Kurzfristiges Scheitern oder langfristiger Misserfolg?
I) Vorbemerkung
Revolution 1848. Der Titel der folgenden Darstellung scheint im Widerspruch zur Mehrzahl der offiziellen Reden und Kommentare anlässlich der Festlichkeiten zum 175. Jahrestag der Revolution von 1848 und des Zusammentritts der Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt am Main und ähnlicher Veranstaltungen zu stehen. (1)
Zu den „politisch“ besonders prägnanten Redebeiträgen gehören zweifelsohne die Ansprachen des Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin beim Festakt in der Frankfurter Paulskirche anlässlich „175 Jahre Paulskirchenversammlung“ am 18. Mai 2023. (2)
Bevor auf Einzelheiten eingegangen wird, soll zunächst geklärt werden, ob das Thema „175 Jahre Revolution, Wahl der Nationalversammlung und Paulskirche“ aktuell überhaupt auf ein größeres Interesse stößt bzw. welcher Gegenwartsbezug vorhanden ist.
Auf den ersten Blick scheint nämlich das Thema außerhalb der Reden von Berufspolitikern und den Interessen von Fachverlagen, neue Veröffentlichungen oder zumindest Neuauflagen längst bekannter Darstellungen auf den Buchmarkt zu bringen, kaum jemanden zu interessieren.
Nach „Corona“, während eines andauernden Landkrieges in Europa, begleitet von Inflation und wirtschaftlichen Abstiegsängsten, ist es beinahe normal, dass Ereignisse, die ewig weit zurückliegen, die Menschen kaum berühren, vor allem, wenn weite Teile der Bevölkerung „ahistorisch“ geprägt sind.
Dies gilt nicht nur für die deutsche Gesellschaft, auch in Frankreich gibt es schon seit Jahrzehnten die Tendenz, historische Errungenschaften, wie sie die Französische Revolution hervorgebracht hat, über Bord zu werfen. (3)
Dabei waren es ja besonders Ereignisse in Frankreich (Sturm auf die Bastille 1789, Julirevolution 1830 und dann der Umsturz im Februar 1848), die auf das restliche Kontinentaleuropa, und vor allem in Deutschland, größten Einfluss hatten.
Und an dieser Stelle lohnt der Vergleich zur Situation von heute: Wie in den 1840er Jahren gibt es in weiten Teilen Europas Wirtschaftskrisen (insbesondere sorgen Inflation und Rezession für eine spürbare Verarmung der „unteren“ Schichten – eine Art Neuauflage des historischen „Pauperismus“), eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit dem politischen System im allgemeinen und mit als unfähig betrachteten Repräsentanten der politischen Klasse im Besonderen, nebst völlig ungewisser Zukunftserwartungen (Mitte des 19. Jahrhunderts betraf dies die sog. Industrielle Revolution, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts betrifft dies die „Digitalisierung“ und sog. „KI“, aber auch die unabsehbaren Folgen des „Klimawandels“).
Also zumindest auf den zweiten Blick gibt es verschiedene Ansätze, die Ereignisse von 1848/49 auch für die Gegenwart aufzuarbeiten bzw. neu zu interpretieren.
Unter diesem Gesichtspunkt können dann auch „Festtagsreden“ etc., die im Frühjahr 2023 gehalten wurden, eingeordnet werden.
Wenn z.B. Bundespräsident Steinmeier die Abgeordneten des Paulskirchenparlaments als „Wegbereiter von Einigkeit, Recht und Freiheit“ feiert, sie gleichsam zu Vorreitern des heutigen Grundgesetzes erklärt, dann muss einerseits die Frage nach der historischen Genauigkeit gestellt werden.
Dabei wird sich herausstellen, dass zu früheren Anlässen (z.B. zum 100. oder zum 150. Jahrestag von „1848“) durchaus kritischere Töne gefallen sind, wenn es um die längerfristigen Auswirkungen der damaligen Ereignisse ging.
Andererseits sollten dann auch Motive und Absichten für eine solche „Neuinterpretation“ genannt werden.
Dieser „neue“ Blickwinkel wird nämlich von Beobachtern des Zeitgeschehens auch als eine Art „erinnerungspolitische Wende“ charakterisiert:
„Je stärker die Demokratie in den vergangenen Jahren unter Druck geraten ist, desto eindringlicher sind auch die Appelle geworden, sie zu verteidigen. Ob der Angriffskrieg Russlands gegen einen europäischen Nachbarn, der Sturm aufs Kapitol in Washington oder der geplante Putsch sogenannter Reichsbürger hierzulande: In einer Zeit, in der die liberalen Demokratien des Westens immer fragiler und angreifbarer erscheinen und autoritäre Regime weltweit das ideologische Kräftemessen eröffnet haben, kündigt sich eine erinnerungspolitische Wende an, die all die hellen Kräfte ins Bewusstsein ruft, anstatt nur weiter ins Dunkel zu starren. Gerade die Erinnerung an die Aufbrüche von einst soll die demokratische Kultur von heute stärken und resilienter machen.“ (4)
Soweit ein kurzer Hinweis, warum aktuell im Jahre 2023 von (politisch) interessierter Seite eine Neuinterpretation bestimmter Ereignisse vor 175 Jahren im Sinne einer „erinnerungspolitischen Wende“ erfolgt.
Fraglich ist, ob diese Absicht verfängt: Denn nur wenn die Zuhörer solcher Reden, die Leser von Kolumnen und Essays bekannter Printmedien und sonstige Interessierte wissen, dass der 175. Jahrestag zum Anlass für eine „erinnerungspolitische Wende“ genommen wird, kann man Fehlinterpretationen oder gar Geschichtsfälschung vorbeugen.
Um im Folgenden aber Fehldeutungen und Missverständnisse zu vermeiden, soll sich die Darstellung auf zwei Schwerpunkte konzentrieren. Zunächst sollen einige grundsätzliche Fragen und Geschehensabläufe behandelt werden, um danach einen Vergleich zu früheren Jubiläen und Gedenkveranstaltungen, die die Revolution von 1848 zum Gegenstand hatten, vorzunehmen.
Im Rahmen eines Fazits sollen aktuelle verfassungs- und verfahrensrechtliche Entwicklungen dargestellt werden, die bereits vor 175 Jahren in der Frankfurter Paulskirche ihren Ausgang genommen haben.
II) Historische Aspekte unabhängig von „erinnerungspolitischen Wendungen“:
Im Folgenden können natürlich nur einige Punkte näher betrachtet werden.
1) Zum Revolutionscharakter von „1848“
Bevor auf größere Zusammenhänge hingewiesen wird, sollte zunächst kurz die Frage erlaubt sein, ob es sich bei den Vorgängen 1848/49 tatsächlich um eine „Revolution“ gehandelt hat bzw. was genau den revolutionären Charakter ausmachte: Unruhen oder Aufstände als Ausdruck von Empörung oder gar Wut auf die staatlichen Behörden bzw. Regierungen hat es in Europa ab der Neuzeit des Öfteren gegeben, ohne dass immer die Bezeichnung der „Revolution“ verwendet wird. (5)
Hannah Arendt hat in ihrem „Revolutionsbuch“ auf den Umstand hingewiesen, dass es vor den beiden großen Revolutionen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts einen „eigentlichen Revolutionsbegriff“ nicht gegeben habe. Denn dieser habe zur Voraussetzung, dass „etwas ganz und gar Neues“ geschaffen werden müsse. Dabei sei es für das Verständnis moderner Revolutionen entscheidend, dass die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs miteinander verkoppelt sein müssen. „Freiheit als ein politisches Phänomen datiert von dem Entstehen der griechischen Polis“. (6)
Geprägt durch ihre klassische Bildung, analysiert Arendt die Strukturmerkmale der antiken Stadtstaaten, die besonders zwei Prinzipien kannten: die Wohlordnung (Eunomia) und die Gleichheit im Rahmen der Gesetze (Isonomie).
Die Bürger Athens waren nur unter der Bedingung freie Bürger (zumindest als Männer, denn Frauen hatten formal, wie auch noch 1848, keine automatisch verbürgten subjektiven Rechte) als sie eine „Gemeinschaft von Gleichen“ bildeten, die sich aufgrund ihrer Ebenbürtigkeit selbst verwalteten und daher einen Zustand gewaltfreier Herrschaft anstrebten (bedeutsame Ausnahme: das Königtum in Sparta).
Nimmt man die Vorstellungen der griechischen Antike als Muster, um die Verhältnisse Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichen zu können, hatte die breite Masse der Bevölkerung zur Zeit des „Deutschen Bundes“ sinnbildlich gesprochen höchstens den Status von „Halbfreien“.
Auf den für ein objektives Politik- und Geschichtsverständnis maßgeblichen Zusammenhang, wonach „Willkür“ aus „Untertanen“ Sklaven macht, kann an dieser Stelle nur ganz vage hingewiesen werden, und berührt das Thema „Souveränität und Herrschaft“ (siehe weiter unten).
Es bedurfte daher eines – zur Not auch gewalttätigen – Eingriffs in die geschichtlichen Abläufe, um den ursprünglich herrschenden Zustand der Gleichheit wiederherzustellen bzw. Widerstand zur Überwindung von Willkür und Tyrannei aufzubauen.
Die Forderungen und das Bestreben nach politischen Versammlungen und der Schaffung von Verfassungen (Konstitutionalismus, man beachte die lateinische Wurzel), dienten daher dem Ziel der Isonomie.
So lässt sich also mit Hilfe der klassischen Definition einer „revolvierenden Bewegung“ die Grundtendenz von „1848“ durchaus als Revolution charakterisieren (dass die gesamte Bewegung schon nach etwas mehr als einem Jahr im Sande verlief, ändert nichts an der ursprünglichen Intention).
Eine andere, durchaus modernere Lesart des Begriffs „Revolution“ führt zum selben Ergebnis: Erklärt man die zahlreichen Revolutionen und Verfassungskonflikte ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (letztlich bis 1917/18) als „Ausdruck des sich mühevoll gegen Widerstände durchsetzenden Formwandels von „Staat“ und „Gesellschaft“ und der Versuche, das zwischen diesen beiden Größen vielfach entstandene „Spannungsfeld“ abzubauen.“ (7)
Somit wird das Merkmal des „Formwandels“ maßgeblich für diesen Revolutionsbegriff:
„Die überkommene ständisch geprägte Gesellschaft wurde zunehmend in eine marktorientierte und marktbestimmte Klassengesellschaft umgeformt – ein Prozess, der sich bis tief in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzog.“ (8)
Hinzukommt, dass mit diesem Ansatz die gesamteuropäische Revolutionsszene Mitte des 19. Jahrhunderts abgedeckt werden kann – wobei der Dualismus von „Staat und Gesellschaft“ natürlich in Deutschland besonders ausgeprägt gewesen ist, was teilweise bis heute fortwirkt.
Daher wird zumindest aktuell niemand mehr ernsthaft den Revolutionscharakter von „1848“ abstreiten.
2) Gründe für das Entstehen der Revolutionsursachen
Dennoch wird auch niemand ernsthaft behaupten können, die Ereignisse von 1848/49 hätten damals (oder wenigstens innerhalb der nächsten beiden Generationen) ein erfolgreiches oder wenigstens glückliches Ende genommen. Und zwar unabhängig, ob man lediglich isoliert die Geschehnisse in Deutschland oder weitergefasst im europäischen Raum betrachtet.
Zum Teil hat dies auch mit den ursprünglichen Bedingungen für das Entstehen des revolutionären Klimas zu tun.
a) Napoleon als Ausgangspunkt
Die gesamte Entwicklung in Kontinentaleuropa seit dem Wiener Kongress war von den Nachwirkungen, die durch das Napoleonische Machtstreben verursacht worden waren, geprägt. Die verschiedenen revolutionären Ausbrüche wären ohne die nach 1815/19 einsetzende Restauration nicht denkbar (der Sturz Napoleons als „conditio sine qua non“).
Einerseits waren Sturz und endgültige Verbannung Napoleons notwendig, wie die Entwicklung spätestens ab 1812 (z.B. der Angriffskrieg gegen Russland) zeigte.
Andererseits war die gesamte Epoche nach Napoleon eine „bleierne Zeit“, in der die Völker, die sich vom französischen Joch befreien konnten, vom Freiheitskampf emotionalisiert, aber politisch ziellos zurückgelassen, nichts mit sich anzufangen wussten, die wiedererstarkten Fürsten aber das Rad der Zeit am liebsten hundert Jahre zurückgedreht hätten.
„Das Doppeljahr 1848/49 markiert mit seiner Dialektik von Revolution und Reaktion einen der wichtigsten Einschnitte in das Jahrhundert zwischen Wiener Kongreß und dem Weltkriegsbeginn von 1914. Was sich damals gewaltsam entlud, war in verschiedenen Staaten Europas schon vorbereitet.“ (9)
b) Wachsende Entfremdung in Deutschland (besonders in Preußen)
Sowohl die Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Land (sofern nicht als Adlige mit dem goldenen Löffel geboren) als auch viele politisch aktive „Funktionsträger“ aus dem (groß-)städtischen Milieu waren mit der Gesamtsituation im sog. Deutschen Bund extrem unzufrieden.
Im wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertum entstand Wohlstand und technischer Fortschritt (besonders in den Städten), aber gleichzeitig führte dieser Fortschritt bzw. technische Wandel zum endgültigen Abstieg von Millionen Menschen ins Prekariat (vor allem auf dem Land).
Kamen dann noch erntebedingte Hungersnöte, wie in den 1840er Jahren gleich mehrfach der Fall, und erste makroökonomische Krisen im Frühkapitalismus hinzu, zeigten sich nicht bloße Risse, sondern die totale Überforderung des gesamten politischen Systems im Deutschen Bund.
Dabei sind die Stichworte aus dem Geschichtsunterricht, wie Wartburgfest, Hambacher Fest, „Göttinger Sieben“ nur Symptome für eine ganze Epoche der Agonie.
Natürlich stand das „System Metternich“ im Mittelpunkt der politischen Unterdrückung, doch die Ursachen für diesen Prozess lagen tiefer: Es war das Märchen vom Gottesgnadentum als der unumstößlichen Legitimationsgrundlage der Fürstenherrschaft, besonders der absolutistischen Monarchie.
Solange an diesem Punkt kein Umdenken erreicht werden konnte, blieb Deutschland ein Land der Unterdrückung, aber auf jeden Fall des Stillstands.
Dieser Stillstand wurde ja sogar verfassungspolitisch und -rechtlich zementiert, als der „Bundestag“, das höchste Organ des Deutschen Bundes, im Oktober 1831 per Beschluss festlegte, dass jede Änderung der Bundesverfassung (die sog. Bundesakte) unstatthaft sei, somit jede Möglichkeit, legal die politische Ordnung für die Masse der Bevölkerung zu öffnen, untersagt wurde.
Dies konnte auf Dauer nicht gutgehen, was im Laufe der 1830er und 40er Jahre von immer mehr Zeitgenossen wahrgenommen und kritisiert wurde:
„Es waren nicht bloß wie in den Jahren 1817 – 1819 wenige jugendliche Köpfe, die mit revolutionären Gedanken spielten, auch das ruhige, seßhafte und gebildete Bürgertum machte sich mit diesem Gedanken langsam vertraut. Selbst die Regierungen konnten sich auf Dauer der Einsicht in die Notwendigkeit einer Reform des Bundes nicht verschließen. Auf den Rat von Radowitz regte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (…) im Spätherbst 1847 bei Österreich an, die auffallendsten Gebrechen der Bundesverfassung: die ungenügende Wehrkraft, den mangelnden Rechtsschutz, die mangelnde Rechtseinheit und die unzulängliche Sorge für die materielle Wohlfahrt der Nation durch freie Vereinbarungen der Regierungen zu beheben. Aber der Versuch scheiterte; er setzte eine Interessengemeinschaft zwischen Österreich und Preußen voraus, die tatsächlich nicht vorhanden war (…). Als Friedrich Wilhelm im Februar 1848 seinen Plan wieder aufnahm, war es für eine Reform durch die Regierungen oder auch nur mit ihnen zu spät. Unter dem Eindruck der Februarrevolution von Paris und der raschen und leichten Siege über die Einzelstaaten, zumal des Zusammenbruchs des Absolutismus in Österreich und Preußen fühlte sich die deutsche Nation souverän und wagte es, die Reform ihrer Verfassung ohne, ja, gegen die Regierungen ins Werk zu setzen.“ (10)
Ähnlich war die Einschätzung eines anderen bekannten Zeitgenossen:
„Am 5. März 1846 reflektierte Jacob Burckhardt in tief pessimistischer Stimmung über die revolutionären Umwälzungen, die Europa bevorstünden. Die Unruhen in Polen, welche eine erneute nationale Erhebung gegen die Teilung des Landes unter Russland, Österreich und Preußen anzukündigen schienen, waren aus Burckhardts Sicht ein beunruhigendes Symptom kommenden Unheils. (…) Mit dem seismographischen Gespür eines hochkonservativen Denkers, der sich der alteuropäischen Welt zutiefst verbunden fühlte, antizipierte Jacob Burckhardt die großen revolutionären Erschütterungen der Jahre 1848/49. Er war besorgt, daß die politischen und sozialen Unruhen, die vielerorts in Europa aufgeflackert waren, die Anfänge einer nicht beherrschbaren Bewegung seien, die in einer sozialen Revolution kulminieren werde, welche die überkommene gesellschaftliche Ordnung in Europa von Grund auf zerstören werde. (…)
Nicht alle Zeitgenossen Burckhardts teilten dessen extrem pessimistische Sicht der Dinge; im Gegenteil, der bürgerliche Liberalismus und namentlich das aufsteigende Wirtschaftsbürgertum waren von großem Optimismus erfüllt. Das industrielle System (…) versprach nicht nur stetig steigenden Wohlstand für die bürgerlichen Schichten, sondern auf mittlere Frist auch eine schrittweise Besserung der bedrückenden sozialen Lage der Unterschichten. (…)
Aber auch die Liberalen teilten die Sorge, daß es, nachdem Europa bereits 1830 eine Welle von schweren revolutionären Erschütterungen erfahren hatte, erneut zu revolutionären Ausbrüchen kommen könnte, durch welche der ruhige Gang der geschichtlichen Entwicklung, vor allem aber der stete Fortschritt von Industrie und Gewerbe, in dramatischer Weise gestört werden würde.“ (11)
Diese existentielle Furcht der Wirtschaftsliberalen (und Altkonservativen gleichermaßen) hatte einer der bekanntesten „Revolutionsdichter“ aus dem sog. „Vormärz“, Georg Büchner, in einem Flugblatt prägnant auf den Punkt gebracht: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“.
Wenn aber bereits viele Jahre vor „1848“ solche und andere Parolen radikaler Literaten und die dadurch ausgelösten Ängste existierten, stellt sich erst recht die Frage, warum die Regierungen der deutschen Einzelstaaten nicht oder viel zu spät reagiert haben.
War es einfach nur Unfähigkeit? Diese Frage muss allen Ernstes gestellt werden, da es genügend Anhaltspunkte gibt; einige der Regenten waren ja tatsächlich schwachsinnig bzw. geistig beeinträchtigt: So der österreichische Kaiser Ferdinand, von Geburt an Epileptiker, der dann Anfang Dezember 1848 zugunsten seines sehr jungen Neffen Franz Joseph abdankte, der bekanntlich fast 70 Jahre lang die Wiener Hofburg blockierte und außer seiner Traumhochzeit mit der bayrischen Prinzessin Sisi und der Blanko-Vollmacht kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wenig Zählbares aufzuweisen hatte, oder Preußens König Friedrich Wilhelm IV., dessen Krankheit sich ab 1857 nicht mehr verbergen ließ, so dass im Folgejahr sein jüngerer Bruder die Amtsgeschäfte als Prinzregent übernahm. Andere Fürsten im Deutschen Bund waren einfach nur groteske Gestalten, wie der bayrische König Ludwig I., der im März 1848 wegen einer „pikanten“ Affäre zurücktreten musste oder der badische Großherzog Leopold. (12)
Dann gab es natürlich strukturelle Probleme bzw. Krisen, wodurch die Anfälligkeit des gesamten Systems unter Beweis gestellt wurde. Hier kann exemplarisch wieder auf Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. hingewiesen werden. Obwohl alle Staaten laut Bundesakte von 1815 verpflichtet wurden, sog. landständische Verfassungen einzuführen (ein Mix aus der alten Ständeordnung, besonders auf den hohen und niederen Adel bezogen, und Merkmalen von Berufsständen), hatten nur wenige der Klein- und Mittelstaaten eine Art von Landtagen (meist mit zwei Kammern) eingeführt, die jedoch nur wenige Kompetenzen besaßen; in Preußen war selbst das nicht gelungen.
