Ich will das nicht wissen! Über das Buch von Nejusch “ Das Glück hat mich umarmt. Eine Geschichte in Briefen“
Nejusch, der Name, unter dem die jüdische Autorin und Verlegerin, Nea Weissberg-Bob, ihr Buch veröffentlicht hat, bekam sie von ihrer Großmutter, den Titel des Buches – „Das Glück hat mich umarmt“ – von ihrem Vater. Es ist sein Erklärungsversuch, wie er 1941 als polnischer Jude das Pogrom in Lemberg (Lwów) überlebt hat.
Der Roman basiert auf den authentischen Briefen, die die Autorin an einen nichtjüdischen, deutschen Brieffreund schrieb. Nicht nur die Briefe sind authentisch, authentisch ist auch der jahrzehntelange Versuch der Autorin, sich an die Geschichte ihrer Familie und damit auch an die Geschichtsschreibung anzunähern. Der Leser nimmt unmittelbar an dem Prozess teil, ist gleich mitten drin.
Am Anfang sind es einfache Kindheitsgeschichten, das Unheimliche schimmert nur hie und da durch, ist aber noch leicht zu übersehen, zu überspielen. Allmählich weiß man jedoch mehr und mehr. „Ich sehe beim Baden in Glienicke zum ersten Mal eine blau eintätowierte Nummer und einen halben Davidstern auf dem linken Unterarm eines Bekannten meiner Eltern, wage nicht zu fragen, blinzele lieber in Richtung Sonne. Höre versteckt zu, worüber sie reden, die Auschwitzüberlebenden. Ich vermute, sie wohnen in dunklen Höhlen, dass sie gezwungen wären, dort zu leben, wegen des Tonfalls, wegen der Dinge, die sie erzählen.“
Die Autorin nähert sich dem Thema sehr vorsichtig an, wie eine getigerte Katze schleicht sie sich langsam heran, zielgerichtet. Nach dem Wegschauen und doch heimlichen Zuhören, kommt die Phase der Fragen. „Warum seufzt meine Mutter oft so wehmütig, wenn sie Freitag bei Dämmerung die Schabbat -Kerzen anzündet? Warum zittert ihre Stimme, warum spannt sich ihr Hals? Warum klingen ihre Lieder wie ein ganz leises Schluchzen? Warum ist sie nicht wie andere Mütter? Warum sind die Eltern hier, wenn sie doch aus einem anderen Land kommen? Warum mussten sie weg?“
Aber Fragen sind gefährlich. „Fragen bringen Seufzer, traurige Gesichter, einen Ausdruck der Abwendung, der Einsamkeit.“
Trotzdem stellt sie sie immer wieder und erzählt ihrem Brieffreund, was sie dabei entdeckt und wie sie damit umgeht. „Mein Brieffreund, deine Sichtweise – sie hilft mir beim Verstehen…“.
So entwickelt sich diese Briefbekanntschaft mit jemandem, den sie gar nicht kennt, fast zu einer Liebe, so intensiv ist die Freundschaft, die in diesen Briefen, durch diese Briefe entsteht. Jetzt ist es der deutsche Freund, der ihr die Fragen stellt, ermuntert sie zum Schreiben, möchte immer mehr wissen. Immer mehr. So sagt und glaubt er es, bis es plötzlich zu viel ist.
Sie erzählt ihm von den Fotos, die sie von einer Freundin bekommen hat. Die Freundin hat es gut gemeint. Sie sind gefährlich, die Leute, die es gut meinen. Das lehrt uns das Leben. Immer wieder. Der lange Brief an Evelyne ist zweifelsohne der springende Punkt des Romans.
