Auch der Jugendbuchmarkt hat seine Konjunkturen. Daher überrascht es nicht, wenn 2013/2014 angesichts des 100. Jahrestages vermehrt Jugendbücher zum Ersten Weltkrieg erschienen. Fünf dieser Neuerscheinungen sollen hier vorgestellt werden. Auf ältere Veröffentlichungen wie zum Beispiel Rudolf Franks Klassiker Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß (Ravensburger Buchverlag) oder Klaus Kordons Die roten Matrosen (Gulliver bei Beltz & Gelberg) wird hier aus Platzgründen nicht eingegangen; sie bleiben auch weiter lesenswert.
Herbert Günthers Roman Zeit der großen Worte konzentriert sich auf die Darstellung der Auswirkungen des Krieges auf die Zivilgesellschaft und verzichtet auf die Schilderung von Kampfszenen an der Front. Protagonist ist der bei Kriegsbeginn 14-Jahre alte Paul Hoffmann, der zusammen mit seiner Familie in einer deutschen Kleinstadt lebt. Die Mutter führt einen Gemischtwarenladen, den sie von ihren Eltern übernommen hat; der Vater träumt von einer Selbstständigkeit als Landwirt. Als sein älterer Bruder und sein Vater sich im Zuge allgemeiner Kriegsbegeisterung freiwillig zur Armee melden, ist Paul zunächst darüber enttäuscht, dass er aufgrund seines Alters nicht selbst auch Soldat werden darf. Diese Einstellung ändert sich, als Paul in den folgenden Jahren immer klarer den Widerspruch zwischen dem kriegsbegeisterten Hurra-Chauvinismus in der Heimat und dem brutalen Kriegsalltag erkennt. Anschaulich und detailliert schildert Günther, dass und wie der Krieg die Heimat berührt: Die Trauer um Gefallene, die Sorge um Kriegsverwundete und vom Krieg Traumatisierte, die Ungewissheit über das Schicksal Vermisster, die Sprachlosigkeit der Soldaten auf Heimaturlaub angesichts der erlebten Gräuel bestimmen zunehmend das Leben in der Kleinstadt fern der Front. Hinzu kommen die Auswirkungen von Hunger und Mangelwirtschaft. Indem der Autor sich auf die bisweilen vielleicht etwas zu detaillierte Schilderung des Kleinstadtlebens in den Jahren 1914 bis 1918 konzentriert, ist es ihm möglich, präzise zu zeigen, wie der Krieg in den Alltag der Menschen eingreift und Leben, privates Glück sowie ganze Familien zerstört. Während Paul die Folgen des Krieges hautnah erlebt, wird er immer deutlicher zum Kriegsgegner – und muss zugleich die eigene Hilflosigkeit erkennen. Denn obwohl sich in der Kleinstadt ein Kreis von Pazifisten bildet, zu dem auch Paul stößt, bleiben dessen Wirkungsmöglichkeiten äußerst begrenzt. Selbst überzeugte Kriegsgegner können sich dem Dienst mit der Waffe nicht einfach entziehen. – Krieg, so die überzeugend vermittelte Botschaft des Romans, betrifft jeden – nicht nur die aktiven Soldaten. Wer ihn verhindern will, muss frühzeitig chauvinistischem Denken im Großen wie im Kleinen entgegentreten. Auch wenn die Nebenfiguren nicht durchweg differenziert gestaltet werden und man der Handlung im ersten Teil bisweilen etwas mehr Drive wünscht, kann Günthers Zeit der großen Worte geschichtsinteressierten Jugendlichen ohne Einschränkung empfohlen werden. Die präzisen historischen Recherchen, die dem Roman zugrunde liegen, haben auch Eingang gefunden in einen informativen Anhang mit Glossar, Zeittafel und weiterführenden Lesetipps.
Maja Nielsens Feldpost für Pauline ist ein kleines, feines Buch, das vor allem jugendliche Leserinnen ansprechen dürfte. Gemeinsam mit ihrer Großmutter liest die 14-jährige Pauline Briefe und Tagebuchaufzeichnungen ihrer Urgroßeltern aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die damals wenige Jahre älter waren, als Pauline es jetzt ist. Geschickt schafft es Nielsen, Paulines Neugierde auf die Lebensumstände ihrer Urgroßeltern auf die Leser zu übertragen, so dass man das schmale Buch gar nicht aus der Hand legen mag. Der häufige Wechsel zwischen den Erzählungen von Pauline und ihrer Großmutter, den Zitaten aus Briefen und Tagebuchnotizen erleichtert nicht nur die Lektüre, sondern gibt der Autorin auch die Möglichkeit, die präzisen, anschaulichen Schilderungen des grausamen Kriegsalltags und des Lebens in der Heimat während des Krieges aus heutiger Sicht durch Pauline und ihre Großmutter reflektieren und kommentieren zu lassen. Auch wenn Nielsen sich auf die Darstellung der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf ein Liebespaar beschränkt und politische Hintergründe und Zusammenhänge weitgehend ausblendet, kann Feldpost für Pauline Jugendlichen ab 12 ohne Einschränkung empfohlen werden. Und die achtseitige Zeittafel zum Ersten Weltkrieg im Anhang gibt zusätzliche Anregungen, sich auch mit den historischen Hintergründen genauer zu befassen.