Das Königreich Preußen war auch nach Gründung des Deutschen Bundes ein rein bürokratisch regierter halbfeudaler Ordnungs- und Obrigkeitsstaat – kaum anders als zur Zeit der absolut regierenden Monarchen des 18. Jahrhunderts. Lediglich in den frühen 1820er Jahren wurden einige „Rahmengesetze“ eingeführt, eigentlich von hohen Beamten initiiert mit dem Ziel, den Anschluss an modernere Nachbarstaaten in Süddeutschland nicht zu verlieren. Aus dieser Initiative entstand dann auch die Idee sog. Provinziallandtage, die zumindest Beratungsfunktion (oder auch Petitionsbefugnisse) hatten, aber definitiv keine Volksvertretungen waren.
Zu den wichtigsten Reformen, die nach 1815 angestoßen wurden, gehörten (wen wundert es?) die Neuordnung des Finanz- und Steuerwesens, so z.B. durch ein sog. Staatsschulden-Gesetz von 1820.
Dennoch teilten die verschiedenen Provinzial-Landtage in Preußen das Schicksal von Mauerblümchen, denn sie wurden fast nie beachtet und einberufen, da sie auch selbst keine Befugnis hatten, über ihre Sitzungen zu bestimmen (anders heute: siehe Art. 39 Grundgesetz).
Die große Ausnahme war der Regelungsbereich des o.g. Staatsschuldengesetzes, da angesichts der angespannten finanziellen Lage des preußischen Staatshaushaltes hohe Kredite aufgenommen werden sollten.
Hintergrund war eigentlich der geplante Eisenbahnbau (die sog. Ostbahn nach Königsberg), wofür sich keine privaten Investoren finden ließen, so dass erneut – ähnlich wie kurz zuvor im heutigen Saarland – der preußische Staat als „Unternehmer“ auftreten sollte. Doch war der Kapitalbedarf bei der geplanten Ostbahn ungleich höher, so dass eine staatliche Anleihe nötig wurde. Die hätte aber von den Landständen bewilligt werden müssen. Daher erfolgte mit großem Pomp im Frühjahr 1847 die Einberufung des ersten „Vereinigten preußischen Landtags“ mit 677 Mitgliedern aus acht Provinzlandtagen (bekanntestes Mitglied war der ursprünglich nur als Ersatzmann berufene junge Otto v. Bismarck).
Dieser Vereinigte Landtag hatte aber mit den heutigen Verfassungsorganen nichts zu tun; besonders weil Verfahrensordnungen fehlten, endeten viele Debatten in unfruchtbaren Prinzipienfragen, zumal der preußische König nicht bereit war, diesem „Landtag“ Mitspracherechte bzw. turnusmäßige Sitzungen einzuräumen. Hierfür hätte der König von seinem unumstößlichen „Gottesgnadentum“ auf ein kleines Stück verzichten müssen, was für ihn nicht einmal im Ansatz in Frage kam: Lieber nahm Friedrich Wilhelm IV. das Scheitern des ganzen Eisenbahnbau-Projekts in Kauf, so dass die Mehrheit der „Abgeordneten“ die Zustimmung für eine Kreditaufnahme verweigerte.
Um die ganze Prozedur um den Vereinigten Landtag (und indirekt die Verfassungsfrage, die zumindest im Hintergrund durchschimmerte) und das Verhalten des preußischen Königs auch „deutschlandpolitisch“ einordnen zu können, soll folgende Beschreibung helfen:
„Für den Geschmack Metternichs und des Zaren Nikolaus war Friedrich Wilhelm schon viel zu weit vorgeprellt. Und auch der König wünschte nicht, daß in Preußen an seiner Stelle schließlich »Majoritäten« regieren würden und sprach von »offenem Ungehorsam« der Liberalen, von »geheimer Verschwörung und erklärtem Abfall von allem, was guten Menschen heilig ist«. Die Konstitution oder das Staatsgrundgesetz– Konstitution war damals ein magisches Wort, eine schöpferische Parole – hielt er im Grunde für ein Erzeugnis der tief von ihm verabscheuten französischen Revolution, für eine Ungehorsamkeitsforderung des ihm so fragwürdigen liberalen Zeitgeistes. Für ihn kam weiterhin nur eine ständische Gliederung in Frage, die lediglich die landschaftliche Mannigfaltigkeit der preußischen Monarchie sichtbar machen sollte. – Der Vereinigte Landtag als Dauerinstitution erschien bei dieser Ausgangslage unhaltbar.“ (13)
Ein für damalige Verhältnisse enormes Infrastrukturprojekt wie der Eisenbahnbau in Ostpreußen (mit zahlreichen Arbeitsplätzen und technischem Fortschritt) wurde mit voller Absicht „in die Tonne getreten“.
Damit war bereits im Jahr 1847 ein tiefer Keil zwischen einer großen „liberal“ gestimmten Mehrheit des bürgerlichen Lagers in den Provinzen und dem autokratisch regierenden König getrieben worden; im Verhältnis von „Staat und Gesellschaft“ herrschte danach in Preußen tiefes Misstrauen.
Aber – auch das sollte bedacht werden – hätte es die preußische Staatsregierung, allen voran der König, verstanden, die Abgeordneten des Vereinigten Landtags auf ihre Seite zu ziehen (vor allem durch Gewährung von mitgliedschaftlichen Rechten und der umfassenden Einbeziehung in den geplanten Eisenbahnbau, denn schließlich wären die Aufträge ja an die privaten Unternehmer des liberalen Bürgertums gegangen), hätten die Chancen nicht schlecht gestanden, die ab Herbst 1847 eingetretene Frontstellung zwischen dem liberalen Bürgertum und der Monarchie in Preußen (und darüber hinaus) zu vermeiden; weil schließlich scheuten die „Pfeffersäcke“ soziale Unruhen oder gar revolutionäre Umtriebe genauso wie die regierenden Fürsten.
Denn auch nachdem der Vereinigte Landtag ergebnislos abgebrochen worden war, gingen der Regierungsgeschäfte ja weiter und durchaus verständige Berater des Königs wussten schon, dass Zugeständnisse gemacht werden mussten. Daher gab es Beratungen und Ausschüsse nicht nur auf dem Gebiet des Haushalts und der Staatsschulden, sondern auch zu weitreichenden Fragen des Zivil- und Strafrechts, so der Entwurf zu einem gesonderten Strafgesetzbuch, der das „Allgemeine Landrecht“ von 1794 ersetzen sollte.
„Die ständische Staatsschuldenkommission begann befohlenermaßen ihre Tätigkeit, und im Januar 1848 traten die Vereinigten Ausschüsse zur Beratung des Strafgesetzbuchs zusammen. (…) Ludolf Camphausen aber erschien, versöhnlicher als die Mehrzahl seiner rheinischen Landsleute; und machte tiefen Eindruck, als dieser Königstreue, durch und durch preußisch gesinnte Patriot den Verlauf der letzten Kämpfe in bewegter Rede, nicht unparteiisch aber auch nicht ungerecht, also schilderte: »Als die Stände bis auf die äußerste Grenze vorrückten und, weit hinübergebogen, die Hand zur Ausgleichung darboten, ist diese Hand im Zorne zurückgestoßen worden. Ein Wort hätte hingereicht, den Verfassungsstreit in Preußen auf immer zu beendigen. Es ist nicht gesprochen worden. Die Folgen müssen getragen werden. Die Geschichte aber wird richten zwischen uns und der Regierung!« Im ganzen zeigte der Vereinigte Ausschuss große Mäßigung, er hielt sich streng an seine nächste Aufgabe. (…)
Als die Beratungen sich schon zum Ende neigten, kam plötzlich die Nachricht von dem Ausbruch der Pariser Februarrevolution. Mit einem Schlage verwandelte sich die Welt, alle stillen Wünsche der letzten Jahre gewannen augenblicklich Sprache (…).
Auch der König ahnte noch nicht, daß eine neue Zeit gekommen war. Er war zufrieden mit dem ruhigen Verhalten seiner Ausschüsse und schloß sie am 6. März persönlich mit einer gnädigen Ansprache. Freudig kündigte er ihnen an (…), die periodische Einberufung des Vereinigten Landtags (…).
So war das erlösende Wort endlich ausgesprochen – aber zu spät und darum vergeblich. Ein Jahr früher verkündigt, hätte diese königliche Entschließung den ganzen heillosen Verfassungskampf abgeschnitten und vielleicht sogar bewirkt, daß Preußen mit einem wohlgeordneten, rechtlich gesicherten Ständewesen der Anarchie Trotz bieten konnte. Jetzt erschien die verspätete Zusage, obwohl sie längst beschlossen war, nur wie ein abgedrungenes Zugeständnis. Nach wenigen Tagen schritt die Revolution auch über sie hinweg, und der stolze Herrscher, der seinem Volke Schritt für Schritt den Weg hatte vorschreiben wollen, lag gedemütigt am Boden.“ (14)
Die etwas breitere Darstellung der Situation am „Vorabend der Revolution“ soll auf die unterschiedlichen Handlungsverläufe bzw. Alternativen hinweisen (denn im Gegensatz zu Frankreich, dessen Staatsaufbau von jeher zentralistisch geprägt war, hat es innerhalb der Staaten des Deutschen Bundes große Unterschiede in der „politischen Kultur“ gegeben). Sogar innerhalb der beiden großen deutschen Einzelstaaten, Preußen und Österreich, zeigten sich die Verhältnisse sehr differenziert. Gutes Beispiel ist der erwähnte Ludolf Camphausen, erfolgreicher „Wirtschaftsliberaler“ aus dem seit 1815 preußischen Rheinland, der im Frühjahr 1848 sogar vorübergehend Ministerpräsident in Preußen werden konnte. Auch ist das Datum der königlichen Ankündigung, den Vereinigten Landtag endlich ernst nehmen zu wollen, nämlich der 6. März 1848, nicht uninteressant. Denn bereits am Vortag waren im badischen Heidelberg die Weichen in eine ganz andere Richtung gestellt worden; wäre der König von Preußen nicht ein derart verbohrter Ignorant gewesen (lag wohl in der Familie), hätten die Zeichen der Zeit früher erkannt werden können, was auch folgender Hinweis belegt:
„Im Herbst 1847 mehrten sich die Anzeichen einer tiefgreifenden inneren Unruhe auch im außerpreußischen Deutschland. In Frankreich zeigten sich angesichts der dort herrschenden Korruption die Symptome eines bevorstehenden revolutionären Umsturzes, der dann im Februar 1848 mit der Ausrufung der Republik durch die vorläufige Regierung auch eintrat. Die Wellen der Februarrevolution, mit der das liberale Bürgertum zum Zuge kam, breiteten sich über ganz Mitteleuropa aus und gaben in allen deutschen Staaten den Anstoß dazu, daß sich überall eine liberale Volksbewegung formierte. In Wien brach die Revolution am 13. März aus und führte zur sofortigen Entlassung des Fürsten Metternich, der seit fast 40 Jahren Österreichs leitender Staatsmann gewesen war. (…) Die Februarrevolution hat für den preußischen König neben der konstitutionellen auch die deutsche Frage aktualisiert, die nie aus seinem Gesichtskreis entschwunden war und nun zusammen mit der Verfassungsfrage gelöst werden sollte. Friedrich Wilhelm IV. erließ nun am 18. März ein neues Patent, das den Vereinigten Landtag auf den 2. April beschleunigt einberief und statt des deutschen Staatenbundes einen Bundesstaat, eine deutsche Wehrverfassung und Flotte verhieß, dazu entsprechend den liberalen Zeitforderungen eine preußische Verfassung und die volle Pressefreiheit versprach. Aber wie so oft bei diesem König kam alles – der gute Wille und die rechte Einsicht – genau einen Posttag zu spät.“ (15)
Eine zunächst völlig harmlose und friedliche Versammlung einfacher Bürger Berlins eskalierte wohl wirklich rein zufällig, als versehentlich Schüsse abgefeuert wurden:
„Die Stimmung schlug um, als Demonstrierende, die an den Portalen zu den Schlosshöfen standen, einsatzbereite Militärabteilungen sahen. (…) Eine bedrohliche Unruhe kam auf. Da erschien am Rande des Platzes eine Schwadron Dragoner, etwa 50 Reiter. Der Kommandierende zog den Säbel, so auch die Soldaten. Aus einem der Portale des Schlosses rückte eine Kompanie Grenadiere an. Das Militär hatte offenbar den Befehl erhalten, die Menschen zurückzudrängen und den Platz zu räumen. Da erschallten zwei Schüsse. In einer panikartigen Reaktion flohen die Menschen in die Straßen, die zum Schlossplatz führten. „Verrat! Verrat! Der König schießt auf das Volk!“ Sturmglocken läuteten. Innerhalb weniger Stunden wurden im Stadtgebiet spontan und völlig planlos etwa 200 Barrikaden errichtet – Barrikaden aus Fuhrwerken und Droschken, aus Türen, Toren und Fässern, aus Balken und Bohlen, befestigt mit Pflastersteinen und Steinplatten. Sie sollten ein Vordringen des Militärs verhindern. Auf einigen der Barrikaden wehte eine schwarz-rot-goldene Fahne, das Symbol der Bewegung für Einheit und Freiheit.
So planlos wie der Barrikadenbau war der Widerstand gegen das anrückende Militär. Die Verteidiger waren überwiegend Handwerker, Arbeitsleute und Studenten. Praktisch waffenlos. Vereinzelt waren auch Frauen und Kinder zu sehen. Planvoll handelte jedoch die Militärführung. Sie wollte die Kontrolle über die Innenstadt erlangen, zog einen schützenden Ring um das Schloss und stellte Verbindungen zu den Munitions- und Proviantdepots her. Barrikade um Barrikade wurde niedergemacht.“ (16)
Der Nachmittag des 18. März 1848 und auch noch der folgende Tag gingen in Berlin als die „Barrikadenkämpfe der 48er Revolution“ mit mehr als 300 „Märzgefallenen“ (zivile Todesopfer) in die Geschichtsbücher ein.
Mit etwas mehr Fingerspitzengefühl und Weitsicht wäre dies alles grundsätzlich zu vermeiden gewesen. Doch die Atmosphäre des Misstrauens und der Entfremdung zwischen der Bevölkerung und den Staatsorganen hatte sich in den Jahren zuvor bereits zu stark ausgebreitet, um rechtzeitig umsteuern zu können.
Wie bereits angedeutet, kann die gesamte Regierungszeit des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. mit einem „zu spät und zu wenig“ zusammengefasst werden.
Diese entscheidenden Fehler/Versäumnisse sollten seinem jüngeren Bruder und Nachfolger, Wilhelm I., unter allen Umständen nicht passieren; zur Not gab es die deutsche Einheit „von oben herab“ (durch drei Kriege und mit dem „weißen Revolutionär“ Bismarck als zentraler Figur).
Soweit ein kurzer Überblick zu den gesellschaftspolitischen Verhältnissen am „Vorabend der Revolution von 1848“.
c) Erster „zivilgesellschaftlicher“ Protest
Trotz des seit 1819 bestehenden strikten Versammlungs- und Vereinigungsverbots im Deutschen Bund (lt. Karlsbader Beschlüssen u.ä.) gelang es neben den besonders rührigen Studentenverbindungen/Burschenschaften und vielen „Sport- und Kulturbegeisterten“ (Sänger, Turner u.v.m.) auch einigen wenigen „Politikbegeisterten“ sich sogar außerhalb der teilweise vorhandenen Landtagen (vor allem im Südwesten) zu positionieren und auch als Opposition zu organisieren.
aa) Hallgarten-Kreis
Der wohl bekannteste Treff für die politische Opposition in Süddeutschland dürfte der sog. Hallgarten-Kreis gewesen sein. Von dem Liberalen Johann Adam v. Itzstein (Mitglied der Zweiten Kammer des „Landtags“ im Großherzogtum Baden) bereits in den 1830er Jahren gegründet, übernahm diese informelle Zusammenkunft die Rolle eines „think tank“ (modern gesprochen) oder auch Keimzelle für die frühdemokratische Entwicklung im Südwesten letztlich bis zur Nationalversammlung in der Paulskirche.
Im Laufe der Zeit gab es mehrere Dutzend Teilnehmer; zunächst mehrheitlich sog. „Liberale“ (damals ein sehr unscharfer Begriff für alle oppositionellen Kräfte, die mit der reaktionär ausgerichteten Staatsmacht unzufrieden waren und in der Regel aus dem städtischen Bürgertum stammten), in den 1840er Jahren kamen immer mehr sog. „Radikale“ dazu, damals die Bezeichnung für die oppositionelle Richtung, die den demokratischen Gedanken verfolgte (man merkt schon hier, dass es einen inhaltlichen Unterschied zwischen den damaligen „Liberalen“ und den „Radikal-Demokraten“ gegeben hat).
Die „Demokraten“ hatten die sog. „Volkssouveränität“ auf ihrer Agenda – das hieß aber nicht automatisch auch „Republikanismus“; die ersten Republikaner (besonders im Südwesten) waren zwar Demokraten, aber nicht jeder demokratisch gesinnte Oppositionelle war glühender Anhänger der Republik.
Und die allermeisten „Liberalen“ waren weder demokratisch eingestellt (da besonders die Wirtschafts- liberalen gegen eine zu starke Beteiligung des einfachen Volkes, des unterprivilegierten „Pöbels“ an politischen Entscheidungsprozessen waren), noch Befürworter der „Republik“ – ganz im Gegenteil, sie lehnten die Republik als Staatsform entschieden ab: fast alle der sog. „Liberalen“, auch und besonders in der Paulskirche, waren eingefleischte Monarchisten!
Dies zeigte sich ganz besonders bei der Wahl eines „Habsburgers“ zum sog. „Reichsverweser“ wenige Wochen nach Eröffnung der Paulskirchenversammlung, s.u. (und auch bei vielen der letztlich unfruchtbaren Diskussionen zum sog. Staatsorganisationsrecht).
Doch darf dies die für damalige Verhältnisse progressive Kraft (eine Art Aufbruchstimmung), die vom Hallgarten-Kreis um v. Itzstein und Kollegen ausging, nicht schmälern. Besonders ein Blick auf die Liste der Teilnehmer (heutiger Terminus wäre wohl: Aktivisten) dürfte sich lohnen.
Neben etlichen bekannten Liberalen, wie z.B. Bassermann, Freiligrath oder v. Gagern, stechen die Namen von Robert Blum und Friedrich Hecker ins Auge.
bb) Besondere Persönlichkeiten aus dem radikal-demokratischen Spektrum
Da besonders bei der Frage der „Volkssouveränität“ die Ansichten zwischen klassischen Liberalen und den frühen Demokraten in Deutschland auseinander gegangen sind, unser heutiges Staatsmodell aber auf dieser Volkssouveränität aufbaut (Art. 20 Abs. 2 GG), verdienen die frühen Aktivisten dieses Politikverständnisses besondere Würdigung. (17)
Zu diesen besonders mutigen Männern gehören zweifelsohne Robert Blum und Arnold Ruge (beide wurden in den offiziellen Reden vom 18. Mai 2023 kurz genannt), aber auch Friedrich Hecker und Gustav (von) Struve – neben vielen anderen, die aber an dieser Stelle leider nicht erwähnt werden können. (18)
Robert Blum, insofern eine Ausnahme, weil er einer der wenigen Nicht-Akademiker gewesen ist, der im Vormärz und dann im Revolutionsjahr für Aufsehen sorgte und sogar der einzige Abgeordnete der Nationalversammlung war, der – in seiner Eigenschaft als Politiker – von der (österreichischen) Staatsmacht getötet wurde: volksnah und kompromissbereit; übernahm auch unangenehme bzw. brenzlige Aufgaben (schon im August 1845 in Sachsen, dann besonders im Oktober 1848 in Österreich, wo er seinen Tod fand). Blum zählte zu den gemäßigten Demokraten, kein Heißsporn wie z.B. Hecker, der bereits das Vorparlament boykottieren wollte.
