbelhaften Neo-Nazis nicht mag, aber deren ausländerfeindlichen und antisemitischen Parolen in der Tendenz wohl doch eher befürwortet. Die Vergangenheitsdiskussion kann auch dazu führen „wohlfeile Betroffenheit“, wie Wolfgang Benz das einmal genannt hat, in den Menschen hervorzurufen, während man die aktuellen, die heute unangenehmen Themen eher ausklammern möchte. Ich sehe in der Denkmalsdebatte manchmal eine Ersatzdebatte.
M.: Sie haben Ihrem Buch den Titel „Das große Schweigen“ gegeben. Müsste er nicht heute eher „das große Sabbeln“ lauten? Der Bundestag hat sogar formuliert, Auschwitz ist Teil der nationalen Identität der Deutschen. Es ist ja ein Versuch, durch eine „positive“ Integration, und das trifft ja auch auf das Mahnmal zu, sich das Ganze positiv anzueignen. Es stört ja eigentlich nicht richtig. Es stört nicht aufgrund seiner Ästhetik oder des Ortes. Eben: Teil deutscher Staatsreligion
Gabriele von Arnim: Es ist interessant, dass Sie das sagen. Es herrscht heute in der Tat das große Reden oder Sabbeln, wie Sie es nennen. Das Erinnerungsvokabular ist so beliebig eingeschlossen in einem gewissen Wortrepertoire, man spult es ab, wann immer es zu passen scheint. Und fühlt nichts. Mit einem selber hat das nichts zu tun. Man kann dann mit gesetzten Worten sprechen darüber, was das kulturelle Gedächtnis bedeutet für uns Deutsche – und im nächsten Moment kann man es wieder mit Behagen vergessen, weil man seine Pflicht und Schuldigkeit getan hat. Und wendet sich behände dem Tagesgeschehen wieder zu.
M.: Ich möchte noch mal zu Ihrem Begriff der Identifizierung zurückkommen, um sich mit dem Schicksal von Ermordeten und Überlebenden auseinander zu setzen. Müssten wir nicht immer noch versuchen, die Mechanik des Massenmordes – wie hat es genau funktioniert im Alltag – herauszuarbeiten, also an Peter Weiss, „Die Ermittlung“ oder Hannah Arendt, „Die Banalität des Bösen“ anknüpfend und deswegen auch weiter in den Familien forschen und fragen: Ja, wie habt ihr das hinbekommen, diesen Massenmord?
Gabriele von Arnim: Ja, das stimmt, aber das ist die Aufgabe eurer Generation. Das hätten wir nie geschafft. Es waren ja immerhin unsere Eltern. Wir hätten viel zu viel Angst gehabt. Das wäre viel zu nahe gewesen. Das sind wichtige Fragen, die ihr stellen könnt und stellen müsst. Genauso wichtig finde ich aber, bereits vorher anzusetzen. Wir beschäftigen uns zu ausschließlich mit dem Massenmord – der letztlich unbegreifbar bleibt und so kann man schön vom Unfassbaren sprechen, davon, dass Unfassbares geschah. Ein Satz, den ich auch nicht mehr hören kann. Weil man sich dann mit dem, was fassbar wäre, gar nicht mehr auseinandersetzen muss. Dem Alltag in den 1930er Jahren. Denn vor dem Massenmord war die Massenverachtung. Es war einem egal, was nebenan geschah. Oder vielleicht haben sich viele sogar gefreut, dass jüdische Kinder endlich nicht mehr in dieselben Schulen gehen durften, wie die eigenen Kinder, wenn Juden der Besitz von Rundfunkgeräten verboten wurde, wenn am Restaurant oder auf Parkbänken stand, „Nicht für Juden“. Das interessiert mich. Was ist da geschehen, wieso haben die Leute weggeschaut und haben später behauptet: Wir haben von nichts gewusst. Wie können sie das sagen! Die Ausgrenzung und Diskriminierung haben sie alle mitbekommen, sie wussten, dass die Juden abgeholt und deportiert wurden, da sollen sie mir doch nicht erzählen, sie seien ahnungslos gewesen. Und wenn nicht alle geschwiegen hätten, wäre es vielleicht zum zweiten Schritt gar nicht gekommen, vielleicht. Deshalb möchte ich immer bei dem ersten Schritt anfangen. Und reden über die Courage im Alltag. Das richtet sich auch an einen selber. Wie reagiere ich denn heute, wenn ich mit jemanden beim Abendessen sitze, und der macht eine antisemitische Bemerkung? Setze ich mich dann offensiv mit ihm auseinander, schmeiße ich ihn aus der Wohnung? Hoffentlich tue ich das! Diese kleinen Geschichten sind wichtig. Das muss man den Jüngeren vermitteln: Man hat zusammengelebt in einem Haus und plötzlich waren die einen Juden und konnten nur noch ein sehr eingeschränktes Leben führen und alle haben es gesehen und haben nicht protestiert. Was ist denn das für ein „Zusammenleben“?
R.: In den letzten zwanzig Jahren wurde viel zum Nationalsozialismus geforscht und es gibt mittlerweile kaum noch eine Stadt, in der nicht Spuren markiert wurden, Denk- und Mahnmale stehen. In diesem Sinne ist ja viel unternommen worden. Wie beurteilen Sie das?