Titel und Untertitel verraten es bereits: Nikolaus Nützel wählt in Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg einen für ein Sachbuch ungewöhnlich persönlichen Zugriff, um seinen jugendlichen Leserinnen und Lesern das Thema Erster Weltkrieg nahe zu bringen. Ausgehend von seinen Großeltern und seiner eigenen Lebenssituation in München stellt er nicht nur den Ersten Weltkrieg präzise und faktenreich dar, sondern zeigt auch immer wieder, dass dessen Folgen bis heute von Bedeutung sind. Äußerst geschickt verbindet der Autor dabei die anschauliche Vermittlung der wesentlichen Daten über Ursachen, Verlauf und Folgen des Krieges mit Ausblicken in die jüngste Vergangenheit, wenn er zum Beispiel auf den Irak-Krieg hinweist oder rechtsextreme Strömungen in der Bundesrepublik historisch verortet. Mehrfach lässt Nützel seine eigene Betroffenheit erkennen – und formuliert diese Wertungen zugleich so, dass der Leser nicht überwältigt wird, sondern sie eindeutig als solche erkennen kann und damit zu einer eigenen Stellungnahme herausgefordert wird. Erfreulich, dass Nützel sich nicht auf Deutschland konzentriert, sondern wiederholt zum Beispiel auf die Situation in Italien, Frankreich und dem Osmanischen Reich eingeht. Auch vermeidet der Autor es erfolgreich, ein geschlossenes Bild zu entwerfen, wenn er nicht nur die Grenzen des eigenen Verstehens, sondern auch offene Forschungsprobleme – etwa im Zusammenhang mit der Kriegsschuldfrage – benennt. Neben dem Inhalt sind es auch der jugendnahe Stil und das Layout, die Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg zu einem überaus gelungenen Werk machen. Sinnvoll ergänzen Fotos, Dokumente und Karten den Text und tragen damit zusätzlich zur Veranschaulichung bei. Der Anhang enthält neben Karten und einem Glossar auch Hinweise zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema. Zu Recht hat Nikolaus Nützels Buch bereits mehrere Auszeichnungen erhalten.
Hermann Vinkes Sachbuch Der Erste Weltkrieg. Vom Attentat in Sarajevo bis zum Friedensschluss von Versailles kann Jugendlichen ab 12 Jahren empfohlen werden. Auf 64 großformatigen Seiten gibt der Autor einen konzentrierten Überblick über Ursachen, Verlauf und Folgen des Ersten Weltkrieges. Sowohl in seinem präzise formulierten Darstellungstext wie auch mit Hilfe zahlreicher Fotografien verweist Vinke immer wieder auf die Grausamkeit des Krieges und seine zahllosen Opfer. Eine Vielzahl von Bildern und informativen Karten ergänzt diese Darstellung. Gestützt auf Heinrich August Winkler und Fritz Fischer betont der Autor die Rolle Deutschlands beim Beginn des Weltkrieges. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn in diesem Zusammenhang auch den ökonomischen Interessen in Deutschland sowie der Situation in den anderen europäischen Großmächten mehr Raum gegeben worden wäre. Richtig erläutert Vinke im letzten Kapitel seines Buchs die schweren Belastungen, die sich aus dem Ersten Weltkrieg und insbesondere dem Handeln der Militärführung des Kaiserreichs im Herbst 1918 für die Weimarer Republik ergaben. Auch hier hätte ein Blick auf die Lage in anderen europäischen Staaten die antimilitaristische Botschaft des Buchs noch unterstützen können. Ein knappes Glossar, hilfreiche Buch- und Webtipps sowie Hinweise auf Museen runden Vinkes historisches Sachbuch für Jugendliche sinnvoll ab, das gleichermaßen zum konzentrierten Lesen wie zum ersten, noch ungezielten Stöbern einlädt.