„Evelyne! Erinnerungsfotos! Lwów, Juli 1941. Ein Pogrom. Mit diesen Bildern aus dem galizischen Lwów mit diesen nackten verhöhnten Menschen und mit diesen scherzenden deutschen Wehrmachtssoldaten lässt du mich allein. ALLEIN! Ganz und gar verlassen, so fühle ich mich. Schwindlig ist mir, Evelyne. Was für ein Höllenkarussell der tiefsten Abgründe deiner deutschen Vergangenheit, als Deutsche mein Volk in Polen, in der Ukraine und in vielen anderen Ländern brutal ermordeten, präsentierst du mir hier einfach so, en passant? Das will ich so nicht. Hörst du mich? Ich will das nicht wissen, begreifst du das? Nicht so, meine Liebe. Nicht so nah. Nicht die Familie. Nicht so unvorbereitet und allein gelassen. Das will ich mir nicht anschauen.“
Sie schreibt nur so als ob es ihr Brief an ihre Freundin wäre, in der Tat schickt sie ihn gar nicht an sie, sondern an ihren Brieffreund. Und es ist für ihn zu viel. Er ist nicht imstande, den Druck der in den Briefen erzählten Geschichten auszuhalten. Er zieht sich vorerst zurück. War sein Vater etwa Angehöriger einer Elitetruppe im Kampfeinsatz? Der Roman lässt all diese Fragen bewusst unbeantwortet, denn für Nejusch war nicht seine Familienbiographie entscheidend, sondern vielmehr das, wie er damit umgegangen ist, bzw., wie er stellvertretend für die in Deutschland nachgeborenen Kinder und Enkel damit umgeht. Entscheidend ist also nicht sein Nichtwissen oder sein Vermuten, sein Nichtwissenwollen oder sein Ablehnen, sondern vor allem das Verschweigen, das die meisten Kinder und Enkel von Nazi-Tätern geprägt hat.
Nejusch schreibt ihrem Brieffreund am Ende einen vernichtenden Brief, in dem sie mit ihm schonungslos abrechnet. Und somit nicht nur mit ihm, sondern mit allen Deutschen. „Braune Brühe!? Und ich soll, um meinetwillen, in dieser nicht immer wieder herumstochern!? Als ob sie nie gewesen wäre!? Um zu vergessen? Das rätst du mir? Um was zu vergessen? Weißt du nicht, dass meine Großeltern, meine Tanten und ihre Kinder, meine Onkels und deren Freunde, so unzählig viele, viele Menschen, wirkliche, lebendige, in dieser Brühe gekocht wurden?“
Stimmt es, dass man es gar nicht hören möchte? Dass es plötzlich zu viel ist. Gerade in der Zeit als man sich überall offiziell empört, dass Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation der ultrakonservativen katholischen Bruderschaft „Pius X.“ aufhob, und somit auch den Regensburger Bischof Richard Williamson, den Holocaust-Leugner, rehabilitierte, sind auch andere, wenngleich nicht so offizielle Töne zu hören. Im Wochenendmagazin der Berliner Zeitung beginnt die Journalistin Gunda Wöbken-Ekert, mit einem Juden verheiratet, ihren Essay Ganz normale Ausrutscher mit einem prägnanten Satz: „An einem Nachmittag vor zwei Jahren beschloss mein Mann, Fremden nicht mehr zu erzählen, dass er den Holocaust überlebt hat.“ Weil man es eben nicht mehr hören möchte. Gunda Wöbken-Ekert beklagt sich, Nejusch prescht selbstbewusst mit ihrem Zorn und ihrer Empörung vor. Bei Wöbken-Ekert ist es die Entscheidung, sich zurück zu ziehen, dem gegenüber steht hier ein trotziger Beschluss, dass es wichtiger denn je ist, einander zuzuhören: „… du meinst, dass wir nun diese Brühe einfach so in den Ausguss schütten könnten!? Oder denkst du, dass wir nun euch damit in Ruhe lassen sollten? nein! Auslöffeln müssen wir sie und du siehst ja, wie sehr wir an ihr würgen…“
Wie eine zornige Katze faucht sie ihn an, den vermeintlich so guten Brieffreund, diesen Deutschen, der so lange versucht hatte als empfindender und mitfühlender Betrachter zu ihrer gemeinsamen Geschichte und zu ihr zu stehen. Aber die Maske der wohlwollenden Freundschaft fällt runter, die Fassade der Objektivität bröckelt ab. Es reicht, dass die Geschichte, die sie so aufgewühlt hatte, auch ihm zu nah zu gehen scheint. Sofort verschwindet der gute Mensch, der es so gut meinte. Und was kommt? Abwehr? Ablehnung? Abneigung? Feindschaft?
