Ein Großstadtbohème läuft mit Posaune beschwingt durch Berlin in der Nähe des Kudamms. An einer ihm geeigneten Stelle, zwischen Friseur, Blumenladen und einem Geschäft für Damenhüte, hält er inne und beginnt sein Spiel der „Bettelmusik“.
Zu der wohlhabenden Schicht der Berliner Gesellschaft gehört indes Lina Gade. Selbstbewusst, jung, aufgeweckt und dynamisch. Verheiratet ist sie mit einem wesentlich älteren und wohlhabenden Bankier, mit dem sie die kleine Tochter Jane hat und in einem Anwesen im Grunewald residiert. Beide Personen, der Posaunist und Lina, aus so unterschiedlichen Vermögensverhältnissen treffen auf den ersten Seiten des Romans von Max Mohr aufeinander. Mit dem 1933 (!) bei S. Fischer erschienenen Roman, der am Ende der Weimarer Republik spielt, stellt Mohr eine Frau in den Mittelpunkt, die ihren Mann Knall auf Fall verlässt und sich in ein amouröses Abenteuer mit dem mittellosen Journalisten Paul Fenn stürzt. In der ersten Szene sind also bereits die beiden gesellschaftlichen Pole eingeführt, hier die Repräsentation bürgerlichen Reichtums und dort das Darben in der Mittellosigkeit, eingeführt. Lina Gade kredenzt dem armen Posaunist ein paar Münzen und wird sich wenige Seiten später auf die andere Seite der gesellschaftlichen Barriere begeben und sich in eine ökonomisch unsichere Zukunft verabschieden. Sie verlässt den goldenen Käfig der Ehe nach einem verbalen Scharmützel mit ihrem Mann. Der Grund ist ausgerechnet Paul Fenn, der sich am Abend in der Villa bei dem Bankier Gade für den Posten eines Auslandreporters vorstellen muss, denn Gades Urteil als Finanzier der Zeitung ist ausschlaggebend.
Das geliebte Ritual des Bankiers, die Tochter Jane als stolzer Vater jedem Besuch zu präsentieren, verabscheut Lina. Charmant, aber bestimmt untersagt sie dies ihrem Mann und droht mit Konsequenzen bei Zuwiderhandlung. Der Bankier kann von seinem Ritual nicht lassen und zieht sich, nachdem die Besichtigung vorbei ist, für ein angebliches Telefonat mit London zurück und lässt Frau und Gast alleine. Lina nutzt die Gelegenheit und fragt Paul Fenn, ob er eine günstige Pension wisse. Irgendwie muss es gefunkt haben. Lina verlässt Mann und Tochter und zieht mit Paul Fenn los. Hier beginnt eine intensive Liebe, die sich als Abenteuer mit Reisen und finanziellen Sorgen zugleich gestaltet. Zusammen mit den Freunden Fenns, wie der anfangs geschilderte Posaunist, mittellose Lebenskünstler, wird Linas Tochter Jane entführt, nicht ohne falsche Spuren zu legen, um dem einflussreichen Bankier und seinem Privatdetektiven zu entkommen. Angeblich reisen Mutter, Tochter und Paul Fenn nach Fernost, während die drei in eine bäuerliche Existenz in Tirol abtauchen.
Max Mohr erzählt mit Verve und Humor vom Gegensatz zweier Welten, der gediegenen Bürgerlichkeit und den armen aber zu Abenteuern aufgelegten Großstadtbohemiens. Das erinnert an den Sound von Kurt Tucholsky in seinen Romanen „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ oder „Schloß Gripsholm“. Das Ende von Mohrs Geschichte ist indes nicht glücklich, verläuft ganz anders als zu erwarten, wird aber hier vorenthalten. In seinem letzten Roman ist Max Mohr mit seiner Figur Lina Gade das sympathische Portrait einer emanzipierten und eigensinnigen Frau gelungen, die sich nicht für ein wohlbehütetes Leben korrumpieren lässt. Es ist ein Roman, der allerdings nur über die bürgerliche Klasse geschrieben werden konnte, in der ein Ausbruch immer auch die Möglichkeit der Rückkehr bietet.
Im Gegensatz zu Tucholsky, der in seiner Publizistik ein genauer Beobachter und hellsichtiger Analytiker der politischen Entwicklungen in Deutschland war, bleibt Mohr eng an seinen Protagonisten und lässt das politische Geschehen in diesem Roman völlig außen vor. In keinem noch so kleinen Nebensatz findet sich ein Hinweis auf den Aufstieg der Nazis, den Antisemitismus und die tiefe gesellschaftliche Spaltung. Umso interessanter, dass Max Mohr, der sich 1933 in Berlin und auf Hiddensee aufhielt und in Künstlerkreisen verkehrte, am 13. Juni 1933 über Asta Nielsen und Heinrich George in einem Brief an seine Frau befand: „Asta und George sind gleichgeschaltet und öfters mit Hitler zusammen.“
Max Mohr, der 1891 als Sohn des jüdischen Malfabrikanten Leon Mohr und dessen Frau Jeannette in Würzburg geboren wurde, studierte Medizin in München und arbeitet im Ersten Weltkrieg als Infanteriearzt und ließ sich mit seiner Frau in Rottach-Egern am Tegernsee nieder. Er verfasste mehrere Bühnenstücke, die erfolgreich an diversen deutschen Theatern gespielt wurden. Als jüdischer Autor wurde er 1935 aus der Reichsschrifttums-kammer ausgeschlossen, hatte aber bereits 1934 Deutschland in Richtung Shanghai verlassen, wo er wieder als Arzt tätig wurde und 1937 an einem Herzinfarkt starb. Lange Zeit war er völlig vergessen und wurde erst 1992 in seiner Geburtsstadt gewürdigt und 2020 in Würzburg eine Straße nach ihm benannt. Verdienstvollerweise hat der Weidle Verlag in Bonn den dritten und letzten Roman von Mohr, ergänzt mit einer „biografischen Skizze“ des erneut zu entdeckenden Autors von Roland Flade, neu verlegt.
Autor: Matthias Reichelt
Max Mohr: Frau ohne Reue. Bonn: Weidle-Verlag 2020, 14 €