„Ich sehe mich selbst als das Großmütterchen am Kamine sitzen – und um mich herum die Jugend von heute. Sie hören mir so gerne zu, wenn ich von den alten vergangenen Zeiten des jüdischen Lebens erzähle. Die Augen werden größer, sie leuchten. O, Wunder des Blutes! Die Kinder, deren Eltern sich vom Judentum abgewendet, kehren zu ihm zurück. Sie sehnen sich nach ihm und nach der alten großen jüdischen Melodie, die sie nie gehört. Das alles lese ich in den klugen Augen der Kinder, und ihnen will ich das wunde Herz öffnen …“
Diese Worte schrieb die 1833 im weißrussischen Bobruisk geborene Pauline Wengeroff im 2. Band ihrer Memoiren einer Großmutter (S. 187f), die in den Jahren 1908/1910 in Berlin erschienen sind. In ihnen führt sie uns – den Generationen nach ihr – chronologisch den langsamen Zerfall der Lebenswelt und Traditionen des Ostjudentums vor Augen. Mit großer Liebe und Wehmut erinnert sie sich an das jüdische Familienleben ihrer Kindheit, das es nicht mehr gibt. Doch die alt gewordene Pauline ist sich sicher: Da gibt es eine Sehnsucht „nach der alten großen jüdischen Melodie“. Von ihr muss sie erzählen, sie konservieren, damit sie einst wieder aufgenommen und weiter getragen werden kann. Detailliert beschreibt sie den Ablauf jeden Fest-, Fast- und Trauertags des jüdischen Jahres und die Stimmung, die er erzeugt. Sie erläutert alle mit ihm verbundenen Bräuche, rituellen Handlungen und Gebote und spart auch nicht an elementaren Begriffserklärungen: Was sind Latkes und wie werden sie zubereitet? Wie spielt man mit dem Dreidl, was bedeutet kaschern, was Challe nehmen, was Schatnes, was…?!
Eine wahre Schatzkiste jüdischer Überlieferungen hat uns Pauline hinterlassen, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg von vielen westeuropäischen Juden „geöffnet“ wurde und dann – nach dem Holocaust – (fast) verloren war. Paulines Memoiren gibt es nur noch in wenigen Bibliotheken, doch die in ihnen formulierten Erinnerungen wirken fort. Sie sind längst zum Bestandteil der sich über Jahrhunderte fortreihenden Kette jüdischer Tradition geworden, sie sind noch „lebendig“ im (auch ererbten) Gedächtnis anderer Jüdinnen und Juden, wir können sie von Sehnsucht beflügelt, „ausgraben“ und reanimieren!
Eine solche Reanimierung jüdischer Tradition ist der Verlegerin und Autorin Nea Weissberg-Bob mit der Herausgabe der Geschichten „Schabbat ha-Malka – Königin der Jontefftage“ und „Git Schabbes, Dvorale!“ geglückt. Ein Jahrhundert nach Pauline Wengeroff haben sie und ihre Co-Autorinnen Jalda Rebling und Denise Bendrien sowie die Künstlerin Anna Adam die „alte große jüdische Melodie“ wieder aufgenommen. Ihr Buch erscheint in Berlin, wie damals die Erinnerungen von Pauline Wengeroff. Und wie Pauline hat sie eine „unstillbare Sehnsucht“ nach Jüdischkeit und ihrer Bewahrung – auch durch Erinnerung und Wiederaufnahme – zum Schreiben und zur Veröffentlichung getrieben. Wir, die Leserinnen und Leser, sind eingeladen, die „einzigartige Stimmung“ am Schabbat „beschwingt“ mitzuerleben, dabei seine „Traditionen kennen zu lernen“ und „diese selber auszuprobieren“. All das gelingt zum einen durch die empathische Erzählweise der beiden Geschichten und die in ihnen enthaltenen genauen Erklärungen rund um die abendliche Schabbatfeier in der Familie und zum anderen durch illustrierende, wunderschön gestaltete Vignetten, die für sich sprechen sowie durch einen Anhang mit Segenssprüchen, Gebeten und Liedern und ein umfangreiches Glossar.