Gabriele von Arnim: Die lokale Aufarbeitung finde ich enorm wichtig. Wenn es ganz plastisch und anschaulich wird, und die Leute vor einem Haus stehen und dann wissen, dort oben hat die Familie Soundso gewohnt, bevor sie abgeholt wurde von der SS. Sobald das lokalisierbar ist, kommt es näher. Ich habe ein Lieblingsprojekt: Ich würde sehr gerne in jeder Schule eine Landkarte aufhängen mit einem Pünktchen für jedes Lager. Die „Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus“ in Hamburg hat die Arbeitslager, Konzentrationslager, Vernichtungslager, Lager für Kriegsgefangene oder für Zwangsarbeiter zusammengezählt und festgestellt, „dass im Jahre 1944 auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches zwischen 40.000 und 50.000 Lager bestanden.“ Auf einer solchen Landkarte würden sich die Pünktchen zum flächendeckenden Netz verdichten. Dann soll noch jemand einmal erzählen, er habe von nichts gewusst.
R.: Gerhard Schröder hat über das Holocaust-Denkmal gesagt: „Ein Denkmal, zu dem man gerne hingeht“ und hat noch eins draufgesetzt und meinte, dass die Bundeswehr im Kosovo jetzt in gutem Licht, nämlich als friedensbewahrende Kraft erschiene. Endlich eine Läuterung?! „Da wird doch gelernt aus der Geschichte!“, sage ich da als Advocatus Diaboli, oder?
Gabriele von Arnim: Ach, wir können jetzt viele Beispiele zitieren. Muss ich mich wirklich mit jedem Zitat beschäftigen? Nun gut, er war Kanzler, dann muss ich es wohl tun. Ich wollte es jetzt beiseite schieben, aber das geht natürlich nicht. Schröder war für mich ein Mann, der es nie begriffen hat. Diese Vergangenheit hat ihn auch nicht interessiert. Und womöglich ist er repräsentativ für große Teile der Bevölkerung. Ich glaube nach wie vor, dass in vielen Menschen eine große Angst sitzt, sich wirklich mit dem Thema zu beschäftigen.
M.: Immerhin hat Schröder mit seinem „gerne zum Holocaustdenkmal hingehen“-Satz noch einmal die Verhältnisse in der ganzen Brutalität nach vorne gebracht. Wer darüber anfängt nachzudenken, dem bleibt nur ein Schlucken, eine Befangenheit, vielleicht ist das gut? Eine der Stärken Ihres Buchs ist ja, dass Sie der eigenen Irritation Ausdruck geben und gerade nicht alles glätten.
Gabriele von Arnim: Tja, wir haben viele wunderbare Denkmäler und zum Glück auch noch die authentischen Orte, die Gedenkstätten. Wir müssen nämlich aufpassen, uns mit Platten, Steinen, Plaketten nicht allzu sehr zu beschwichtigen. Vor allem an Gedenktage geschieht ja zum Teil mit großer Beflissenheit Absurdes. Da gedenkt man der „bösen Zeit“ mit einer solchen Verve und mit so viel Pathos, als könne man die Vergangenheit ein für allemal weggedenken. Festlich natürlich und mit getragener, besinnlicher Musik.
Aber was wäre richtig? Wir wollen die Erinnerung nutzen für eine bessere Gegenwart – aber wie macht man das? Wie schaffen wir es, aus der Automatik der Rituale auszubrechen und wirklich wieder etwas Verstörendes zu machen? Wir wollen, dass die Beschäftigung mit der Geschichte fortdauert und nicht in der ritualisierten Weise verkommt durch ein Abspulen von leerer Rhetorik. Wenn ich schon höre: „unsere jüdischen Mitbürger“, dann könnte ich auf die Barrikaden gehen.
M.: „Meine lieben SA-Mitbürger“, das sollte man vielleicht mal als Anrede nutzen.
Gabriele von Arnim: Wir sind viel zu betulich, auch in der sogenannten Aufarbeitung der Geschichte. Das Verstörende kommt durch die Bilder, durch die Phantasie des Herzens. Da komme ich auch noch zu einem anderen Aspekt. Wir reden viel häufiger über das, was den Juden angetan worden ist und viel weniger über die Täter. Weil das nämlich noch verstörender ist. Wir reden lieber über unsere lieben jüdischen Mitbürger statt unsere lieben SA-Mitbürger zu adressieren. Bei der Beschäftigung mit den Opfern können wir weinen …
R.: … und falsche Empathie zeigen …
Gabriele von Arnim: Genau. Aber eigentlich werde ich erst dann wirklich verstört, wenn ich den nächsten Schritt mitdenke. Verdammt noch mal, das ist doch nicht alles aus dem Himmel gefallen – wie hieß es in einer Dachau-Broschüre: „Dann zogen dunkle Wolken auf.“
Der Massenmord war Menschentat. Dieser Text wird aber bei den Gedenkreden nie mitgesprochen. Fast nie.
Autoren: Matthias Reichelt und Markus Mohr