Vor allem setzte Blum auf einen fairen Ausgleich mit Polen (als einer der wenigen Demokraten) und war ein Verfechter des Gedankens der Völkerverständigung (im Gegensatz zu vielen der Chauvinisten in der Paulskirche). Von ihm sind zwei Aussagen besonders bemerkenswert und daher auch überliefert worden:
Bezogen auf den grundsätzlichen Charakter des Deutschen Bundes (und der Schwierigkeit einer Abgrenzung zur „Paulskirche“): „Ein Jesuitenkloster bleibe ein Jesuitenkloster, auch mit neuen Insassen“.
Und als im Frühherbst 1848 (nach der Entscheidung, den Krieg gegen Dänemark – ein Faktum, das gerne übersehen wird – einzustellen) die reaktionären Kräfte, nicht nur in Preußen, Auftrieb erhielten: „In Wien entscheidet sich das Schicksal Deutschlands“.(19)
Robert Blums persönliches Schicksal wurde von einem österreichischen Erschießungskommando entschieden!
Arnold Ruge gehörte zu den „linken“ Demokraten und zu den Anhängern des republikanischen Staatssystems, als Student Mitglied einer verbotenen Burschenschaft und war dafür auch bestraft worden.
Er wird zu den „Jung-Hegelianern“ gezählt und damit in eine Nähe zu Karl Marx gerückt, mit dem er 1843 in Paris auch die Deutsch-Französischen Jahrbücher herausgab.
Trotzdem wird man Ruge nicht zu den „Marxisten“ rechnen können: Ihm fehlte der Glaube an die Utopien des Historischen Materialismus (besonders wenn es um die von Marx postulierte „Diktatur des Proletariats“ ging); Ruge entwickelte sich dagegen zum überzeugten „Republikaner“ – daher auch sein Engagement in der Nationalversammlung (diese wurde ja von Marx und Engels abgelehnt).
Im Oktober 1848 verließ er aber enttäuscht von den reaktionären Tendenzen in der Paulskirche die Nationalversammlung und arbeitete bis zu seiner Flucht erneut als Publizist und politischer Beobachter; sein wichtigstes Werk sollte 1849 unter dem Titel „Die Gründung der Demokratie in Deutschland oder der Volksstaat und der socialdemokratische Freistaat“ erscheinen, gleichsam das erste Programm der damals noch gar nicht existierenden Sozialdemokratie.
Eigenartig, dass sich heute kaum noch ein SPDler an diesen wirklich programmatischen Denker erinnern will (vielleicht, weil er als vorweggenommener „Realo“ im Alter zum Lager Bismarcks tendierte).
Wie Blum gehörte aber auch Ruge zu denjenigen, die eine europäische Dimension (im weitesten Sinne eine Europäische Union) präferierten.
Mit Friedrich Hecker und Gustav (von) Struve müssen zwei der schillerndsten und einflussreichsten Personen des Revolutionsjahres 1848 genannt werden.
Beide waren Juristen, besonders in Baden tätig und spielten gerade in der Anfangsphase der Revolution (und am „Vorabend“ von 1848) eine wichtige Rolle:
„Die radikale Demokratie gab sich am 10. September 1847 auf einer Volksversammlung im badischen Offenburg, an der etwa 600 Personen teilnahmen, erstmals ein förmliches Programm, das dann wenig später (…) veröffentlicht wurde. Die treibenden Persönlichkeiten waren Friedrich Hecker und Gustav von Struve; letzterer hatte die Programmpunkte entworfen.“ (20)
Dieses Programm wurde am 12. September 1847 als die „Dreizehn Forderungen des Volkes“ veröffentlicht und wurde zur Grundlage für alle später formulierten Forderungen, Programme und Grundsätze.
So enthielten diese Forderungen bereits einen ersten „Grundrechte-Katalog“ und besonders mit der Forderung nach „Selbstregierung des Volkes“ das eigentlich „revolvierende Moment“.
Spätestens im Februar 1848 kam dann auch die offen formulierte Forderung nach einer deutschen Republik hinzu.
Dass diese offen geforderten Umwälzungen nach den damaligen strafrechtlichen Bestimmungen (auf Landes- wie auf Bundesebene) höchst illegal waren, versteht sich von selbst.
Doch hatten Hecker und Struve den unschätzbaren Vorteil ihrer Popularität auf ihrer Seite, so dass konkrete Strafverfolgungsmaßnahmen zunächst unterblieben.
Hecker war sogar Anfang der 1840er Jahre auf Empfehlung v. Itzsteins (Hallgarten-Kreis, s.o.) in die Zweite Kammer des Badischen „Landtags“ aufgenommen worden (natürlich war dies damals keine Wahl im heutigen Sinne). Und Struve war neben seiner Tätigkeit als Anwalt auch als Publizist und Redakteur in ganz Nordbaden bekannt. Auf die Situation von heute übertragen: Selbst die Generalstaatsanwaltschaft in München (Stichwort: „letzte Generation“) würde sich bei diesen Männern gehörig die Finger verbrennen.
Auf die erste Offenburger Versammlung erfolgte zunächst eine Art Konkurrenzveranstaltung der damaligen „Liberalen“ im Oktober 1847 in Heppenheim (bei weitem nicht so programmatisch und volksnah), dann Ende Februar 1848 eine erneut radikaldemokratische Veranstaltung in Mannheim und Mitte März 1848 dann die zweite Offenburger Versammlung. Jedes Mal mit deutlich mehr Teilnehmern und öffentlicher Wahrnehmung (heutiger Terminus: mediale Präsenz).
Mitten in dieser eher konfusen Entwicklung geschah Anfang März 1848 in Heidelberg eine erste Form der organisierten Revolutionsbewegung: Am 5. März trafen sich dort 51 Oppositionelle (sowohl liberale als auch radial-demokratische), die einer Einladung wiederum v. Itzsteins folgten.
Viele der dort Anwesenden kannten sich natürlich aus dem Hallgarten-Kreis bzw. ihrer gemeinsamen Tätigkeit in verschiedenen politischen Institutionen.
Aufgrund dieser persönlichen Kontakte überrascht auch nicht die Anwesenheit der beiden „bad boys“ Hecker und Struve.
Die Heidelberger Versammlung setzte den entscheidenden Impuls zur Einberufung des sog. Vorparlaments Ende März 1848 nach Frankfurt am Main. Damit sollte letztlich eine prozessuale, verfahrensmäßige Lösung für die anstehende „Umgestaltung“ des deutschen Bundes geschaffen werden (im Ergebnis die Nationalversammlung). Aber bereits in Heidelberg wurden die unterschiedlichen und schon damals kaum überbrückbaren Gegensätze zwischen der (klassischen) Mehrheit der Liberalen und der radikaldemokratischen Minderheit (mit den Wortführern Hecker und Struve) sichtbar.
Trotzdem gelang als Minimalkonsens die Konzeption des späteren Vorparlaments, das dann die endgültigen Voraussetzungen für eine künftige „Nationalversammlung“ schaffen sollte.
In der wissenschaftlichen Literatur herrscht zumindest insoweit Einigkeit, dass man das Heidelberger Treffen und die spätere Einberufung des Vorparlaments als die eigentlichen revolutionären Akte der 48er Revolution betrachtet. Beide Versammlungen ereigneten sich unabhängig von staatlichen Institutionen oder gar „Erlaubnissen“. Man kann aber auch sagen, dass es die offenkundige Schwäche der regierenden Fürsten in allen Einzelstaaten des Deutschen Bundes war, die eine solche Situation eröffnete (und die progressiven Kräfte, allen voran die 51 Männer, die sich am 5. März in Heidelberg – letztlich illegal – trafen, waren so weitsichtig, die Gunst der Stunde zu nutzen).
Wenig erstaunlich, dass sich im „Vorparlament“ (vom 30./31. März bis einschließlich 4. April 1848) die nunmehr beachtliche Zahl von 574 Männern aus nahezu allen deutschen Einzelstaaten, selbst zwei Österreicher fanden den Weg nach Frankfurt, kaum auf einen Nenner bringen ließ.
Bei der allen Ernstes diskutierten Frage, ob der bisherige Bundestag in Frankfurt (also genau die besonders reaktionäre Einrichtung, die bisher alle Reformen im Keim zu ersticken wusste) an der Ausrichtung der Wahlen zur Nationalversammlung federführend beteiligt werden sollte, kam es dann zum Streit mit den „Radikalen“:
„Die Linke verlangte, daß die Bundesversammlung zuvor sämtliche Persönlichkeiten aus ihrer Mitte entfernen müsse, die an der Repressionspolitik der vergangenen Jahrzehnte mitgewirkt hätten. Dieser (…) Antrag (…) wurde von Bassermann modifiziert und in seinem Sinn abgefälscht. Hecker nahm diese erneute Niederlage der Linken zum Anlaß für den Versuch, das Vorparlament zu sprengen, welches für radikale Politik ohnehin nicht taugte. Er verließ mit etwa 40 Abgeordneten der äußersten Linken demonstrativ den Saal.“ (21)
Auch wenn Hecker und seine Anhänger dann wieder an den Verhandlungen im Vorparlament teilnahmen, das „Tischtuch“ war zerrissen und eine einheitliche Konzeption aller Oppositionskräfte, die im Vorparlament zusammen gekommen waren, um über einen neuen deutschen Staat zu debattieren, unmöglich. Dies führte dann auch dazu, dass Hecker und Struve Mitte April 1848 eine „echte“ gewaltsame Revolution eröffneten (der sog. „Hecker-Zug“ mit der Proklamation der Republik in Konstanz), die allerdings kaum länger als vierzehn Tage andauerte. Auch wenn sogar „Freischärler“ aus Frankreich nach Baden kamen, um ihre „Brüder im Geiste“ zu unterstützen, gegen die gut gerüstete Militärmacht Badens (mit kräftiger Unterstützung durch „Bundestruppen“) hatten diese Idealisten kaum eine Chance, zumal der von den Anführern erhoffte „Support“ durch die Landbevölkerung weitestgehend ausblieb.
Nach der endgültigen Niederlage Ende April mussten Hecker und Struve (wie viele andere auch) erstmal im Ausland untertauchen (beliebt waren die Schweiz und natürlich wieder Frankreich).
Friedrich Hecker ging dann im Herbst 1848 (als sich abzeichnete, dass das 48er Projekt endgültig scheitern würde) sogar in die USA (damals der Zufluchtsort deutscher Emigranten außerhalb Europas).
Dort engagierte er sich für die damaligen „Republikaner“ unter Lincoln gegen die Sklaverei und wurde sogar ein geachteter Offizier im „Bürgerkrieg“: Deutsche Revolutionsimmigranten wie Hecker werden bis heute in den USA „Forty- Eighters“ genannt. (22)
In Anbetracht des aktuellen Niedergangs der politischen Kultur in den USA sollten sich vielleicht mehr Nachkommen (die Urur-Enkel etc.) der ehemaligen „krauts“ dieser republikanischen Tradition (in der positiven Bedeutung dieses Wortes) besinnen.
Gustav Struve dagegen wollte sich mit der Niederlage im „Heckerzug“ zunächst nicht abfinden und kehrte im September 1848 wieder nach Deutschland zurück, um den nach ihm benannten Putsch in Südbaden auszulösen. Obwohl von der „manpower“ sogar stärker ausgestattet, misslang auch dieser Aufstand, da das badische Militär konsequent dagegenhielt. Struve wurde diesmal gefangen genommen und konnte dann im Frühjahr 1849 aus dem Gefängnis befreit werden; die im Mai 1849 letztmalig aufflammenden gewaltsamen Aufstände hatten zu diesem Zeitpunkt natürlich überhaupt keine Chance mehr, im Juli 1849 war die „Badische Revolution“ (mit den meisten militärischen Einsätzen) endgültig gescheitert.
Struve floh mit Gattin dann auch erstmal in die USA, wo er aber nicht so recht Fuß fassen konnte, so dass er 1863 nach Deutschland zurückkehrte, da zuvor in Baden eine Amnestie für die 48er Revolutionäre erlassen worden war, er somit keine Strafverfolgung mehr befürchten musste.
Zumindest in Baden genießen er und sein Mitstreiter Hecker auch heute noch in bescheidenem Umfang eine gewisse Popularität.
Obwohl es sich bei beiden um die wirklich treibenden Kräfte im Herbst 1847 und Frühjahr 1848 handelte, werden Hecker und Struve in den „Festtagsreden“ des Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin komplett unterschlagen. Völlige Ahnungslosigkeit der höchsten Repräsentanten des Staates (oder ihrer Redenschreiber) wird es hoffentlich nicht sein? Möglicherweise sollen mit Hecker und Struve die besonders militanten Vertreter des demokratischen Aufbruchs von 1848 nicht zu Vorbildern heutiger militanter Bewegungen (Klima-Kleber etc.) gemacht werden? Oder befindet sich die politische Klasse des Jahres 2023 so in ihrer eigenen Filterblase, dass alles, was diese Konsensharmonie stören könnte, einfach ausgeblendet wird?
Wenn „erinnerungspolitische Wende“ bedeutet, nur die Akteure und Entwicklungen zu thematisieren oder gar nur zu erwähnen, die zur eigenen Agenda passen, dürfte sich dieser Ansatz von selbst entwerten. (23)
3) Die Etappen zur und die Erkenntnisse in der Paulskirche
Wie bereits oben skizziert, hat bereits zu Jahresbeginn 1848 eine aufgewühlte Stimmung in Preußen, aber auch im Rest von Deutschland vorgeherrscht. Daraus entwickelte sich dann eine gesamtdeutsche politische Bewegung:
„Als äußeres Zeichen der Souveränität, die die deutsche Nation im Frühjahr 1848 errungen zu haben glaubte, wurde allenthalben ein deutsches Parlament zur Ordnung der Verfassung gefordert. Daß neben den Staaten auch die Nation eine Vertretung im Bundestag haben sollte, hatte Ernst Moritz Arndt schon im Jahre 1814 gefordert, und der Gedanke war seither immer wieder in der Publizistik, gelegentlich auch in Kammerdebatten geäußert worden. In den Märzrevolutionen der Einzelstaaten bildete der Ruf nach einem deutschen Parlament eine stehende Forderung. Eine Reihe von vorwiegend südwestdeutschen Politikern, die am 5. März zu Heidelberg versammelt waren, übernahm es, die Forderung durchzuführen, und beschloß, ein Vorparlament einzuberufen. Dieses Vorparlament, das vom 31. März bis zum 3. April zu Frankfurt tagte, (…) hatte also keine andere Befugnis als ein liberaler Parteitag oder einer der Gelehrtentage, auf denen sich in den vierziger Jahren die wissenschaftlichen und politischen Führer des deutschen Bürgertums zusammengefunden hatten. (…)
Da auch die Einzelstaaten ohne Ausnahme den Beschluß des Vorparlaments anerkannten, kamen die Wahlen zum Parlament fast überall zustande, und so durfte sich die am 18. Mai zu Frankfurt eröffnete „deutsche verfassunggebende Nationalversammlung“ (so lautete die amtliche Bezeichnung) wohl, wie ihr erster Präsident Heinrich v. Gagern rühmend hervorhob, als die berufene und bevollmächtigte Vertretung des souveränen deutschen Volkes fühlen. (…) Daß trotz dem radikalen Wahlrecht das besitzende und gebildete Bürgertum bei weitem das Übergewicht hatte, gestattet einen Rückschluß auf das Wesen der deutschen Revolution des Jahres 1848. (…) das Bürgertum drängte gewaltsam nach dem Einfluß auf den Staat (…). Sozialistische Regungen (…) spielten (…) nirgends eine erhebliche Rolle. Ein Industrieproletariat, bei dem das Kommunistische Manifest hätte Widerhall finden können, war in Deutschland noch kaum vorhanden; die soziale Unruhe wurzelte noch in kleinbürgerlichzünftlerischem Boden. Die Republikaner erwiesen sich überall, im Vorparlament, im Parlament und bei ihrer Erhebung in Baden während des Frühjahrs 1848 als eine Minderheit. Eine geschlossene Partei mit einheitlichem Programm war freilich weder das liberale Bürgertum noch seine Vertretung im Parlament. (…). Das bedeutete von Anfang an eine Gefahr für die Frankfurter Versammlung, und sie wurde vermehrt durch das Fehlen eines festen Verfassungsplanes, der den Beratungen hätte zugrunde gelegt werden können.“ (24)
Anhand dieser Beschreibungen des Historikers Hartung lassen sich gleich mehrere Aspekte festhalten:
a) Zumindest als Detail wichtig: „Revolutionär“ waren außer den Versammlungen des Jahres 1847 vor allem das Treffen in Heidelberg am 5. März und die Einberufung des Vorparlaments Ende März 1848 nach Frankfurt am Main – denn diese Veranstaltungen und Maßnahmen stützten sich ausschließlich auf dem Entschluss einer „Gemeinschaft von Gleichen“; jenseits staatlicher Beeinflussung bzw. „Ordnung“!
Alles weitere hatte dann aber eine legale, wenn man so will, verfassungsrechtlich legitimierte Grundlage – daher können weite Teile der 1848er Revolution in Deutschland gar nicht mehr mit den anderen Ereignissen in Mittel- und Westeuropa gleichgesetzt werden.
Anders formuliert: Mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche wurde ein Großteil des ursprünglich revolutionären Impetus aufgebraucht!
b) Wenn der damalige Sitzungspräsident v. Gagern auf die „Souveränität der Nation“ als Grundlage für die geplante Verfassungsgebung abstellt (er meinte wohl die erhoffte Freiheit der Abgeordneten, ohne Vereinbarung mit den nach wie vor regierenden Fürsten eine verfassungsrechtliche Grundlage für einen Nationalstaat schaffen zu können), müssten auch die damit zusammenhängenden Fragen und Themen angesprochen werden:
Was soll „Souveränität“ bzw. Volkssouveränität im Einzelnen eigentlich bedeuten? Nach den klassischen Theorien der Staats- und Verfassungsrechtslehre die ungeteilte („autonome“) Staatsmacht. Aus der Sicht des 19. Jahrhunderts stand „Souveränität“ für Herrschaftsgewalt.
Aber wie hätte die Nation (als Verkörperung des Volkes – nur so lässt sich das lateinische „natio“ sachgerecht übersetzen und auch das dazugehörige Verb „nascere“/„nasci“) selbst eine ungeteilte Herrschaftsgewalt erlangen können, ohne die Monarchien ausnahmslos abzuschaffen? Davon abgesehen, dass es 1848 höchst strittig war, wer zur „deutschen Nation“ eigentlich gehören sollte (Stichwort: nationale Minderheiten, wie die Polen oder Tschechen, aber auch die im Herzogtum Schleswig lebenden Dänen).
Das führt direkt zum Thema „Legitimität von Herrschaft“ gepaart mit der (notwendigen?) Akzeptanz eines Gewaltmonopols.