Man kann meinen, solche Diskurse sind nicht neu. Wann hat Martin Walser mit der Holocaust-Keule geschwungen? 1998. Dies hatte aber eine andere Dimension, war Teil einer Antisemitismusdebatte, es passierte in öffentlichen Reden, im öffentlichen Diskurs. Wenn man so will, ist das Problem der Rehabilitierung des Bischofs Williamson auch Teil davon. Aber Nejusch und Wöbken-Ekert stehen in keiner Beziehung zur öffentlichen Debatte, sie berichten vom Leben. In diesem Leben gibt es Leute, die man zufällig in einem Café trifft, es gibt aber auch Freunde, gar Gleichgesinnte. Hätte man sie linke Antisemiten genannt, wären sie empört. Sie sind gesund denkende, politisch aufgeklärte und engagierte Menschen und wenn sie so handeln, handeln sie in einem impulsiven Selbstverteidigungsreflex. „Woher kommen diese inneren Bilder, die das Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen?“ fragt Nejusch ihren Brieffreund.
Für die Leser, die sich die Perspektive der Briefeschreiberin Nejusch und in die ihres nichtjüdischen deutschen Brieffreundes versetzen, öffnet sich ein Spiegel der eigenen Familienrolle: die Angst vor Verrat und Loyalitätsbruch, den Schmerz hinzuschauen sowie die Einsicht in die zu überwindenden und unüberwindbaren Trennwände.
Das Hauptthema des Buches „Das Glück hat mich umarmt“ ist das Durchbrechen des tradierten Schweigens. Es ist vielleicht das Hauptthema des vergangenen Jahrhunderts: Das allmächtige Schweigen in den Familien, die den Krieg er- und überlebt haben. Das Verschweigen der Täter und Täterkinder, das Schweigen der Opfer und deren Kinder hat das europäische Leben des 20. Jahrhunderts geprägt. Der Krieg dauerte knapp sechs Jahre, das Schweigen sieben Dekaden. Es schwiegen Soldaten und Mörder, aber es schwiegen auch Opfer. Vielleicht vor allem die Opfer. Weshalb schweigen die Opfer? Aus Scham? Aus Angst? Nejusch versucht es zu verstehen, genauso, wie ich immer versucht habe, zu verstehen, weshalb meine Mutter, die als Jüdin den Krieg in Warschau erlebt hatte, so zäh darüber schwieg, dass wir sogar nicht wussten, dass sie eine Jüdin ist. Man hat unzählige Forschungsprojekte durchgeführt und Bücher darüber geschrieben, aber eine endgültige Antwort, wie dieses Schweigen zu bezwingen wäre, gibt es nicht. Das Buch von Nejusch ist ein gutes Beispiel dafür.
Ein deutscher Journalist, wäre er redlich, hätte nach der Lektüre von Nejuschs Buch geschrieben, dass die Autorin „mit uns“ abgerechnet hat. Ich habe auch diese Formulierung benutzt, ich bin aber eine Fremde, eine polnisch-jüdische Schriftstellerin, daher musste ich hier zuerst schreiben: Nejusch rechnet mit den Deutschen ab. Aber auch meine Leute bleiben bei der Lektüre nicht verschont. Nejuschs Zorn richtet sich nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen die Polen, weil sie mitmachten, und zwar willig mitmachten. Sie verweist die Deutschen und die Polen auf ihre Plätze, indem sie ihnen ihre damalige Täter- und Mittäterschaft vor Augen führt und entlässt sie somit nicht aus ihrer historischen Verantwortung. Es ist ein Prozess, der den Deutschen und den Polen gemacht wurde. Vergleichbares wird man derzeit schwer in der Belletristik finden!
Das Buch ist jetzt ins Englische und ins Polnische übersetzt. Es passt schon, es auch in Polen zu verlegen. Vor zehn Jahren hätte so ein Buch in Polen einen Schock ausgelöst, so wie es 2000 das Buch Sąsiedzi (Nachbarn) von Jan T. Gross über das Pogrom in Jedwabne ausgelöst hat. Jetzt haben die Polen zehn Jahre lang an ihren Hausaufgaben zum Thema Verantwortung fleißig gearbeitet. Jetzt werden sie vielleicht das Buch von Nejusch nicht lieben, aber lesen werden sie es. Und heftig aufgeregt hin und her diskutieren. Die Zeit ist gekommen. Und es ist gut, dass sie endlich gekommen ist.
Autorin: Ewa Maria Slaska
Nejusch, Das Glück hat mich umarmt: Eine Geschichte in Briefen. Lichtig Verlag, Februar 2009.
erwähnt im Text:
Gunda Wöbken-Ekert, Ganz normale Ausrutscher, Berliner Zeitung, 31. Januar/1. Februar 2009, Magazin
Jan T. Gross, Nachbarn, Der Mord an den Juden von Jedwabne, C. H. Beck Verlag, München 2001