Elisabeth Zöllers Roman Der Krieg ist ein Menschenfresser besteht aus zwei Teilen, die nur an einem, allerdings zentralen Punkt zusammenhängen. Hauptperson des ersten Teils ist der bei Kriegsbeginn ca. 17 Jahre alte Leipziger Druckereigehilfe Ferdinand, der sich 1914 gegen den Willen seiner sozialdemokratischen Eltern freiwillig zum Militär meldet. Er glaubt damit einer jungen Frau, in die er verliebt ist, imponieren zu können. Nach wenigen Wochen kommt er an die Westfront und erlebt eine Realität, die so gar nicht den kriegsverherrlichenden Parolen aus der Heimat entspricht. Als Ferdinand bei einem Sturmangriff französische Soldaten tötet, bricht er zusammen. In den Augen seiner Vorgesetzten ist Ferdinand ein Schwächling, der ab sofort nur zu niederen Hilfstätigkeiten herangezogen wird. Im Gegensatz zu seinem Jugendfreund August akzeptiert Ferdinand diese Rolle und beginnt, die Kriegsmaschinerie im Kleinen zu unterlaufen, indem er zum Beispiel französischen Kriegsgefangenen hilft. Und er beschließt, die Brutalität des Krieges durch Aufzeichnungen und Fotos zu dokumentieren, was den Argwohn seiner Vorsetzten zusätzlich weckt. Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Romans steht Max, Sohn eines kaisertreuen Berliner Papierfabrikanten, der im Februar 1917 als Fähnrich an die Westfront kommt. Anfänglich ist Max bereit, seiner Rolle als junger Offiziersanwärter in der kaiserlichen Armee zu genügen. Zu spät merkt er bei einem Kampfeinsatz, dass er von seinen Vorgesetzten gezielt eingesetzt wird, um einen deutschen Soldaten zu töten, der als unzuverlässig gilt und daher liquidiert werden soll. Als er dies erkennt, verfällt Max dem Wahnsinn. Mit letzter Kraft gelingt es ihm, eine Ledertasche mit Fotos und Schriftstücken beiseite zu schaffen, die der Getötete mit sich führte. Noch immer schwer traumatisiert, kehrt Max 1918 in sein Elternhaus nach Berlin zurück. Nun beginnt ein zäher Kampf um die Ledertasche, in der sich Material über die Kriegsverbrechen einiger deutscher Soldaten und Offiziere befindet. Vor allem Max‘ Vater erweist sich als kaisertreuer Militarist. Zöller nutzt diesen Konflikt, um die Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen Kriegstreibern und linken Demokraten und Pazifisten in der Endphase des Kaiserreichs zu illustrieren. Dabei gelingt es ihr zwar, die politischen Hintergründe und ökonomischen Interessen zu beleuchten; Personenzeichnung und Handlungsführung geraten aber teilweise recht klischeehaft. So überrascht es auch nicht, dass die von Max dem Zugriff seiner Vorgesetzten entzogene Ledertasche dem Leipziger Kriegsgegner Ferdinand gehört, dessen Eltern diese auf Umwegen schließlich erhalten. – Elisabeth Zöller setzt in ihrem Roman gezielt auf Spannungsbögen und Action-Szenen, was gewiss das Lesen erleichtert. Positiv zu vermerken ist auch, dass sie die politischen Hintergründe des Militarismus und seiner Gegner thematisiert. Überflüssigerweise verwendet sie bisweilen Kolportageelemente; auch werden Nebenfiguren wenig differenziert gezeichnet. Dennoch ist dieses Buch als historischer Roman lesenswert, wozu Glossar und Zeittafel im Anhang beitragen. Auf www.elisabeth-zoeller.de gibt es zudem ein umfangreiches Unterrichtsmodell als kostenlosen Download.
Autor: Tomas Unglaube
Herbert Günther: Zeit der großen Worte, Hildesheim: Gerstenberg 2014. 272 S., ab 13. ISBN 978-3-8369-5757-1
Maja Nielsen: Feldpost für Pauline, Hildesheim: Gerstenberg 2013. 96 S., ab 12. ISBN 978-3-8369-5775-5
Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat, München: arsEdition 2013. 144 S., ab 13. ISBN978-3-8458-0172-8
Hermann Vinke: Der Erste Weltkrieg. Vom Attentat in Sarajevo bis zum Friedensschluss von Versailles. Illustriert von Ludvik Glazer-Naudé, Hildesheim: Gerstenberg 2014. 64 S., ab 12. ISBN 978-3-8369-5582-9
Elisabeth Zöller: Der Krieg ist ein Menschenfresser, München: Hanser 2014. 288 S., ab 14. ISBN 978-3-446-24510-5