In der Theorie der allgemeinen Staatslehre gilt als Binsenweisheit, dass „Staatsgewalt“, also der Herrschaftsanspruch über die in einem anerkannten Staatsgebiet befindlichen Menschen (möge man sie Untertanen, Bürger oder auch Staatsbürger nennen) auf den Gehorsam eben dieser „Unterworfenen“ angewiesen ist; danach gilt der dem Philosophen Spinoza zugeschriebene Merksatz: „oboedientia facit imperantem“. Dies soll bedeuten, dass in einem (modernen) Gemeinwesen die staatliche Herrschaft „nur dann Aussicht auf Bestand“ (R. Zippelius) haben wird, wenn sie wenigstens auf den Gehorsam der Mehrheit gestützt, somit als „akzeptiert“ bezeichnet werden kann. Nach Rousseau bedeutet das, dass kein Machthaber seine Herrschaft dauerhaft wird ausüben können, wenn es nicht gelingt, faktische Gewalt in Recht und den Gehorsam in eine Pflicht zu überführen; daher auch der Konnex von „Rechten und Pflichten“. (25)
Zwar gibt es auch „Machthaber“, die auf eine solch legitime Herrschaft verzichten, meist in Gestalt von Diktaturen, aber spätestens mit dem Tod des jeweiligen Diktators geht dann die ganze Chose den Bach runter (beginnend mit der „archaischen Epoche“ Griechenlands in Gestalt der dortigen Tyrannen bis zu den Unrechtsregimen Hitlers oder auch Stalins bzw. der aktuellen „Autokraten“ in Moskau und andernorts). Da sich aber eine solche Akzeptanz für legitime staatliche Herrschaft nicht von alleine ergibt, sondern das Zusammenwirken (-wollen) von Staat und (Zivil-)Gesellschaft benötigt, ist dies ebenso fragil wie beim „Böckenförde-Dilemma“, wonach die freiheitliche Demokratie als Staatsform von Voraussetzungen abhängt, die diese aber selbst gar nicht gewährleisten kann.
Zumindest in einem säkularen Staat ohne „Gott“, also nach Überwindung des theologischen Unterbaus vom „Gottesgnadentum“ als Legitimationsgrundlage von „Staatsmacht“, und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse seit der „Aufklärung“; exemplarisch sei nur Kants Aufforderung genannt: sapere aude!
All diese zusätzlichen Aspekte impliziert die vom Sitzungspräsidenten der Paulskirche, Heinrich v. Gagern, getroffene Feststellung von der „Souveränität der Nation“. Angesichts der heute nicht mehr zu leugnenden „Bildungsmisere“ in unserem Land müssten gerade diese Punkte von den gesellschaftlich einflussreichen Kräften deutlich stärker akzentuiert werden; stattdessen gibt es lustige Ratespielchen im Internet.
c) Wie bereits erwähnt, waren 1848/49 die „Liberalen“ mehrheitlich keine Republikaner und letztlich auch keine Demokraten, die eine pluralistische Gesellschaft im heutigen Verständnis anstrebten.
Würde man die – insbesondere von der höchstrichterlichen Rechtsprechung – entwickelten Kriterien und Maßstäbe für die Definition der „freiheilich-demokratischen Grundordnung“ zugrunde legen, würden viele, wenn nicht gar die Mehrheit, der Abgeordneten der Paulskirche an dieser Voraussetzung scheitern.
Insbesondere die große Masse der Abgeordneten, unabhängig von der Zugehörigkeit zu irgendeiner „Fraktion“, die unverhohlen zur „Deutschtümelei“ neigten und ihr Überlegenheitsgefühl vor allem gegenüber den slawischen Volksgruppen offen zeigten. Bereits 1848 offenbarte sich der schmale Grat zwischen dem Wunsch, einen „einheitlichen“ Nationalstaat bilden zu wollen, und dem Abgleiten in nationalistische Phrasen oder gar Chauvinismus – 175 Jahre später hat sich in unzähligen Beiträgen einer bestimmten Fraktion des Deutschen Bundestages nur wenig geändert.
Etwas anders gewendet: Bis heute ist unklar, ob das Sein das Bewusstsein oder aber das Bewusstsein das Sein bestimme. (26)
d) Auch wenn es nur sehr wenige Berührungspunkte zwischen dem „Vereinigten Landtag“, der 1847 in Preußen einberufen wurde, und der Paulskirche von 1848 gibt, zumindest in einem Bereich ähnelten sich beide „Parlamente“: Das Fehlen von Parteien im modernen Sinne und damit einer organisierten, einheitlichen Willensbildung im Parlament. (27)
Es gab zwar den Ansatz zur Bildung „fester“ Fraktionen, doch steckte dies noch in den Kinderschuhen. Die Grenzen zwischen den – nach außen konnte dieser Eindruck durchaus entstehen – eher zufälligen Fraktionsbildungen und -zugehörigkeiten waren im Detail dann doch fließend, wie sich bei den Abspaltungen und Neubildungen im Herbst 1848 und dann ganz besonders beim alles entscheidenden Gegensatz „Groß-“ gegen „Kleindeutsch“ zeigen sollte.
Kritiker (unterschiedlicher Lager) der Paulskirche vertraten bereits vor 175 Jahren die Meinung, dass es zwar viele, gar idealistische Reden von Akademikern gegeben habe, daher auch die meist leicht spöttische Beschreibung als Honoratiorenklub, aber viel zu viele Phrasen und Pathos und daher auch wenig zielführend (aber zeitraubend).
e) Zwei Aspekte beim Thema „Paulskirche“ sind bis heute aktuell, nämlich die Fragen nach dem aktiven und passiven Wahlrecht:
„Zur Wahl berechtigt sollten alle volljährigen selbständigen Männer sein. Der Spielraum, den dieser Rahmen bot, wurde von den einzelnen Staaten, je nach eigenen Wahltraditionen und aktueller politischer Konstellation, in unterschiedlicher Weise genutzt. Die Stimmabgabe konnte öffentlich oder geheim sein. Teils wurde direkt, meist aber indirekt gewählt, d.h., die Urwähler bestimmten nur die Wahlmänner, in der Regel örtliche Honoratioren, die dann in einem weiteren Wahlgang das Mandat vergaben.
Die größten Differenzen aber bestanden in der Definition der Selbständigkeit. Der Begriff umschrieb eigentlich das zeitgenössische Ideal des Bürgers – den Mann, der durch ein Mindestmaß an geistiger Bildung und materieller Unabhängigkeit zu eigenem und freiem politischen Urteil fähig war. An welchen äußeren Kriterien dies jedoch festzumachen sei und welche Bevölkerungskreise so von der Wahl ausgeschlossen bleiben sollten, das war seit langem das Kernthema aller Wahlrechtsdebatten. Das Wahlrecht von einem Zensus, einer Mindeststeuerleistung, abhängig zu machen und damit auf die Bürger im engeren Sinne zu begrenzen oder das Stimmengewicht nach Steuerklassen abzustufen (…), war 1848 politisch nicht durchsetzbar und nach den Vorgaben des Vorparlaments auch nicht zulässig. Ohne Wahlrecht blieb jedoch häufig, wer Armenunterstützung erhielt oder keinen eigenen Hausstand nachweisen konnte. Damit waren auf dem Lande das Gesinde und in den Städten die Dienstboten ausgeschlossen sowie jene Handwerksgesellen, die im Hause des Meisters wohnten, nicht aber das Gros der Arbeiter und Tagelöhner und auch nicht die oft am Rande des Existenzminimums lebenden kleinen Gewerbetreibenden. Mit am liberalsten fiel das Wahlgesetz ausgerechnet in Preußen und in einigen österreichischen Herzogtümern aus. In einzelnen Staaten waren so bis zu 90% der erwachsenen Männer zur Stimmabgabe aufgerufen, jedoch selten weniger als 75%. Alles in allem waren im Schnitt etwa 80% der volljährigen männlichen Deutschen im Frühjahr 1848 wahlberechtigt, eine für die damalige Zeit im nationalen und europäischen Vergleich außerordentlich breite demokratische Grundlage für das neue nationale Parlament.“ (28)
Auch wenn es danach in den meisten europäischen Nachbarstaaten (vor allem auch in Großbritannien) noch schlechter um das aktive Wahlrecht bestellt gewesen ist, sollte nicht übersehen werden, wie wichtig, aber auch manipulativ, die Bestimmungen über das „Verfahren“ sind. Vor allem natürlich bei der Frage, wer darf überhaupt mitbestimmen und welches Prozedere kommt zur Anwendung. (29)
Und mindestens genauso interessant ist die Frage, wer als Abgeordneter in die Paulskirche einziehen konnte:
„In der Nationalversammlung fand sich in einzigartiger Weise die geistige Elite Deutschlands zusammen. Mangelnde politische Praxis wurde durch vorangegangene theoretische Studien, Welterfahrenheit und -offenheit kompensiert. Eine gesellschaftliche Aufschlüsselung der 812 gewählten Abgeordneten und ihrer Stellvertreter ergibt 357 Vertreter geistiger und freier Berufe. 312 Staats- und Gemeindediener. 99 der Wirtschaft angehörende Parlamentarier. Professoren, Advokaten, Richter/Staatsanwälte und höhere Verwaltungsbeamte stellten jeweils Gruppen von etwa 100 Abgeordneten. Am unteren Ende der Hierarchie standen vier Handwerker. Arbeiter fehlten. Am auffallendsten war der hohe Anteil von 439 Beamten, denen damals eine überragende politische Sachkunde zugeschrieben wurde. Tonangebend waren vielfach die traditionell politisch engagierten Professoren.“ (30)
Anhand dieser Beschreibung kann man sogar die gesamte „Paulskirche“ als die Ausprägung eines Elitenprojekts (modern formuliert) betrachten – vorbereitet und wesentlich getragen von idealistischen Professoren und Akademikern.
Die breite Masse insbesondere der ländlichen Bevölkerung blieb nach den (oft spontanen) Aufständen und Demonstrationen im März und teils noch April 1848 von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen; eine Rückkoppelung derart, dass die Abgeordneten mit ihren Wählern in Kontakt geblieben wären (heute durch Wahlkreisbüros und Ortsterminen, deren Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann), hat überhaupt nicht stattgefunden; da nützte es auch wenig, dass die Sitzungen in der Paulskirche im Wesentlichen frei zugänglich waren (aus nachvollziehbaren Gründen nur für das großstädtische Publikum in Frankfurt).
Der mangelnde Kontakt zwischen Abgeordneten und Wählern war auch unmittelbare Folge des überwiegend praktizierten indirekten Wahlsystems über Wahlmänner (man wird sogar vermuten können, dass viele Wähler davon ausgingen, dass die von ihnen bestimmten Wahlmänner ins Parlament einziehen würden, statt dessen wurden von diesen dann die eigentlichen Abgeordneten erst gekürt).
f) Zu den juristischen Besonderheiten der Nationalversammlung
Einige „Highlights“, die in jedem Lehrbuch etc. hervorgehoben werden, sollen auch hier kurz dargestellt werden.
Wie in den o.g. Festreden zu Recht betont, stand natürlich die Konzeption der „Reichsverfassung“ im Mittelpunkt der Arbeit in der Paulskirche.
Nach langwierigen Diskussionen gelang es schließlich doch noch, im Frühjahr 1849 einen Entwurf für eine „gesamtdeutsche“ Verfassung (aber ohne Österreich) zustande zu bringen. Eine Verfassung, die zwar tatsächlich „juristisch“ verabschiedet und auch formal in Kraft gesetzt wurde, aber niemals tatsächlich zur Anwendung gekommen ist. Nur eine der vielen Anomalien im deutschen Staats- und Verfassungsrecht.
Ein ganz besonderer Schwerpunkt im Zusammenhang mit der Verfassungsberatung war die Erarbeitung des Abschnitts über „die Grundrechte des deutschen Volkes“.
Verfassungsrechtlich interessant ist z.B., dass dieser lange verhandelte Grundrechte-Teil bereits Ende Dezember 1848 vorab in Kraft gesetzt wurde und damit eigentlich auch unmittelbar anwendbar gewesen ist.
Dies ist insofern bedeutsam, weil in der endgültigen Fassung in Abschnitt VI § 130 eine Art „Ewigkeitsklausel“ aufgenommen wurde – wäre die ernsthaft befolgt worden, hätte zumindest dieser Teil der mühsam ausgehandelten Paulskirchenverfassung Bestand haben müssen. So richtig ernst genommen haben viele der klassisch-liberalen Abgeordneten der Nationalversammlung ihr eigenes Verfassungswerk wohl selbst nicht; eigentlich kein Grund für überschwängliche Lobeshymnen!
Außerdem, ein Detail, das eher selten beachtet wird, es gab ja schon berühmte Vorbilder für die Abfassung eines Grundrechte-Katalogs: 1776 in den späteren USA die Bill of Rights (von Virginia) und kurz darauf die Unabhängigkeitserklärung; in Frankreich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. Auch wenn natürlich eine wortwörtliche Übernahme nicht Betracht kommen konnte, so ist doch der Einfluss dieser immerhin über 60 Jahre früher entwickelten Bestimmungen auf den Grundrechte-Katalog der „Paulskirchenverfassung“ unübersehbar.
Diese Ähnlichkeit führte sogar dazu, dass von den Gegnern der Paulskirche offen der Vorwurf eines Plagiats erhoben wurde. (31)
Der damalige Grundrechte-Teil der „Paulskirche“ war zwar Ende 1848 in Kraft gesetzt worden, wurde dann aber 1851 mit der Reaktivierung des vorherigen Bundestages (als Organ des restituierten Deutschen Bundes), ebenfalls erneut mit Sitz in Frankfurt/M., wieder aufgehoben.
Es sollte dann bis zum Sommer 1919 dauern, dass in der Weimarer Reichsverfassung die Grundrechte, teils wörtlich, wiederum aufgenommen und in Kraft gesetzt wurden.
Fast ebenso bedeutungsvoll wie die Ausarbeitung einer „gesamtdeutschen“ Verfassung war der Versuch, eine „provisorische Regierung“ für Gesamtdeutschland zu bilden; ein Fakt, der im „Schulunterricht“ meist völlig untergeht und vom „wissenschaftlichen Dienst“ des Bundestags immerhin für so wichtig gehalten wird, dass im Juni 2023 ein kurzer Überblick dazu veröffentlicht wurde. (32)
Am 29. Juni 1848 wurde der „Habsburger“ Erzherzog Johann v. Österreich von der Nationalversammlung zum vorläufigen Staatsoberhaupt Deutschlands gewählt; um den lediglich provisorischen Charakter zu wahren, erhielt er die mittelalterliche Bezeichnung „Reichsverweser“. Seine Wahl erfolgte mit 436 von 548 Stimmen, also knapp 80% der anwesenden Abgeordneten stimmten für ihn, nur jeder Fünfte war gegen diese Lösung (die als Präjudiz gegen eine Republik zu sehen ist).
Ob aber alle Nein-Stimmen von überzeugten Republikanern abgegeben wurden, die sich bewusst gegen einen Fürsten stellten, kann mit Sicherheit nicht behauptet werden (denkbar ist, dass manche Nein-Stimme auch von einem protestantischen Monarchisten stammen kann, also gerade kein Republik-Anhänger per se). Aber selbst, wenn die 20% an Gegenstimmen von „Republikanern“ stammten, war schon Ende Juni 1848 die weitere Richtung in der Paulskirche vorgezeichnet: gegen eine deutsche Republik, für eine wie auch immer geartete monarchische Lösung („Fürstenherrschaft“).
Die Wahl selbst stützte sich (getreu der Vorgabe einer regelbasierten Rechtsordnung) auf dem „Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland“ vom 28. Juni 1848; gleichsam der Vorläufer für alle späteren verfassungsrechtlichen Einführungsgesetze.
Bedeutsam ist weiterhin, dass dieses Reichsgesetz die „provisorische Zentralgewalt“ mit zahlreichen Befugnissen in Verwaltungs- und organisatorischen Fragen und auch Gesetzgebungskompetenzen ausstattete; theoretisch konnte man daher von einer „Staatsgewalt“ im Sinne der im 19. Jahrhundert entwickelten Allgemeinen Staatslehre (G. Jellinek) sprechen.
Allerdings konnten die hohen Ansprüche (meist wegen fehlender Ausstattung) dann doch nicht eingelöst werden, und es gab außer den USA kaum andere Staaten, die dieses „staatliche Gebilde“ als Völkerrechtssubjekt anerkannten.
Da aber insbesondere keiner der größeren Mitgliedsstaaten des bisherigen Deutschen Bundes (die Großherzogtümer, Königreiche etc.) letztlich auf eigene Souveränitätsrechte verzichten wollten – alle beharrten auf ihrer Eigenständigkeit – blieb auch die „provisorische Zentralgewalt“ nur eine kurzlebige Episode auf dem Weg des Scheiterns der „Paulskirche“.
Bekanntlich setzte sich zu Jahresbeginn 1849 die „kleindeutsche“ Lösung mit einem erblichen Kaisertum für den preußischen König durch: die Fürstenherrschaft hatte erneut gesiegt.
Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Debatten 1848 in der Paulskirche ist schließlich noch festzuhalten, dass ein sog. „Gleichheitsschub“ beobachtet werden kann, vor allem beim Abbau bisheriger Vorrechte des Adels, so die Aufhebung der Untertanenverbände, der Patrimonialgerichtsbarkeit, der Familienfideikommisse oder der Lehnsverbände. Zumindest in der Theorie war jedes „menschliche Antlitz“ gleich; der „bürgerliche Tod“ war aufgehoben (Abschnitt VI, Artikel I, § 135 der Paulskirchenverfassung).
Doch auch in diesen Angelegenheiten bewahrheitete sich: grau ist alle Theorie.
An der eklatanten sozialen Ungleichheit und den sich im Frühkapitalismus entwickelnden „Klassengegensätzen“ konnte bzw. wollte auch die „liberale“ Paulskirchenverfassung wenig ändern (denn die Wirtschaftsliberalen unter der Mehrheit der Abgeordneten waren die Nutznießer dieser Entwicklung).
Hierzu kann durchaus auch eine ganz bestimmte Vorschrift der Paulskirchenverfassung gezählt werden: Abschnitt VI, Artikel IX, §173: „Die Besteuerung soll so geordnet werden, daß die Bevorzugung einzelner Stände und Güter in Staat und Gemeinden aufhört.“
Neben der ausdrücklichen Anerkennung der Kommunen kann diese Vorschrift als Ausgangspunkt für den heute generell anerkannten Grundsatz der „Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“
gesehen werden. Doch was nützte diese Forderung damals (wie heute) einem Großteil der abhängig beschäftigten Erwerbstätigen, wenn deren steuerpflichtiges Einkommen derart gering ausfällt, dass keine oder nur minimale (Einkommen-)Steuern anfielen?
Pointiert formuliert: Auch die Forderung nach „Besteuerungsgerechtigkeit“ nützte eher dem liberalen Wirtschaftsbürgertum als den prekär Beschäftigten und stellt insoweit erneut nur den Charakter eines „Elitenprojekts“ unter Beweis. (33)
Zusätzlich und parallel zu diesem unstrittigen „Gleichheitsschub“ erfolgte damals auch eine Stärkung der sog. Assoziationsfreiheiten: neben der allgemeinen Vereinsfreiheit, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet.
Positiv gewendet bedeutete die neu gewonnene Vereinigungsfreiheit einen sog. Paradigmenwechsel für das Freiheitsverständnis insgesamt.
So brachte die Wiederbelebung der „Genossenschaftslehre“ nicht nur eine Rückbesinnung auf „germanistische“ Rechtstraditionen, sondern brachte auch einen beachtlichen Modernisierungsschub im Verbandsrecht bzw. für privatrechtliche Vereinigungen; in der Literatur wird von einer „Entfesselung der Assoziation“ gesprochen. (34)
Man sieht, dass es zwar in vielen Teilbereichen durchaus fortschrittliche und moderne Ansätze in der Paulskirche gegeben hat, aber ein alle „Fraktionen“ und Strömungen verbindendes Credo vermisst man dann doch; das dem römischen Juristen und Staatsmann Cicero zugeschriebene Motto: „salus publica suprema lex“ – hätte ein solch verbindendes Element sein können.
Letztlich waren aber die trennenden Faktoren (republikanisch – monarchisch; demokratisch – autoritär; aber auch die verschiedenen Konfessionen und sozialen Schichtungen etc.) stärker, so dass die eigentlich sinnvolle Nationalstaatsbildung „von unten“ scheiterte.
4) Insoweit ein kurzes Zwischenergebnis, gestützt auf den Historiker Jürgen Kocka:
„Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die 48er Revolution in tiefen Niederlagen endete. Weder reüssierten die Liberalen und die gemäßigten Demokraten, die einen freiheitlich verfaßten, parlamentarisch mitbestimmten, ein Stück weit demokratisierten Nationalstaat mit monarchischer Spitze über friedliche Vereinbarung mit den bisherigen Machtträgern zu erreichen hofften und in der Frankfurter Nationalversammlung die Mehrheit stellten; noch gelangten die radikalen Demokraten und Sozialdemokraten an ihr Ziel, die zusätzlich zu den liberalen Forderungen auf Republik, entschiedene Demokratie und soziale Rechte setzten, wenn nötig im offenen Konflikt mit den bisherigen Eliten.
Die Beendigung der Revolution mit militärischen Mitteln in Wien und Berlin im Herbst 48, die Zurückweisung der angebotenen Kaiserkrone durch den preußischen König im März 49, der Zerfall von Nationalversammlung und Provisorischer Reichsregierung danach und die blutige Niederschlagung der vor allem in Baden, Sachsen und der Rheinpfalz wieder aufflammenden Revolution im Mai 49 wurden von links bis weit in die Mitte als bittere Niederlagen empfunden. Wie sehr sie das waren, machten die folgenden Jahre klar: die Bestrafung, Maßregelung und Exilierung zahlloser Revolutionsanhänger, die „Reaktion“ auf vielen Gebieten, die sich rasch abzeichnende Verschiebung des politischen Schwerpunkts der Liberalen nach rechts (…).“
Man sieht an solchen Aussagen, welch große Hoffnungen mit den eingeleiteten politischen Umwälzungen 1848/49 verbunden worden waren:
„Sicherlich hätte sich die deutsche Geschichte freier, demokratischer, bürgergesellschaftlicher entwickelt, wenn das Projekt der Paulskirche gelungen wäre. Diese skeptische Beurteilung – die Betonung des Scheiterns und der belastenden Folgen – gewann nach dem Zweiten Weltkrieg an Boden, besonders seit den sechziger Jahren (…).
Doch es empfiehlt sich, nicht unter der Hand die blutige Niederlage der 48er Revolution in einen Sieg umzudeuten. Es war eine Niederlage.“
Ob es aber zielführend ist, einseitig Schuldzuweisungen vorzunehmen, kann bezweifelt werden; komplexe Zusammenhänge lassen sich selten auf monokausale Erklärungen zurückführen. Dennoch lohnt das Interesse an den Hintergründen:
„Es ist problematisch, die Revolution von 1848 als „bürgerliche“ zu etikettieren, wie es häufig geschieht. Nach sozialer Trägerschaft, Zielen und Verlauf bestand auch die deutsche Revolution von 1848 gewissermaßen aus mehreren Revolutionen, zumindest aber aus zwei.
Zum einen war da die teils liberale, teils demokratische Bürgerbewegung, die sich in der rasch ausbreitenden bürgerlichen Öffentlichkeit etablierte (…). Die liberalen und demokratischen Bürger, oft akademisch gebildet bis intellektuell, mit starker Unterstützung vom damals noch sehr liberalen Wirtschaftsbürgertum und aus anderen sozialen Gruppen, machten Front gegen Kleinstaaterei, bürokratische Gängelung und Zensur, gegen feudale Privilegien und ständische Ungleichheit. Sie setzten sich für Menschen- und Bürgerrechte, für freiheitliche Verfassung, parlamentarische Institutionen und für den Nationalstaat ein sowie – das variierte nun – für mehr oder weniger ausgeprägte Teilhabe des Volkes, über Wahlen, Bildung und soziale Rechte. Die Auseinandersetzungen zwischen konstitutioneller Monarchie und Republik, zwischen liberal und radikal, zwischen großdeutsch und kleindeutsch fanden hauptsächlich innerhalb dieser Bewegung statt.
Zum anderen – stark vereinfacht – war da die Volksbewegung. Auch damals gab es kein homogenes Volk, sondern sehr unterschiedliche Unterschichtgruppen, die oft wenig miteinander zu tun hatten. Entsprechend heterogen stellte sich die revolutionstragende Volksbewegung dar, von der rasch wachsenden Handwerker- und Arbeiterbewegung (zunehmend in Vereinen organisiert) über die vor- oder subproletarische Protest- und Tumultbewegung auf den Straßen der Städte bis zur machtvollen, aber kurzlebigen und in vielem noch antifeudalen bäuerlichen Aufstandsbewegung in den Dörfern. Vor allem außerhalb der vereinsmäßig organisierten Handwerker- und Arbeiterbewegung war der bürgerliche Einfluss gering.
Um Freiheit ging es auch in der Volksbewegung, aber der Begriff bedeutete hier anderes als im Bürgertum. Dort war er auf Verfassung, Gedanken, Sprache und Schrift, auf politische Organisation, sehr stark auf die einzelnen bezogen, hier dagegen oft kommunitaristisch getönt, auf gemeinsame Freiheit, auf Brüderlichkeit (und Schwesterlichkeit) orientiert und ständisch differenziert.
Dort, im Bürgertum, mochte Freiheit auf Wirtschaft bezogen sein, im Sinne von Selbständigkeit und Marktwirtschaft, hier, im Volk, dagegen auf Arbeit, oft mit anti-marktwirtschaftlicher, anti-kapitalistischer Spitze, orientiert an älteren Normen der Auskömmlichkeit, der Ehrbarkeit, der gemeinschaftlichen Nutzung von Eigentum, an Prinzipien einer „moral economy“, die noch keine Trennung zwischen Arbeit und Soziabilität, zwischen Wirtschaft, Moral und Politik akzeptierte. Viele, sehr viele Forderungen der Volksbewegung hatten mit Arbeit und ihren Ergebnissen zu tun: zentral natürlich, bis in die Sprache und Benennung hinein, in der „Arbeiterverbrüderung“, der ersten Massenorganisation der deutschen Arbeiterbewegung, die 1848 entstand.
Aber letztlich ging es auch in den Forderungen der Bauern und anderen Dörfler um Arbeit, nämlich um die Befreiung der Arbeit und ihrer Ergebnisse von grundherrlichen und landesherrlichen Diensten und Abgaben.
Und in den Hungertumulten und Straßenprotesten ging es in diesen Jahren mangelnder Nahrung und ausgeprägtester Arbeitslosigkeit nicht selten um das Recht auf Arbeit, dessen Gewährleistung man nicht vom Markt, sondern von der Obrigkeit einforderte. (…)
Es handelte sich nicht nur um sozialökonomische Interessenunterschiede zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die wichtig genug waren und die Revolutionäre in wirtschaftlichen und sozialen Fragen sehr bald trennten. Es handelte sich vielmehr auch um Unterschiede der Lebensführung und des Politikverständnisses. (…)
Die damalige Gesellschaft zeigt sich hochgradig fragmentiert, die interessenmäßige und kulturelle Distanz ausgeprägt. Das war der Hintergrund für die misstrauische Fremdheit der Volksbewegungen gegenüber der parlamentarischen Arbeit der Bürger einerseits und für deren teils überlegene, teils ängstliche Wahrnehmung des Pöbels andererseits. An Arbeitern und Bauern fehlte es bekanntlich in der Paulskirche. Umgekehrt belegen die privaten Briefe und öffentlichen Reden auch gutwilliger Akademiker, wie sich ihre Irritation über die drohende Unordnung, die begriffslose Unverständlichkeit des Volkes, schließlich ihre Furcht vor dem Chaos und der „roten Republik“ schrittweise steigerten, zwischen März und Herbst 1848, hier in Berlin wie anderswo auch.
Es erstaunt, dass diese unterschiedlichen Bewegungen überhaupt zeitweise zusammenfanden, sich vereinbaren konnten.
Doch dies war ja die Bedingung der Revolution, so begann sie. Sie entstand nicht – oder kaum – aus dem Drängen der Liberalen auf Verfassungs- und Gesellschaftsreform, obwohl dieses Drängen in den 40er Jahren an Stoßkraft gewann. Im Grunde wollten die Liberalen keine Revolution. Die Erinnerung an die Radikalisierung der Französischen Revolution von 1789 wirkte nach. Die 48er Revolution entstand vielmehr aus einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Krise, zu der die Krise der Arbeit entscheidend gehörte – angesichts schnellen ökonomischen Strukturwandels, rasanten Bevölkerungswachstums, verbreiteter Armut und grassierender Unterbeschäftigung. Diese Krise des Vormärz traf Teile des Volkes sehr viel härter als die bürgerliche Mittelschicht, und es hing letztlich mit dieser Krise zusammen, dass eine explosive Stimmung entstand, in der die Nachricht vom gelungenen Februar-Aufstand in Paris auch östlich des Rheins die Revolution in Gang setzen konnte.
Nur mit dem Rückenwind der revolutionären Volksbewegung, die am blutigen 18. März in Berlin einen Höhepunkt erreichte, kamen dann, in den folgenden Tagen, die liberalen, reformbegierigen Bürger an die Macht, an einen Teil der Macht allerdings nur.
Umgekehrt brauchte die sich entfaltende Volksbewegung die Überführung ihrer Energie in Programme und Institutionen, um nachhaltig wirken zu können. Das konnte sie zunächst nicht allein. Nur soweit es gelang, die um Arbeit zentrierten Proteste der einen mit den auf Freiheit orientierten Forderungen der anderen zu vereinbaren, gelang die Revolution.
Doch auf beiden Seiten verstanden nur wenige diesen Zusammenhang. Und die auseinandertreibenden Erfahrungen, die divergierenden Interessen, die kaum kompatiblen Politikformen erwiesen sich in der Folge als übermächtig. Die Monate von April bis Herbst 1848 lassen sich als Geschichte der Entfremdung der beiden Bewegungen darstellen.“ (35)
Diese innergesellschaftlichen Spannungen und Gegensätze führten dann zur „Niederlage“ bzw. können als Grund genannt werden, warum in der Literatur die 1848er Revolution, zumindest in Deutschland, nicht den allergrößten Stellenwert einnimmt.
Und wer genau hinsieht, wird manche Parallele (zumindest cum grano salis) zur aktuellen Situation in Deutschland, aber auch im Rest Europas erkennen können.
III) Ein Überblick zur Geschichte der Revolutionserinnerung in Deutschland
Nachfolgend soll etwas ausführlicher ein Vergleich zu früheren Jubiläen und Gedenkveranstaltungen angestellt werden; Hintergrund ist die eingangs beschriebene „erinnerungspolitische Wende“, die dieses Jahr von offizieller Seite eingeschlagen wurde, bzw. eine allgemein-demokratiehistorische Perspektive.
Hierbei werden besonders die Arbeiten von Wolfram Siemann und Jürgen Kocka herangezogen; beides anerkannte Fachhistoriker, die einen entsprechenden Erfahrungsschatz aufbieten (mehr als die amtlichen Redenschreiber):
„Je lebhafter die Erinnerung gegenwärtigen Zwecken dienen soll, desto mehr verwandelt sich das Erinnern zu einem Geschichtsmythos. Dieser erzählt Ursprungslegenden, um aktuelle Zwecke zu rechtfertigen (…). Dieser Umgang verkürzt das historische Wissen in der Rückschau auf wenige einprägsame Zeichen und Symbole: auf die Barrikade, das Parlament, das Schwarz-Rot-Gold, die Germania.
Wo die Revolution nicht ganz geleugnet oder verdrängt wurde, hoben sich in der Regel zwei Lager der Traditionsbilder voneinander ab: Wer die gewalthafte Märzrevolution mit ihren Barrikadenkämpfern in Berlin und Wien feierte, kommentierte die Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung gern als „Verrat“ oder „Versagen“ des Bürgertums. Wer die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche als Anfang deutscher Einheit feierte, versuchte die blutigen Märzaufstände gegen die Monarchie als Irrweg und Handikap auf dem Weg zu bürgerlicher Reform abzuwerten. (…)
Analog dazu wird man die zahlreichen, vor allem auf Berlin konzentrierten Bemühungen zu werten haben, den gefallenen Barrikadenkämpfern auf dem Friedhof in Friedrichshain ein Denkmal zu setzen (…). Hier lagen die Wurzeln für die Ursprungslegende deutscher Arbeiter, in der Revolution von 1848 erstmals politisch mit Forderungen zur Geltung gekommen zu sein. Ihre Traditionspflege klagte die unvollendete Revolution im Sinne der Arbeiterbewegung ein. (…)
Als sich das Datum der Märzrevolution zum fünfundzwanzigsten Male jährte, bot sich im Rhythmus der bedeutenden Gedenktage erstmal der Anlass intensiverer Rückschau an. (…)
Nachdem das fünfundzwanzigjährige Jubiläum 1873 noch ganz im überwältigenden Schatten der ¸Bismarckschen Reichseinigung´ gestanden war, kristallisierte sich im Umfeld und anlässlich der Feiern 1898 zum Fünfzigjährigen eine neuartige Konstellation heraus. Hier geriet auch den Konstitutionell-Liberalen die Revolution von 1848 zu einem Werkzeug im politischen Tageskampf, denn ihr historischer Mythos lautete nun, die Reichseinigung von 1871 habe ihren Ursprung im früheren Streben der Paulskirche. Der Reichstag diskutierte in einer unglaublich emotionalisierten Atmosphäre, ausgelöst durch eine Initiative August Bebels, über die gewollte oder verdrängte Revolution. Die Liberalen beschworen die nationale Errungenschaft des geeinten Reiches und beriefen sich auf den 18. Mai 1848 als Zusammentritt des Paulskirchenparlaments; die Sozialdemokraten fühlten sich demgegenüber den Barrikadenkämpfen des 18. März 1848 in Berlin verpflichtet und behandelten die Revolution mit Blick auf die soziale Ungleichheit und politische Zurückstellung breiter Bevölkerungsschichten als noch unvollständig und nicht hinreichend eingelöst. Dass die Revolution auf je verschiedene Weise polarisierte und nicht nur Demokraten und Sozialisten einerseits, Liberale und Konservative andererseits trennte, offenbarte sich in den zeitgleichen Richtungskämpfen der Sozialdemokratie. (…)
Im Kaiserreich begannen auch die Bemühungen, die Revolution als historisches Ereignis ernst zunehmen und zugänglich zu machen. Das geschah anlässlich einer großen Ausstellung zu 1848 in Frankfurt im damaligen Historischen Museum, wo erstmals dieser Teil der eigenen Zeitgeschichte als ausstellungs-würdig dokumentiert wurde – bezeichnenderweise in Frankfurt und nicht in Berlin, wo es 1898 noch gelang, abermals die Errichtung eines Denkmals für die Märzgefallenen zu vereiteln. Auch die Wiener erwiesen sich als höchst erinnerungsfeindlich, indem der Wiener Gemeinderat die Errichtung eines Denk-mals für Robert Blum in diesem Jahr verhinderte. [Anm. des Verfassers: Ende des 19. Jahrhunderts war der Wiener Gemeinderat extrem reaktionär eingestellt, da ab 1897 mit Karl Lueger ein ausgewiesener Antisemit das Amt des Bürgermeisters „bekleidete“; und der Kaiser von Österreich-Ungarn hatte von Natur aus wenig Sympathie für Blum als gebürtigen Kölner] Die Frankfurter Ausstellung von 1898 behandelte die Revolution in erster Linie als Teil der Stadtgeschichte. Abbildungen der Paulskirche, Einzug der Parlamentarier (…) sowie Darstellungen der Frankfurter Barrikadenkämpfe wurden dem Publikum präsentiert.
Bald nach der Jahrhundertwende setzte sich dieser Trend auch in der historischen Wissenschaft fort (…). Die Kulturgeschichte gewann an Gewicht (…). Damit war innerhalb der historischen Wissenschaft der Bann gebrochen, und es war nicht mehr unmöglich, auch öffentlich für die Erinnerung an 1848 hervorzutreten (…).
Heute würde man sagen: Das war der entscheidende Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Umgang mit der Revolution, so schwierig der künftige Weg später noch sein sollte.
Auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, in der jungen Weimarer Republik, als sich das Gedenken an die Revolution zum fünfundsiebzigsten Male jährte, setzte man sich mit ihr auseinander. (…)
Nicht zuletzt die Weimarer Reichsverfassung bezog sich unmittelbar auf die Reichsverfassung von 1849. (…) Vor allem die Mehrheitssozialisten und Linksliberalen blickten auf 1848, wenn sie Orientierung in der soeben erfahrenen Revolution suchten. Sie deuteten 1918 als Vollendung von 1848, wobei Deutschland sich verspätet in die westeuropäische Geschichte eingereiht habe. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg »begann sich dieser Außenseiterblick in ein Mehrheitsmodell zur Erklärung der jüngeren deutschen Ge- schichte zu verwandeln«. Nicht nur in der Epoche der Konstituierung 1918/19, sondern mehr noch anläßlich des fünfundsiebzigjährigen Jubiläums war die Erinnerung an 1848 lebendig. Alle namhaften Tageszeitungen setzten sich 1923 mit dem Erbe auseinander, und durchaus auch mit zustimmender Tendenz (…). Gräben wurden auf der Rechten aufgerissen (…). Doch in öffentlichen Kundgebungen fand das Gedenken an 1848 ein lebhaftes Echo (…). Die Reichsregierung und Vertreter sämtlicher deutscher Länder waren präsent; Reichspräsident Friedrich Ebert hielt die Festansprache. Von den Fraktionen des Reichstages waren alle mit Ausnahme der Kommunisten und Deutschnationalen vertreten. Auch in Weimar wirkte die Erinnerung an 1848 trennend und zugleich sinnstiftend.
Die Vorkämpfer für die Weimarer Republik, die Verfassungspatrioten, bekannten sich 1923 offen zur Tradition von 1848 und warnten, es gebe keine freiheitliche Alternative. (…)
Es verwundert kaum, daß während der Zeit des Nationalsozialismus nur das »Großdeutsche« an dem Frankfurter Einigungsversuch betont wurde. Adolf Hitler proklamierte (…) »das neue Großdeutsche Reich«, und dahinter verbarg sich zugleich eine lange Tradition deutschösterreichischer Beschwörung Großdeutschlands, die schon 1866 einsetzte, die sich 1918 mit dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie verstärkte (…).
Einen fundamentalen Einschnitt stellte das Jahr 1948 dar. In spektakulären Veranstaltungen in Frankfurt und in Berlin gedachten das entstehende Deutschland-West und Deutschland-Ost der Revolution: hier die Tradition der Frankfurter Paulskirche, dort der blutigen Barrikadenkämpfe vom März 1848. Es entspann sich ein Kampf um Symbole und insgesamt um das Erbe, wobei beide Seiten vorgaben, das gemeinsame Erbe der deutschen Einheit hochhalten zu wollen. (…) Es mag verwundern, daß sich angesichts des Elends der Nachkriegszeit Sinn und Geld zum Feiern einstellten. (…) Ein genaueres Hinsehen lehrt (…).
Das rührt an den zentralen Punkt dieser Jahrhundertfeiern: Inwiefern waren sie bereits Abbild der deutschen Spaltung? Inwieweit offenbarten sie einen Kampf um das historische Erbe?“ (36)
An dieser Stelle soll die Darstellung des Historikers Siemann enden: Der von ihm beschriebene Streit um das historische Erbe von 1848 einhundert Jahre später war ebenfalls Ausdruck einer „erinnerungspolitischen Wende“ und soll letztlich bedeuten, dass immer eine gewisse Vorsicht oder gar Skepsis geboten ist, wenn Politiker komplexe historische Geschehnisse auf eine Handvoll Details reduzieren und damit eine eigene Erzählung (und Ideologie) präsentieren wollen.
Um dies noch einmal mit anderen Schwerpunkten verdeutlichen zu wollen, wird auf die Beschreibung von Prof. Kocka hingewiesen (besonders zum Verlauf der Debatten im Jahr 1898):
„Es gehört zur Geschichtsmächtigkeit der großen neuzeitlichen Revolutionen, daß sie nach ihrem Ende weiterlebten: in den Köpfen der Menschen, in Erinnerungen und Ritualen, in den politischen Kämpfen der Kinder, Enkel und Urenkel, natürlich auch in den Büchern der Historiker. (…)
Zum 25. Jahrestag fanden 1873 am linken Rand des politischen Spektrums vereinzelt Gedenkfeiern statt, die größte im Friedrichshain bei Berlin. Hier hatte man 1848 256 der über 300 Berliner „Märzgefallenen“ feierlich beigesetzt, getötete Barrikadenkämpfer vom 18./19. März. Das dort geplante Totendenkmal wurde nicht gebaut. Während der fünfziger Jahre waren öffentliche Veranstaltungen an den Gräbern verboten, Absperrungen erschwerten den Zugang selbst für die Angehörigen, und mehrfach hatte man erwogen, die Gebeine der Toten zu verlegen und die Grabstätte zu planieren, um sie „möglichst der Vergessenheit anheimfallen zu lassen“.
Das unterblieb, in den sechziger Jahren nahm der Spielraum für politische Diskussionen und öffentliche Veranstaltungen wieder zu, und am 18. März 1873, zwei Jahre nach der Reichseinigung, organisierte die Berliner Sozialdemokratie einen eindrucksvollen Demonstrationszug nach Friedrichshain, an dem mehr als 20.000 Menschen teilgenommen haben sollen. Man sang die „Arbeitermarseillaise“, hörte politische Reden, gedachte der „Märzkämpfer“ von 1848, des Volks von Berlin und vor allem der beteiligten Arbeiter. Man rühmte ihren Mut, betrauerte ihr Scheitern und würdigte ihr Opfer. Zugleich gedachte man der Erhebung der Pariser Kommune im März 1871. Hunderte von Kränzen wurden niedergelegt, größtenteils mit roten, bisweilen mit schwarz-rot-goldenen Schleifen. Die Polizei prüfte sie einzeln und schnitt sie ab, wenn sie Inschriften enthielten, die der „Verherrlichung der Revolution“ zu dienen schienen. Es kam zu Zusammenstößen und Verhaftungen.
In Frankfurt trafen sich vor allem süddeutsche Linksliberale und Demokraten zum 25. Jubiläum der Eröffnung des Vorparlaments am 31. März 1873 und beschworen die Volkssouveränität, die 1848 vergeblich verfochten worden sei. Das Deutsche Reich von 1871 habe die 48er Forderungen nicht eingelöst. Man hoffte auf eine baldige „dritte Reichsverfassung“, wenn auch nicht ausdrücklich auf eine weitere Revolution.
25 Jahre später, am 18. März 1898, debattierte der Reichstag Fragen der Militärstrafgerichtsordnung. August Bebel sprach sich vehement gegen ein Sonderrecht für Offiziere aus. Er sah darin ein Überbleibsel der feudalen Ordnung und erwähnte, wie beiläufig, aber in Wahrheit scharf kalkuliert, daß vor genau fünfzig Jahren in Berlin „der große Kampf‘ entbrannt sei, in dem das Volk nicht nur um seine Freiheit, sondern auch um seine bürgerliche Gleichheit kämpfte – schon damals gegen das preußische Junkertum und das von ihm vertretene System. Und, fügte Bebel provozierend hinzu, »das deutsche Bürgertum ist [so] tief gesunken, daß es nicht den Mut besitzt, gegenüber der Anmaßung gewisser Gesellschaftsschichten sein Recht und seine Freiheit zu wahren«.
Daraufhin verlief die Debatte auf zwei Ebenen. Ein Redner nach dem anderen unterbrach seine Ausführungen zur Militärstrafgerichtsbarkeit, um zur fünfzig Jahre zurückliegenden Revolution Stellung zu nehmen, der offiziell überhaupt nicht gedacht werden sollte. (…)
Der konservative Abgeordnete von Puttkamer erklärte, die Revolution von 1848 sei »hauptsächlich von ausländischem Gesindel angezettelt worden, welches unser gutes treues Volk verführt hat, die Waffen gegen seinen König zu heben«. Er meinte wohl Franzosen und Polen. Hätte die Revolution wirklich gesiegt, wäre es den Deutschen ergangen wie 1789 den Franzosen.
Der freikonservative Freiherr von Stumm-Halberg konnte »über die damaligen Straßenkämpfe, über die sogenannte Märzrevolution nur ein Gefühl der tiefsten Scham empfinden«. Die Straßenkämpfe seien überdies siegreich niedergeschlagen worden, bevor das Heer des Königs freiwillig abgezogen sei. Die preußische Verfassung sei nicht von den Straßenkämpfern erzwungen, sondern ein »freies Geschenk« des Königs gewesen. Zwischendurch machte Liebermann von Sonnenberg, Abgeordneter der antisemitischen Partei, die Juden für die Revolution verantwortlich. (…)
Bebel, der mehrfach das Wort ergriff, behauptete, daß eine erfolgreiche Nationalstaatsbildung im Sinne der 48er Revolution Bismarck und seine Reichsgründung unnötig gemacht hätte, und damit auch den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Der Nationalliberale von Bennigsen widersprach. Auch wenn die »bürgerliche Klasse« statt der Fürsten das Regiment übernommen hätte, wäre das Verhältnis zwischen den Völkern nicht friedlicher, nicht brüderlicher geworden. »Der große Kampf gegen Frankreich … war absolut erforderlich«. Im übrigen habe sich der 18. März mit seinen Straßenkämpfen für das Ziel eines starken, einheitlichen Nationalstaats nur »verhängnisvoll und störend« ausgewirkt. Er und seine Freunde bauten dagegen auf der Erinnerung an das Frankfurter Parlament weiter fort, das »zusammengesetzt aus den besten Kräften der ganzen Nation, den ersten ernsthaften Versuch gemacht hat, die Umgestaltung von Deutschland herbeizuführen«. Die Debatte nahm an Härte und Schärfe zu. (…)
Warum? Zum Teil verteidigten die Abgeordneten ihre eigene Jugend, in der sie die Revolution selbst mit-erlebt hatten, in unterschiedlicher Position. Sie setzten die damaligen Kämpfe fort oder rechtfertigten ihren Gesinnungswandel. Doch die Erregung hatte auch allgemeinere Gründe. Im Streit über 1848 ging es um Gewalt und ihre historische Deutung, um den Sinn von Opfern und ihre Vergeblichkeit, um Krieg und Verfassung, Moral und Politik. Es ging um die Frage, ob es zu diesem Kaiserreich eine bessere Alternative gegeben hätte. Man konfrontierte monarchische Legitimität und Volkssouveränität. Deren Verhältnis blieb in der konstitutionellen Monarchie des Kaiserreichs bekanntlich in der Schwebe. Trotz der neuen Wende, die Bismarck der deutschen Geschichte gegeben hatte, wirkten die Fronten von 1848/49, wenngleich modifiziert, weiter. In ihnen spiegelten sich innere Konflikte des Kaiserreichs. (…)
Anders als das Kaiserreich stellte sich die Weimarer Republik bewußt in die Tradition von 1848 und dokumentierte dies in einer großen, offiziellen Gedenkfeier zum 75. Jahrestag, aber nicht am 18. März in Berlin, sondern am 18. Mai in Frankfurt. (…)
Die in den Zeitungen stark beachteten Feierlichkeiten und Reden beschworen einen schwarz-rot-goldenen Konsens. Sie betonten einerseits das nationale Erbe der 48er Revolution, und nutzten es zu Hieben auf die Franzosen – der Ruhrkampf hatte begonnen. Sie zitierten auch das liberale und demokratische Erbe der Revolution und interpretierten den „Volksstaat“ von 1919 als Erfüllung der Forderungen von 1848. (…)
Insgesamt wurde deutlich, daß in der Erinnerung an diese Revolution jetzt auch bereits ein gewisses Versöhnungspotential steckte, wenn man denn wollte und sich auf den Boden der Republik und ihrer Verfassung stellte. Von der Schärfe des Deutungskonflikts und der Bitterkeit des Kampfes um den historischen Ort der Revolution, so typisch noch für den 50. Jahrestag, war zum 75. wenig zu spüren. Weltkrieg und Revolution hatten die Konstellation verändert, die lebensgeschichtliche Kontinuität war gebrochen. (…)
Die Sozialdemokraten feierten dagegen doch lieber im Friedrichshain, wo man Ende 1918 auch Opfer der Novemberrevolution beigesetzt hatte. Der sozialdemokratische „Vorwärts“ lobte auch noch 1923 vor allem die Märzkämpfer, während er den fehlenden Mannesmut der Bürger tadelte. Sein Verhältnis zur Paulskirche blieb distanziert. Sie sei ausgegangen »wie das Hornberger Schießen«. Weiter links, zum Beispiel bei der USPD, waren viele mit den Ergebnissen der Novemberrevolution zutiefst unzufrieden, auf sie muß das 48er Revolutionslob schal gewirkt haben. (…)
Und es gab große politische Lager, die sich bewußt außerhalb stellten. Die Kommunisten schickten zwar Kranz und Abordnung in den Friedrichshain, zum »Gedenken der gefallenen proletarischen Kämpfer«, und zwar am 18. März zwischen 12.30 und 13.30 Uhr. Ab 14.00 Uhr war der Friedhof für die Sozialdemokraten reserviert, sie kamen in großer Zahl. Auf diesen Stundenplan hatte man sich geeinigt, um Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu vermeiden. Im übrigen hielt aber die KPD wie schon Lenin und Luxemburg demonstrative Distanz zur ,,kleinbürgerlichen“ Revolution von 1848.
(…) Am Kampf der deutsch-nationalen Reichstags-Fraktion gegen die Farben Schwarz-Rot-Gold zeigte sich ihr Vorbehalt gegen die 48er Tradition sehr deutlich. Bekanntlich durften die Reichswehr, die Handelsschifffahrt und schließlich gewisse deutsche Auslandsvertretungen weiterhin Schwarz-Weiß-Rot flaggen. Die Weimarer Republik hat es nie zu einheitlichen Staatsfarben gebracht. Insgesamt: Seit 1898 hatte die Integrationskraft der 48er Tradition zugenommen. Die Erinnerung an 1848 blieb jedoch in sich vielfältig, jeder hatte „sein 48″ und instrumentalisierte es ohne Bedenken. Die Erinnerung an die Revolution blieb kontrovers. Wie ein Lackmuspapier spiegelte sie die inneren Fronten der Weimarer Republik. (…) Zur Hundertjahrfeier 1948 waren die alten Fronten gründlich verblaßt. (…) Neben manchen anderen deutete Ernst Reuter die Richtung an, die von Publizistik und Geschichtswissenschaft in den folgenden Jahren immer stärker erkundet wurde. In einem Gedenkartikel sprach er davon, daß die Niederlage in der Revolution von 1848 dem freiheitlichen Bürgertum das Genick gebrochen, Untertanengesinnung befestigt und den Sieg des zunehmend militaristischen Obrigkeitsstaats ermöglicht habe – mit langfristig verhängnisvollen Folgen für die Entwicklung der freiheitlichen Demokratie in Deutschland und mit drückenden Hypotheken bis in die Gegenwart, die es abzutragen gelte. In lebhaftem Pro und Contra und mit viel empirischer Forschung ist diese These vom deutschen „Sonderweg“ 1848-1933 in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer neu diskutiert worden.
Zum anderen stand die Hundertjahrfeier im Zeichen des Kalten Kriegs, besonders hier in Berlin. Er wirkte wie ein Riesenmagnet mit sich gegenseitig abstoßenden und anziehenden Polen, deren Kraftfeld die Argumente neu sortierte. (…)
Entsprechend komplementär entwickelten sich die Bilder und halbierten die Revolution: im Westen der Primat der Freiheit und die Kritik an der Diktatur, im Osten zunächst noch die Betonung der Einheit und die Weiterentwicklung der alten Bourgeoisie-Kritik zur Polemik gegen den Westen. Hier blieb die Nationalversammlung im Zentrum der Interpretation, an deren Werk das Bonner Grundgesetz anknüpfte, mit der Frankfurter Paulskirche als wichtigstem Erinnerungsort; dort die Volksbewegung zunehmend in klassengeschichtlicher Überspitzung, die Märzgefallenen und ihre Grabstätte als vielfach verwendbarer lieu de memoire. Zur Berufungsinstanz der Kritik an der Diktatur wurde die Erinnerung an 1848 in der DDR nicht, anders als etwa in Ungarn.
Die Sonderweg-These hat viel Forschung angeregt und zur historischen Selbstverständigung der Deutschen beigetragen. Im Lauf der Zeit hat sie sich gründlich verändert. Widerlegt wurde sie nicht. Zur Interpretation der 48er Revolution trägt sie allerdings heute kaum noch etwas bei. Je größer die Distanz zur nationalsozialistischen Zeit, desto geringer die Aussicht, 1848 sub specie 1933 tragfähig zu deuten. Zu bedenken ist auch, daß die Revolution in fast allen europäischen Ländern verlorenging, in denen sie 1848 auftrat. Die Niederlage der Revolution konstituierte keinen deutschen Sonderweg. Die Verknüpfung von 1848 und 1933 ist dünn.“ (37)
Soweit die Beschreibungen zweier hervorragender Fachhistoriker zur „Überlieferungsgeschichte“ und der konträren Erinnerungskultur zu „1848“.
Neben den gleich mehrfachen „erinnerungspolitischen Wendungen“ während der letzten gut 150 Jahren, sollte noch ein Aspekt verdeutlicht werden: Nicht immer stimmen die historischen Fakten, die wissenschaftlich verifizierbar sind, mit den Reden von (Berufs-)Politikern, die ihre eigene „Agenda“ verfolgen, überein. Problematisch kann ein solches Auseinanderfallen von Wirklichkeit und Mythos werden, wenn die tatsächlichen gesellschaftspolitischen Verhältnisse hiervon betroffen sind.
IV) Fazit
Bundespräsident Steinmeier legte in seiner Rede am 18. Mai 2023 besonderen Wert darauf hinzuweisen: „Am allerwichtigsten ist für mich: Revolution und Paulskirche gehören zusammen. Ohne den entschiedenen Bürgermut, ohne die revolutionären Bewegungen an vielen Orten Deutschlands wäre es nicht zum Vorparlament und nicht zur Nationalversammlung in der Paulskirche gekommen. Diese Nationalversammlung war das Ergebnis eines demokratischen, freiheitsverlangenden Aufbruchs aus dem Volk“.
In dieselbe Richtung geht sein Bekenntnis: „Dass wir immer noch Erben von Märzrevolution und Paulskirche sind: Erben des Bürgermutes der Barrikadenkämpfer (…)“.
„1848/49 waren schwierige Lehrjahre der Demokratie. Denn damals wurden auch jene Gegenkräfte hervorgerufen, die uns bis heute vor Herausforderungen stellen. (…)
Heute wissen wir: Auch die scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den damals so genannten „Demokraten“ und „Liberalen“ gehören mit zu den Ursachen des Scheiterns von 1848/49“ (Steinmeier).
Ob wenigstens den Zuhörern und Zuhörerinnen in der ersten Reihe anlässlich der Festrede in der Frankfurter Paulskirche am 18. Mai 2023 der Widerspruch zwischen dem überschwänglichen Lob für die „Errungenschaften“ der Paulskirche einerseits und dem Eingeständnis des Scheiterns der 48er Revolution andererseits aufgefallen ist, kann nur schwer beurteilt werden. (38)
Richtig stringent sind die unterschiedlichen Themen und Gesichtspunkte, die der Bundespräsident an- schneidet, also nicht miteinander verbunden; eine mögliche Folge der eingangs erwähnten „erinnerungspolitischen Wende“? (39)
Auch wenn in einer üblichen Festrede ohnehin nur ganz wenige Höhepunkte des zu würdigenden Ereignisses skizziert werden können, so dass auch der Bundespräsident und die Bundestagspräsidentin am 18. Mai 2023 keine Ausnahme gebildet haben und sicher bemüht waren, ihre Aufgabe zu erfüllen, stellt sich abschließend doch die Frage, wie sich die allgemeinpolitische, aber auch verfassungsrechtliche Situation seit 1848/49 entwickelt hat.
Zu allgemeinpolitischen Entwicklungen soll an dieser Stelle nicht mehr gesagt werden, als im vorstehenden Text bereits angeschnitten worden ist.
Zu verfassungspolitischen und -rechtlichen Fort- wie Rückschritten der letzten 175 Jahre würde es natürlich sehr viel zu sagen geben (es hat ja Gründe, warum unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 eine ganze Rechts- und Verfassungsordnung „vor die Hunde ging“).
Aus Platzgründen sollen aber lediglich drei Punkte kurz thematisiert werden:
1) Rückschritte in der Rechtspflege
Wie in den „13 Forderungen des Volkes in Baden“ bei der ersten Offenburger Versammlung im September 1847 gefordert, sollten sog. Geschworenengerichte eingesetzt werden (in Artikel 11).
Die Forderung nach Errichtung von Schwurgerichten war im 19. Jahrhundert deswegen heikel, weil damit die bisherige Justizpolitik kritisiert und deren Modernisierung gefordert wurde. Mit der Beteiligung von Geschworenen – insbesondere im Strafrecht – sollten „normale“ Bürger (sog. Laien) gleichberechtigt mit den staatlichen Richtern bei der Durchführung von Gerichtsverfahren beteiligt werden (auf die unterschiedlichen Details zur Besetzung bzw. zur Aufgabenverteilung in den Spruchkörpern braucht hier nicht eingegangen zu werden). Wichtig ist nur, dass das Volk auf seiner Mitwirkung insbesondere in Strafprozessen bestanden hat (Stichwort: „Gleichheitsschub“, siehe oben).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich diese Forderung dann auch tatsächlich durchgesetzt; doch bereits im Jahr 1924 (im Rahmen der sog. Emminger-Reform) wurde dieses volkstümliche Element in der deutschen „Rechtspflege“ aus Kostengründen wieder zurückgefahren. Die heutigen Schöffengerichte sind nur noch ein schwacher Abklatsch (aber billiger und für die Berufsrichter unkomplizierter).
Doch neben der faktischen Abschaffung der Geschworenengerichte (die eine zentrale Forderung der „48er“ gewesen sind) ist heute ein ganz anderer verfahrensrechtlicher Missstand besonders in der „Strafrechtspflege“ eingetreten: die teils inflationäre Anwendung des sog. „Strafbefehls“ und die Ausweitung des sog. Beschleunigten Verfahrens (§§ 407 – 420 Strafprozessordnung).
Wenn aus Kostengründen die Durchführung eines „ordentlichen“ Strafverfahrens nicht mehr gewünscht wird, weil der „Staat“ die Steuergelder lieber für andere „Projekte“ ausgeben will, statt die Justiz insgesamt zu stärken (neben einer besseren Personalausstattung auch mehr Fortbildung), dann muss von einem Rückschritt im Vergleich zu den politischen Forderungen der „48er“ gesprochen werden; dabei wird an dieser Stelle die ganze unsägliche Entwicklung namens „Digitalisierung der Justiz“ noch nicht einmal erwähnt; denn hierbei erfolgt lediglich (eine extrem teure und technisch anfällige) Augenwischerei!
2) Unverletzlichkeit der Wohnung?
Ein weiteres (im Bewusstsein der Bevölkerung eher unterrepräsentiertes Thema) ist die Aushöhlung des eigentlich verfassungsrechtlich garantierten „Schutzes der Wohnung“ (heute Art. 13 Grundgesetz, damals Abschnitt VI, Art. III, § 140 Paulskirchen-Verfassung).
Obwohl im aktuellen Grundgesetz zumindest der Eingangssatz sogar wortgleich zur Fassung von 1848/49 ist, wäre durchaus zu fragen, inwieweit die Wohnung heute tatsächlich „unverletzlich“ ist; dabei fällt bereits beim direkten Vergleich der Textfassungen auf, wie extrem aufgebläht der heutige Grundgesetzartikel 13 gegenüber der Vorschrift von 1848 erscheint – allein schon das Verhältnis der jetzt insgesamt sieben Absätze zueinander dürfte den „Staatsbürger“ als Grundrechtsträger verwirren.
Zunächst soll darauf hingewiesen werden, dass der in der Verfassung garantierte „Schutz der Wohnung“ Ausfluss der sog. Habeas-Corpus-Akte ist (Schutz der Bürger vor willkürlicher Verhaftung). Als „Reflex“ muss dann auch die eigene Wohnung vor willkürlicher Durchsuchung geschützt sein.
Von vielen (vielleicht vorschnell) ausgestellten Durchsuchungsanordnungen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren abgesehen, die ja im Regelfall von Volljuristen verfügt werden, gibt es – jeden Tag! – zahlreiche Wohnungsdurchsuchungen, bei denen die fachjuristische Absicherung völlig fehlt!
Einerseits erlaubt die Zivilprozessordnung dem Gerichtsvollzieher (oft bloße Verwaltungsangestellte) im Rahmen der Zwangsvollstreckung die Durchsuchung der Wohnung eines Schuldners.
Wenn man weiß, dass sehr viele „Titel“, die der Vollstreckung von Geldforderungen zugrunde liegen, sog. Vollstreckungsbescheide sind, die im „gerichtlichen Mahnverfahren“ erlassen werden, ohne dass auch nur ein Richter in dieses summarische Verfahren involviert wird, kann man davon ausgehen, dass eine sehr hohe Zahl von rechtswidrigen „Titeln“ von Gerichtsvollziehern, die sich um die materielle Rechtslage gar nicht kümmern müssen, z.B. durch Sachpfändung vollstreckt werden; dabei kommen sehr oft „Hausbesuche“ vor, die mangels ordnungsgemäßer Rechtsgrundlage eigentlich unzulässig sind, so dass Artikel 13 Grundgesetz für viele Menschen in Deutschland völlig wirkungslos bleibt. (40)
Andererseits gibt es auch insoweit noch eine Steigerung – und zwar in der Abgabenordnung (AO). Gemäß § 287 Abs. 4 AO kann der Vollziehungsbeamte vom Finanzamt (ebenfalls kein Jurist) in der Praxis ohne größere Probleme die Wohnung eines Steuerpflichtigen durchsuchen. (41)
In der Regel wird die Grundlage hierfür ein „Steuerbescheid“ sein; derartige Verwaltungsakte werden also von der gleichen Behörde (Finanzamt) erlassen, die auch für die Beitreibung inkl. Zwangsvollstreckung zuständig ist – außerhalb des „öffentlichen Rechts“ stellte dies einen Interessenkonflikt dar.
Wenn man weiß, wie viele Steuerschätzungen jedes Jahr ohne sachgerechte Veranlagung erfolgen, wer weiß, wie viele Zwangsgelder etc. Grundlage von Beitreibungsmaßnahmen der Finanzbehörden werden bzw. wie viele inhaltlich falsche Steuerfestsetzungen erfolgen, kann nur annähernd ahnen, wie oft dann als Folge rechtswidriger Steuerbescheide auch § 287 AO zur Anwendung kommt.
Dass dann im Regelfall auch noch die Richter bei den Amtsgerichten, die (aber auch nur grundsätzlich) für den Erlass der Durchsuchungsanordnungen zuständig sind, vom Steuerrecht insgesamt (bezogen auf die Einzelsteuergesetze, aber auch auf die Abgabenordnung) keine Ahnung haben, macht die Sache nicht wirklich besser; selbst die von vielen Steuerpflichtigen beauftragten Steuerberater (meist Betriebswirte) sind hier überfordert, da die Abgabenordnung nur von Fachleuten halbwegs beherrscht wird. (42)
Soweit alltägliche Praxisbeispiele für die Aushöhlung des Grundsatzes von der „Unverletzlichkeit der Wohnung“ (sofern man in den Ballungsgebieten überhaupt noch bezahlbaren Wohnraum findet).
3) Vorverlagerung von Eingriffsbefugnissen
Nur kurz soll auf ein insbesondere seit einigen Jahren verstärkt auftretendes Problem im Verfassungsrecht hingewiesen werden, dass nämlich in vielen Landesgesetzen die Eingriffsbefugnisse vor allem der Sicherheitsbehörden immer weiter vorverlagert werden.
Dies betrifft natürlich zuerst die sog. Polizeiaufgabengesetze bzw. Sicherheits- und Ordnungsgesetze der Bundesländer; geht dann über die Ausweitung von Befugnissen der Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern nebst Bundesnachrichtendienst weiter – bis, und das wird viele wundern, zur (ursprünglich hoch gelobten) „Datenschutz-Grundverordnung“. Denn auch in diesem gesetzlichen Ungetüm wurden, für Laien nicht erkennbar, Eingriffsbefugnisse zugunsten der Landesdatenschutzbeauftragten gegen Privatpersonen implementiert: Seitdem bekommen z.B. Versender vor Rundmails, die gutmütig oder unwissend den Kreis der Verteiler offenbaren, Bußgeldbescheide. (43)
Von diesen (vielleicht bloßen) Einzelfällen abgesehen, gehen aber erste Bundesländer dazu über, nicht nur bei den eigentlichen „Polizeigesetzen“ aufzurüsten, sondern auch bei den spezielleren Versammlungsgesetzen.
Beispiel: Das Bundesland Hessen hat im Frühjahr 2023 ein „Versammlungsfreiheitsgesetz“ eingeführt, gegen das die Kritiker anführen, die „Freiheit“ könne zugunsten der Staatsmacht relativ einfach (Stichwort: unbestimmte Rechtsbegriffe, wie z.B. „Einschüchterungsverbot“ in § 9) eingeschränkt oder gleich ganz außer Kraft gesetzt werden.
Dabei hat doch besonders das Land Hessen seit Jahren ein Problem mit „schwarzen Schafen“ in den Reihen der eigenen Polizei (Nazi-Chatgruppen, illegale Datenabfragen oder einfach nur ein bisschen Mobbing). Doch auch andere Bundesländer (NRW oder jüngst Thüringen) haben ihre Sorgenkinder in Uniform. Das kann dann auch nicht mehr als die sog. „bedauerlichen Einzelfälle“ abgetan werden, bei diesen Phänomenen liegen die Ursachen tiefer, ähnlich wie beim Racial Profiling. (44)
Ein Grund zum Feiern ist das alles nicht.
Doch auch an dieser Stelle muss man etwas tiefer graben: Spätestens seit den frühen 1980er Jahren hat sich in der verwaltungswissenschaftlichen Literatur der Begriff vom „Schutzstaat“ etabliert (ursprünglich sogar positiv besetzt, da es um die Anfänge der Gesetzgebung zum Schutz der Bürger vor Gefahren der Technik, vor Umweltgefährdung bzw. um den Schutz der natürlichen Ressourcen ging). Doch nach und nach haben diese „technischen Gesetze“ überhandgenommen und wurden nicht nur immer detaillierter und komplexer, sondern bieten die Gefahr, dass sich die Menschen gegängelt und bevormundet fühlen.
Erschwerend kommt hinzu, dass nun schon seit einigen Jahren der „Staat“ immer häufiger die wirtschaftlichen und finanziellen Einbußen der Bürger ausgleichen soll (gutes Beispiel: Tankrabatt). Dies führt bedauerlicherweise zu einem wachsenden Anspruchsdenken: die Bundesrepublik als „Nanny-Staat“ (viele Berufspolitiker hassen diese Bezeichnung). Doch wer zahlt, bestimmt, soll heißen: Setzt sich diese Entwicklung zum „Nanny-Staat“ immer weiter durch, will dieser auch immer mehr Befugnisse, um seine (Landes-)“Kinder“ zu „betreuen“.
Das u.a. auch von Kant benutzte Beispiel (bezogen auf „absolute“ Strafrechtstheorien), der Bürger solle „Männchen“ machen, wenn ihm der Staat ein „Stöckchen“ hinhält, verdeutlicht den möglichen Rückschritt in eine erneute Untertanengesellschaft. Diesmal (im Gegensatz zum 18. Jahrhundert) noch verstärkt durch die offensichtlichen Gefahren der Digitalisierung. Auch dies würde keinen Grund zum Feiern darstellen.
Soweit die möglichen Auswirkungen bezogen auf eine immer stärker um sich greifende Vorverlagerung von Eingriffsbefugnissen staatlicher Stellen.
Der von George Orwell entworfene „Staat der Zukunft“ wäre in der heutigen Zeit totalitärer als zur Nazi-Zeit (nicht weil skrupellose Konzerne die Technik dafür entwickelt haben, sondern weil die Gefahr besteht, dass „der Staat“ immer monströser werden könnte; der „Leviathan“ oder auch der „Behemoth“ wäre dann wirklich zum ersten Mal richtig real).
4) Um an dieser Stelle die in der Überschrift dieses Beitrags formulierte eher negative Beschreibung des Endes von 1848/49 abzuschließen, soll auf Heinrich Heine hingewiesen werden. Er, der wie kein zweiter Leidtragender der „bleiernen Zeit“ des sog. Vormärz gewesen ist, hat in seinem Spätwerk ein Gedicht verfasst, Titel: „Im Oktober 1849“.
Nachdem im Herbst 1849 auch die letzten revolutionären Erhebungen in Südosteuropa von den zusammengewürfelten Armeen Österreichs und Russlands brutal niedergeknüppelt worden waren, erfolgte eine endlose Kette von Hochverratsprozessen – die Standgerichte kamen gar nicht mehr zur Ruhe (noch exzessiver als im Vorjahr, als Robert Blum der Reaktion in Österreich zum Opfer fiel).
Der bereits damals schwerkranke Heine war natürlich deprimiert und auch resigniert, konnte aber gleichwohl mit der ihm eigenen Sprachgewalt die Stimmungen und die Gefühlslage einfangen.
Von Glück und Hoffnung war da nichts zu finden, was den „Erinnerungspolitikern“ 2023 zu denken geben sollte.
Auch wenn die nach 1945 entwickelte Theorie vom deutschen Sonderweg nicht als monokausale Herleitung der geschichtlichen Ereignisse des gesamten 20. Jahrhunderts dienen kann, einige Details treffen dann aber doch zu:
Mit dem endgültigen Scheitern des Verfassungsgebungsprozesses im Frühsommer 1849 war das ohnehin schon vorhandene Ungleichgewicht im Verhältnis von „Staat und Gesellschaft“ nicht nur wieder auf dem Stand eines status quo ante (also zu Beginn des Jahres 1848), sondern die rücksichtslos einsetzende Reaktion in nahezu allen deutschen Bundesstaaten führte sogar zu einer Vertiefung der politischen und sozialen Gräben.
Im Ergebnis waren am Ende des Revolutionsjahres die alten Gewalten im Militär und der obrigkeitsstaatlichen Bürokratie mächtiger und wirkungsvoller als zuvor.
Eine Entwicklung, die besonders in Deutschland mit einem ausgeprägten Wohlwollen für den „starken Staat“ längerfristige Konsequenzen haben sollte.
Längerfristig insofern als es nur mit Hilfe des (hauptsächlich preußischen) Militärs gelingen sollte, ab 1864 dann die preußisch dominierte staatliche Einheit in Gestalt des deutschen Kaiserreichs von 1871 zu realisieren. Zu den längerfristigen Nachwirkungen des Scheiterns der 1848er Revolution zählen dann auch der spätestens mit Thronbesteigung Wilhelms II. über Hand nehmende Nationalismus, Chauvinismus, nebst imperialistischer Tendenzen.
Das Scheitern von „1848“ war zwar keine notwendige Bedingung für den 30. Januar 1933 (noch viel weniger für die Konzentrationslager, den Holocaust und die Verwüstung der europäischen Kultur), hat aber der deutschen Gesellschaft (dem Bürgertum, der Arbeiterschaft und den Bauern) für eine sehr lange Zeit das „Rückgrat“ gebrochen, so dass eine „normale“ Entwicklung wie im übrigen (West-)Europa, zumindest weitestgehend, stark verzögert wurde: Ob seitdem in Deutschland (unabhängig von den konkreten Staatsgrenzen, die ja seit Auflösung des Deutschen Bundes 1866 großen Veränderungen unterworfen waren) überhaupt eine „Wohlordnung“ (im Sinne der klassischen „Eunomia“) entstanden ist, liegt im Auge des kritischen Betrachters. (45)
Eine große Chance hierfür hatte der Konvent von Herrenchiemsee im August 1948 eröffnet (zumindest für die Westzone); einiges wurde jedoch seitdem liegengelassen.
Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Insgesamt ist die Literatur zum Thema „Revolution von 1848“ (auf Deutschland, aber auch auf die europäische Ebene bezogen) bzw. Nationalversammlung und Frankfurter Paulskirche riesig angewachsen.
Besonders zum 150. Jubiläum vor 25 Jahren gab es einen ganzen Berg an Neuerscheinungen, viele davon inzwischen mit zahlreichen Auflagen. Dagegen sind 2023 bisher gar nicht so viele „Originale“ erschienen, was entweder an einer Übersättigung oder tiefgreifenden Verunsicherung liegen mag (Stichwort: ChatGPT – warum soll der Konsument noch Geld für fremde Bücher ausgeben, wenn textgenerierende KI-Tools, also die „künstliche Intelligenz“ jederzeit und viel schneller ein Produkt auswirft, das – zumindest auf den ersten Blick – Hochschulniveau verspricht). Skeptisch wird man aber sein müssen, wie sich bis zum nächsten Jubiläum von „1848“ (also im Jahre 2048) die Situation entwickelt haben wird: zum Wohl oder zum Nachteil der Menschen. Ähnlich wie zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Menschen am Beginn der „industriellen Revolution“ standen, gibt es auch im 21. Jahrhundert ökonomische Umwälzungen, die das Potential für globale Verwerfungen besitzen. Die möglichen Auswirkungen der „Macht der Computer“ (so der Klassiker v. Joseph Weizenbaum) wären aber viel gravierender als diejenigen der gescheiterten Revolution von 1848.
2) Abgedruckt ist die Festrede von Bundespräsident Steinmeier im Internet:
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2023/05/230518-Paulskirchenversammlung.html
Und von der Bundestagspräsidentin Frau Bas ebenfalls vom 18. Mai 2023:
https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2023/20230518-949994
Natürlich ist es für die amtlich bestellten Redenschreiber nicht immer einfach, originell und wissenschaftlich exakt zu arbeiten. Doch aufgesetzter Pathos und wiederholte Übertreibungen sind dann auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Das betrifft besonders die Ausführungen bzw. Bezugnahmen auf diverse Akteure des Revolutionsjahres, wenn damit kritiklos eine unbedingte Kontinuität konstruiert werden soll, die dann doch nicht vorbehaltlos existiert.
Am deutlichsten wird dies, wenn viele seinerzeit als „Liberale“ bezeichnete Politiker als Vorkämpfer für Demokratie und Rechtsstaat hingestellt werden; vielmehr waren die allermeisten der „Liberalen“ gerade keine Anhänger der Republik, sondern eingefleischte Königstreue, und wollten eine gleichberechtigte „Bürgerschaft“ (im Sinne von Volkssouveränität) unbedingt vermeiden, was dann besonders beim Wahlrecht auffällt (lieber einen „Zensus“ statt eines wirklich allgemeinen und gleichen Wahlrechts).
Von anderen eher zweifelhaften Aspekten in der Nationalversammlung, wie der beginnende Nationalismus als Vorstufe von Entrechtung bestimmter Minderheiten oder eine peinliche Deutschtümelei, bis hin zum späteren Imperialismus und dem bewussten Wegsehen vieler „Liberaler“ vor den sozialen Auswüchsen des frühen Industriekapitalismus einmal ganz abgesehen.
Nicht unerwähnt sollten zwei Aspekte bleiben: Zum einen die peinliche Vorgeschichte zur Gedenkveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche. Obwohl ja des Zusammentritts der Nationalversammlung gedacht werden sollte, hatte es keiner der Veranstalter ursprünglich auf dem Schirm, auch einen „gestandenen Parlamentarier“ als Redner einzuladen, denn sowohl Bundespräsident als auch der hessische Ministerpräsident sind Organe der Exekutive, keine Vertreter des Parlaments – Frau Bas wurde dann zum Lückenfüller (auf diesen „protokollarischen Fauxpas“ hat eine große Frankfurter Tageszeitung unter der Überschrift „Das wäre Norbert Lammert nicht passiert“ hingewiesen). Das wäre, als wollte man das Jubiläum eines Sportvereins feiern, aber ohne Sportler.
Zum anderen ist es generell merkwürdig, fast schon bedenklich, wie stark die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der deutschen Parlamente (insbesondere des Bundestages) in letzter Zeit eingeschränkt und übergangen werden. Dies war schon ab Frühjahr 2020 bei Corona, dann bei vielen finanzpolitischen Maßnahmen und ganz aktuell beim Thema „Energiewende“ (Stichwort: Heizungsgesetz, wo sogar das Bundesverfassungsgericht eine verfassungswidrige Einschränkung der Rechte eines Abgeordneten feststellen musste; alles nur, weil verbohrte Ideologen ihr Parteiprogramm abspulen wollen). Für die Galerie und das Feuilleton wird der Parlamentarismus gefeiert, im Alltag sind viele Abgeordnete nur noch Knechte der Fraktionsdisziplin und willfährige Konsumenten von „Drucksachen“, die wegen der schieren Masse im Zweifel kaum noch einer lesen kann.
3) Wenn, wie jüngst, ein Jugendlicher in einem Pariser Vorort Opfer von Polizeigewalt wird, dies aber zum Anlass für nächtelange Ausschreitungen und Gewaltexzesse genommen wird, hat dies mit Versammlungs- und Meinungsfreiheit nichts mehr zu tun; die großen theoretischen Denker der Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts würden sich beim Anblick der heutigen Situation in Frankreich, aber auch in vielen anderen westlichen Demokratien verwundert die Augen reiben.
4) Auf Zeit-Online:
https://www.zeit.de/2023/21/frankfurter-nationalversammlung-1848-paulskirche-erinnerung
5) Die Abgrenzung ist oft nur schwer nachzuvollziehen: Im normalen Geschichtsunterricht wird z.B. vom Bauernkrieg 1524/25 gesprochen (nur in Fachkreisen wird der „revolutionäre Charakter der Empörung des gemeinen Mannes“ thematisiert, vgl. die Arbeiten v. Peter Blickle) oder der Dreißigjährige Krieg wird zu einseitig auf den konfessionellen Gegensatz reduziert, ohne die soziale Sprengkraft der damaligen politischen Ordnung zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu beachten. Im Gegensatz dazu spricht man in England von der „glorious revolution“ von 1688/89, obwohl sich eigentlich relativ wenig getan hatte – im direkten Vergleich zu Frankreich hundert Jahre später.
6) Im Zusammenhang bei Arendt, Über die Revolution, S. 39 – 43.
7) v. Hippel/Stier, S. 27ff.
8) Dies., S. 28.
9) Stadler, S. 47.
10) Hartung, S. 178f. Mit Fritz Hartung wird an dieser Stelle absichtlich ein Vertreter der klassisch-konservativen Geschichtsschreibung (besonders der deutschen Verfassungsgeschichte) zitiert, damit klar wird, dass auch die Anhänger der „alten Ordnung“ wussten, wie die Dinge damals wirklich standen: nämlich Spitz auf Knopf – etwas mehr Wut und Empörung auf den Straßen Berlins und Wiens, die Demonstrationen im Frühjahr 1848 hätten leicht eskalieren können; Flucht bzw. Rücktritte der regierenden Fürsten wären bereits damals an der Tagesordnung gewesen, nicht erst im November 1918.
11) Mommsen, S. 10f.
12) Bei der Affäre, die Bayerns König den Thron kostete, handelte es sich um die sexuelle Beziehung zur Tänzerin „Lola Montez“ (Künstlername, bürgerlich: Elizabeth Rosanna Gilbert, die sich aus wirtschaftlicher Not als spanische Tänzerin ausgab und aus demselben Grund auch „Männerbekanntschaften“ pflegte); wegen der seinerzeit besonders prüden Sexualmoral war die Affäre des Königs mit seiner Mätresse ein gefundenes Fressen für die Klatschspalten etc. Heute wäre dies sicher kein Aufreger mehr, Frauen wie sie sind jetzt als It-Girls oder InfluencerInnen o.ä. kommerziell erfolgreich (zur Not in fragwürdigen Casting-Shows). Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Lola_Montez
Der Enkel des zurückgetretenen Königs, der spätere Ludwig II., soll ja ebenfalls „nervenkrank“ gewesen sein und passte daher in die Riege der Regenten, die mit den notwendigen Regierungsgeschäften völlig überfordert gewesen sind.
Aber eigentlich sind die Ereignisse um „Lola Montez“ aus einem anderen Grund von Interesse: Sie zeigen, dass auch schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Integrität der regierenden Fürsten sehr schnell beschädigt werden konnte, was dann sogar zum Rücktritt führen konnte; die Abdankung gleich der ganzen Monarchie in Bayern in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1918 durch eine einzige Rede von Kurt Eisner zeigte ja, wie morsch dieses ganze System im Laufe der Jahrhunderte geworden war.
13) Schoeps, S. 197.
14) Treitschke, S. 633f. Obwohl Heinrich v. Treitschke allgemein als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet werden muss, wird man nicht übersehen dürfen, dass er in seinem breit angelegten Werk zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert im 5. Band allein über 50 Seiten der Episode zum „Vereinigten Landtag“ gewidmet hat. Die ihm vorliegenden Quellen sind, wenn auch meist tendenziös, berücksichtigt worden, was in moderneren Darstellungen oft unterbleibt. Wenn dann in Zukunft auch noch eine einseitige Nutzung durch ChatGPT erfolgt, braucht sich keiner mehr über geistige Verödung in Deutschland zu wundern; der Geschichtsunterricht wird zur Glückssache – bei den politischen Redenschreibern scheint dies bereits aktuell die Norm zu sein.
15) Schoeps, S. 198.
16) Zitiert aus der Darstellung von Jochheim, 18. März 1848: revolutionärer Aufstand in Berlin:
17) Jedoch wäre es naiv zu glauben, dass allein durch permanente Wiederholung der Begriffe „Demokratie“ oder „freiheitliche Grundordnung“ deren Akzeptanz erhöht würde; auf die konkreten Inhalte kommt es an: Anderenfalls könnte der Vorwurf der Verschleierung erhoben werden! Denn bereits in der Antike konnte der Begriff „Demokratie“ den gewollten Beigeschmack der „Pöbelherrschaft“ erhalten bzw. (hierauf hat schon Thukydides hingewiesen) es wurde der Verdacht der „Wortklauberei“ bzw. (sophistischen) „Schönschwätzerei“ geäußert. Besonders aus der Schule der Sophisten entstammt die „Kunst der Eristik“, noch heute gern von Juristen zumindest unbewusst genutzt (kein Wunder, dass ganze Heerscharen an Juristen im Staatsdienst sind – bis in die höchsten Ämter).
Jedoch lassen sich viele Bürger heute – im Gegensatz zum 19. Jahrhundert – nicht mehr durch schöne Reden zufriedenstellen; es hat sich vielfach und nachhaltig der Eindruck eingestellt, dass viele Politiker nicht meinen, was sie (meist in gestylten Interviews oder Talk-Shows) sagen. Dies führt, und hier ist wieder der Berührungspunkt zu „1848“, zu Unzufriedenheit und Frustrationen.
18) Die wenigen Frauen, deren Wirken 1848 tatsächlich überliefert wurde, können an dieser Stelle aus Platzgründen nicht näher behandelt werden, ein kurzer Überblick bei Kerstin Wolff, in: APuZ 7 – 9/2023, S. 24ff.
19) Überliefert von Nipperdey, S. 608 u. S. 641.
20) Mommsen S. 94.
21) Ders., S. 143. Ähnliche Situationen sind auch heute anzutreffen, wenn in Diskussionsrunden etc. völlig unvereinbare Meinungen aufeinanderprallen; meist helfen dann nur „Formelkompromisse“.
22) Im Überblick bei Heike Bungert, in: APuZ 7 – 9/2023, S. 31ff.
23) Aber vielleicht sind die Vertreter der politischen Klasse einfach selbst so verunsichert, wie sie ihre Rollen spielen sollen, dass sie – trotz geschwungener Reden – inhaltlich lieber schön unverbindlich bleiben.
24) Im größeren Zusammenhang zitiert bei Hartung, S. 180f.
25) Daher stellt der gesellschaftspolitische Bereich des sog. „zivilen Ungehorsams“ eine große Herausforderung dar: Was gestern noch verboten oder zumindest verpönt war, kann morgen schon „in sein“ bzw. sogar den gesellschaftlichen und politischen Diskurs bestimmen (bestes Beispiel: „Sexualmoral“).
26) An diesem „Klassiker“ der Hegelschen (und auch Marx’schen) „Dialektik“ beißen sich aber auch seriöse Politiker (außerhalb des AfD-Milieus) die Zähne aus: So sah sich der amtierende Bundespräsident beim Ausbruch des Ukraine-Krieges mit seiner ideologischen Vergangenheit (große Nähe zum Moskauer Autokraten) konfrontiert, wodurch auch das deutsch-ukrainische Verhältnis in Mitleidenschaft gezogen wurde; auch wenn niemand die „berühmte Glaskugel“ besitzt.
27) Im Überblick z.B. die Darstellung bei Mommsen, S. 83, 88.
28) Wörtlich zitiert nach Hein, S. 38f. Liest man parallel die Rede von Frau Bundestagspräsidentin Bas, die gleich zu Beginn ausführt, die Nationalversammlung sei aus allgemeinen, gleichen und freien Wahlen hervorgegangen, bleibt Widerspruch nicht aus: In jedem Lehrbuch zum dt. Verfassungsrecht wird das Merkmal „Allgemein“ so beschrieben, dass es unzulässig sei, den Kreis der Wahlberechtigten zu begrenzen, z.B. indem das Stimmrecht an finanzielle/ökonomische Kriterien geknüpft werde. Dies erfolgte aber 1848 mit der Forderung nach „Selbständigkeit“ – Grund dafür, dass zumindest regional bis zu einem Viertel der volljährigen Männer dann doch nicht wählen durften. Auch beim Merkmal der „Gleichheit“ ist Vorsicht geboten, wenn – wie im Text ausgeführt – die Wahl sogar überwiegend durch sog. Wahlmänner ausgeübt wurde; dann konnte es nämlich leicht passieren, dass diese Wahlmänner nicht den unmittelbaren Willen der „Urwähler“ umsetzten, sondern nach ihrem „Ermessen“ das Mandat vergaben (eine Wahlüberprüfung erfolgte natürlich nicht). Dies sollte nicht weggelassen oder ausgeblendet werden, wollen sich die Politiker nicht des Vorwurfs der Verbreitung von fake news aussetzen.
29) Ein kurzer Überblick zum Merkmal „Wahlgleichheit“ bei Kühne, S. 62. Danach hatten ca. 16% aller Deutschen 1848 das Recht auf Teilnahme an der Wahl zur „Nationalversammlung“. Das 1849/50 in Preußen eingeführte und bis 1918 praktizierte „Dreiklassenwahlrecht“ (Zensus) bewirkte eine noch größere Einschränkung der „Wahlgleichheit“. Diese per Verfahren gewollte Ungleichheit hatte natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Preußischen Landtags.
Ein Klassiker der Rechtssoziologie lautet „Legitimation durch Verfahren“ (N. Luhmann). Nur ein kleiner Schritt davon entfernt, die Buchstaben des Gesetzes nur leicht verändert (oder kleine Änderungen bei der richterlichen Auslegung) und es tritt eine „Ausgrenzung durch Verfahren“ ein (die Zeit 1933 – 45 liefert genügend Blaupausen), aber auch aktuelle Äußerungen zum Thema „Asyl“ und die Stimmung im Land kann ganz schnell kippen. Auch an dieser Stelle ein lehrreiches Beispiel aus der griechischen Antike: das sog. Scherbengericht (Ostrakismus). Danach konnten in Athen „unliebsame“ Vollbürger für zehn Jahre in Verbannung geschickt werden; derjenige aber, der die Tonscherben verwaltete (und beschriftete), traf somit auch die Auswahl über die zu Verbannenden. Wer also das Verfahren unter sich hat, kontrolliert auch das Ergebnis; wer z.B. heute über die Aufstellung der Landeslisten der Parteien für die Wahlen (Landtag, Bundestag usw.) mitbestimmt, hat auch Einfluss auf die spätere Zusammensetzung des Parlaments.
30) Wollstein, Vorparlament und Paulskirche, S. 27. Auf die spöttische Bezeichnung „Honoratiorenklub“ wurde bereits hingewiesen. Aber auch heute gibt es noch (oder wieder) Kritik an der „soziologischen“ Zusammensetzung der Parlamente. Besonders der Bundestag konnte oft genug als „Beamtenparlament“ bezeichnet werden oder aber seit geraumer Zeit auch als Karrierestufe der Generation „Kreißsaal, Hörsaal und Plenarsaal“: Soll heißen, es gibt eine soziale Schicht von Abgeordneten, die außerhalb ihrer parteipolitischen Orientierung wenig, teils gar keine Berufserfahrung oder gar „Expertise“ vorweisen können; Folge: Es werden Lebensläufe glatt poliert, angebliche „Fachbücher“ auf den Markt geworfen oder gleich unter falscher Flagge „promoviert“ – bis der ganze Schwindel auffliegt (unabhängig vom Parteibuch).
Spannend ist gerade zusätzlich das Thema „Wahlrechtsreform“, wenn in einem demnächst geänderten Bundes-Wahlgesetz möglicherweise Privilegien für regionale Parteien wegfallen, so dass z.B. eine nur in Bayern relativ starke Partei auf Bundesebene in die Bedeutungslosigkeit abstürzen würde.
31) Zum Plagiatsvorwurf vgl. die Darstellung bei Kühne, S. 58 m.w.N. Außerdem hätte sich auch die kurz vorher ausgearbeitete Verfassung des Königreichs Belgien zum Vergleich angeboten.
32) Siehe link zum Wissenschaftlichen Dienst: www.bundestag.de/analysen
Unter dem Datum v. 21.06.2023, Dokument „Paulskirche-data“ (direkte Verlinkung scheitert).
33) Der Vollständigkeit halber muss auch darauf hingewiesen werden, dass bereits auf der ersten Offenburger Versammlung im September 1847 die Forderung nach Steuergerechtigkeit erhoben wurde. Art. 8 lautet: „Wir verlangen eine gerechte Besteuerung. Jeder trage zu den Lasten des Staates nach Kräften bei. An die Stelle der bisherigen Besteuerung trete eine progressive Einkommensteuer.“
Schon der direkte Vergleich mit §173 der Paulskirchen-Verfassung zeigt eine deutliche Verwässerung. Außerdem ging es der besonders ländlich geprägten Bevölkerung Badens (ähnlich in der Pfalz, Nassau, in Sachsen oder Schlesien) auch um die Aufhebung der gutsherrlichen Abgaben (oft gab es nämlich eine Art Doppelbesteuerung: zusätzlich zu staatlichen „Steuern“ im weitesten Sinne kamen noch Abgaben an die adligen Gutsbesitzer. Diese mussten sogar die Unterschichten der bäuerlichen Bevölkerung leisten, was deren finanzielle Möglichkeiten meist weit überstieg und dann zu einer massiven Überschuldung führte.
Diese soziale Komponente der damaligen Abgabenerhebung wurde in der Paulskirche nahezu völlig ausgeblendet. Denn nicht nur Arbeiter, sondern auch die typische Landbevölkerung fehlten unter den Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche vollständig!
34) Vgl. zum Ganzen im Überblick bei: Kühne, S. 59ff. und 63ff.
35) Im Zusammenhang zitiert bei Kocka, S. 213 – 218.
36) Im Zusammenhang zitiert bei Siemann, S. 132 – 143.
37) Kocka, S. 201 – 210. Hier soll ausdrücklich der mutige Auftritt August Bebels 1898 im Reichstag gewürdigt werden; auch wenn Bebel im Frühjahr natürlich nicht wissen konnte, dass Bismarck Ende Juli 1898 sterben würde, so kam die Debatte im Reichstag einer „Generalabrechnung“ gleich. Viele „Traditionalisten“ in der heutigen SPD dürften sich nach einer solchen „Lichtgestalt“ wie Bebel sehnen.
38) Beim noch amtierenden Hessischen Ministerpräsidenten, der einträglich mit der aktuellen Bundesinnenministerin (und möglichen Nachfolgerin) in vorderster Reihe in der Paulskirche saß, wird man eine solche Aufmerksamkeit eher ausschließen können. Es ist nun einmal Fakt, dass die heutige politische Führungsschicht ein „selbstreferentielles System“ bildet, in dem nicht „Können“ oder „Expertise“, sondern vielmehr die Fähigkeit, „Netzwerke“ zu bilden oder durch langjährige bloße Anwesenheit immer eine „Anschlussverwendung“ zu finden, ausschlaggebend sind. Eine derartige Beschreibung stellt keine grundlose Kritik „am System“ dar, sondern kritisiert diejenigen, die von innen her das System in Frage stellen, weil die Krisenanfälligkeit des Staates durch überforderte Politiker zunimmt. Vgl. die Ähnlichkeit dieses Befunds mit Hannah Arendts Kritik an der „Bürokratie“ als Ausdruck einer „Niemandsherrschaft“ (Arendt, Macht und Gewalt, S. 39, 80).
39) Ob der Bundespräsident zum „Bürgermut der Barrikadenkämpfer“ auch die heute umstrittenen Aktivisten verschiedener militanter Umweltschutzgruppen zählt? Wenn (was aus Gründen der Staatsräson wahrscheinlich sein dürfte) die aktuelle politische Führungsschicht diesen Gruppen (auf Details soll hier nicht eingegangen werden) das Recht abspricht, sich in die Tradition von „1848“ zu stellen, erhalten die gesamten „Festreden“ einen schalen, wenn nicht gar bitteren Beigeschmack.
40) Das Problem materiell falscher, somit rechtswidriger Vollstreckungsbescheide ergibt sich insbesondere dann, wenn skrupellose Inkassodienste „Phantasie- Forderungen“ beitreiben – was wirklich jeden Tag vorkommt. Reagieren dann Verbraucher nicht oder zu spät, droht eine Zwangsvollstreckung schneller als man denkt (und jedes „Anwaltsschreiben“ verteuert die Sache noch einmal – außer man beschwert sich bei der Anwaltskammer bzw. schaltet die Verbraucherzentrale ein). Ein beliebtes Druckmittel unseriöser Inkassodienste ist die Drohung mit der „Schufa“ (die selbst höchst dubiose Methoden anwendet, welche zwar in der Politik bekannt sind, aber z.B. vom Petitionsausschuss des Hess. Landtags ignoriert werden).
Konzernsitz der „Schufa“ ist in Wiesbaden, hessische Landeshauptstadt. Dieser kleine Hinweis darauf, wie schnell in Deutschland einfache Bürger mit rechtswidrigen Vollstreckungsmaßnahmen rechnen müssen, soll reichen, um die Problematik des verfassungsrechtlich garantierten Wohnungsschutzes in der zivilrechtlichen Zwangsvollstreckung anzusprechen.
41) Der unscheinbare Wortlaut von § 287 AO (Befugnisse des Vollziehungsbeamten):
Abs. 1: Der Vollziehungsbeamte ist befugt, die Wohn- und Geschäftsräume sowie die Behältnisse des Vollstreckungsschuldners zu durchsuchen, soweit dies der Zweck der Vollstreckung erfordert.
Abs. 2: Er ist befugt, verschlossene Türen und Behältnisse öffnen zu lassen.
Abs. 3: Wenn er Widerstand findet, kann er Gewalt anwenden und hierzu um Unterstützung durch Polizeibeamte nachsuchen.
Abs. 4: Die Wohn- und Geschäftsräume des Vollstreckungsschuldners dürfen ohne dessen Einwilligung nur auf Grund einer richterlichen Anordnung durchsucht werden. Dies gilt nicht, wenn die Einholung der Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde. Für die richterliche Anordnung einer Durchsuchung ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Durchsuchung vorgenommen werden soll.
42) Die allermeisten Amtsrichter, die lt. § 287 AO zuständig sind, hantieren bei der Anwendung von steuerrechtlichen Vorschriften wie Blinde mit der Farbe: Erschwerend kommt hinzu, dass die lt. Landesverfassungen für die Einstellung von „Proberichtern“ zuständigen Richterwahlausschüsse meist selbst nur mit Nicht-Profis besetzt sind (und das richtige Parteibuch soll bei der Einstellung auch ab und zu förderlich sein, wenn die Punktzahlen der Examina nicht signifikant genug erscheinen).
43) Erste Verfahren vor den Verwaltungsgerichten sind sogar zum Nachteil der betroffenen Bürger ausgegangen. Wenn aber übereifrige Mitarbeiter von Landesdatenschutzbeauftragten aus Opfern dann Täter machen wollen, hat der Spaß ein Loch.
44) Wenn eine junge Polizeibeamtin gegenüber einem Rechtsanwalt äußert, diese Berufsgruppe sei ja der natürliche Feind, kann man sich ungefähr vorstellen, was auf der Polizeischule im Fach „Rechtskunde“ gelehrt wird (betraf den Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Südhessen).
45) Doch selbst die Eunomia und auch die Isonomie im antiken Griechenland beruhten auf einem Paradoxon: ökonomische Grundlage (speziell in Athen) für diese besondere Staats- und Gesellschaftsordnung war die Tatsache, dass es sich um Sklavenhaltergesellschaften gehandelt hat.
Literatur
Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, (dt. Erstausgabe 1970), 13. Aufl., München 1998.
Arendt, Hannah: Über die Revolution, hrsg. v. Thomas Meyer. Mit einem Nachwort v. Jürgen Förster. Erweiterte Neuausgabe (Studienausgabe), München 2020.
Bungert, Heike: Deutsche „Forty-Eighters“ in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 7 – 9/2023, S. 31 – 38.
Hartung, Fritz: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 8. Aufl., Stuttgart 1964.
Hein, Dieter: Die Revolution von 1848/49, 6. Aufl., München 2019 (Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021).
von Hippel, Wolfgang/Stier, Bernhard: Europa zwischen Reform und Revolution 1800 – 1850, in: Handbuch der Geschichte Europas – Band 7, Stuttgart 2012.
Jochheim, Gernot: 18. März 1848: revolutionärer Aufstand in Berlin. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/195475/18-maerz-1848-revolutionaerer-aufstand-in-berlin/
Kocka, Jürgen: Arbeit und Freiheit – Die Revolution von 1848, in: Berichte und Abhandlungen / Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), 7.1999, S. 201-219.
Kühne, Jörg-Detlef: Revolution und Rechtskultur. Die Bedeutung der Revolutionen von 1848 für die Rechtsentwicklung in Europa, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000.
Mommsen, Wolfgang J.: 1848 Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830 – 1849, Frankfurt/M. 1998.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800 bis 1866. Bürgerwelt und starker Staat, 6. Aufl., München 1993.
Schoeps, Hans-Joachim: Preußen. Geschichte eines Staates, Frankfurt/M. 1966.
Siemann, Wolfram: Der Streit der Erben – deutsche Revolutionserinnerungen, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000.
Stadler, Peter: Die Schweiz 1848 – eine erfolgreiche Revolution?, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000.
von Treitschke, Heinrich: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 5, Leipzig 1927.
Wolff, Kerstin: Frauen und die Revolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 7 – 9/2023, S. 24 – 30.
Wollstein, Günter: Vorparlament und Paulskirche, in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 265/ 2006, S. 23 – 35.
Weiterhin empfehlenswert
Im Internet: www.revolution-1848.de.
Das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Heft „Informationen zur politischen Bildung Nr. 265/2006 (Neudruck 2016) mit dem Titel „Revolution von 1848“.
Das Themenheft zu 1848/49 „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ), Heft 7 – 9/2023, bietet einen insgesamt sehr breiten Überblick (zu beziehen über die Bundeszentrale für politische Bildung).
Alle juristischen Fachbücher zur Dt. Verfassungsgeschichte und zur Allgemeinen Staatslehre widmen sich unterschiedlich ausführlich dem Thema „Revolution von 1848“.