Und wer wünscht sich nicht eine Großmutter wie Oma Manja, die Woche für Woche den Ta’am schel Schabbat, den „Geschmack“, die besondere und einzigartige Atmosphäre des Schabbat in ihre Wohnung zaubert und damit (nicht nur) ihre Enkelin Deborah beglückt?! Eine Oma, die liebevoll traditionelle Schabbatgerichte zubereitet, aus dem „Jonteffbuch“ vorliest und jüdische Geschichten erzählt, die gemeinsam mit Deborah den Schabbestisch deckt und ihr dabei alles genau erklärt, die dann mit ihr zum Empfang der Braut Schabbat die Lichter bentscht und anschließend eigene „Herzenswünsche murmelt“, die uns ihr Vertrauen auf Gott und ihre tiefe Liebe und Verbundenheit mit ihrer ganzen Familie, den Lebenden und den Toten, und mit „ganz Israel“ spüren lassen.
Längst sind wir selbst in die Rolle der geliebten Enkelin, Omas „Schmuckstück“ und „Engel“ getaucht und empfangen gleichsam mit ihr den großmütterlichen Segen. Ganz eingetaucht sind wir in Omas jüdische Welt, ein Teil davon, und nun selbst bereit, mit ihr das Lecha Dodi zu singen. An diesem Schabbat und am nächsten und dann immer so weiter.
Es ist die Entscheidung jeder einzelnen Jüdin und jedes einzelnen Juden, sich von der Geschichte und den in ihr enthaltenen Erinnerungen „anstecken“ zu lassen und selbst Schabbat zu feiern. Solange wir uns erinnern, geht nichts verloren. Wir können anknüpfen und „die alte Melodie“ wieder aufnehmen.
Das ostjüdische Alltagsleben, in deren Tradition Oma Manja steht, wird es so nie wieder geben. Auch wird Oma Manja ihr Familienleben – so wie auch die meisten Kinder von Holocaustüberlebenden – niemals (wieder) „unbeschwert“ empfinden können. Doch die Hoffnung für künftige Generationen auf ein erfülltes jüdisches Leben besteht. – Deborah kann das Wissen und die Liebe, die sie von ihrer Großmutter empfangen hat, bewahren und weitergeben. Sie erlebt in ihrer Familie jüdische Tradition und kann sie künftig erinnernd bewahren und fortgestalten.
Dass es in Deutschland nach dem Holocaust jemals wieder ein zukunftsfähiges Judentum geben würde, war nicht selbstverständlich: In den 1960er-Jahren haben sich die meisten Jüdischen Gemeinden „im Land der Täter“ als Liquidationsgemeinden verstanden, und noch in den frühen 1990er-Jahren war oft von fehlender Weitergabe jüdischen Wissens und jüdischer Tradition die Rede. In dieser Zeit haben sich viele Jüdinnen und Juden selbst auf den „jüdischen Weg“ gemacht. Sie haben begonnen Hebräisch und jüdische Tradition zu lernen, sie haben begonnen Judentum in ihren Familien oder mit Freunden und Freundinnen zu praktizieren und sind, wie Pauline es einst in ihrer Zeit beschrieben hat, „zurückgekehrt“ oder noch dabei es zu tun. Heute gibt es in Deutschland wieder ein zunehmend vielfältiges und facettenreiches jüdisches Leben.
Ein „Schabbesmärchen“, das nach dem Holocaust in Deutschland für Erwachsene und für Kinder geschrieben wurde, gab es bis jetzt noch nicht. Nun ist es da – als sichtbarer Beweis gegen das Vergessen und für die Kraft der Erinnerung!
Ich wünsche dem Buch, dass es sich für viele Leserinnen und Leser als “Schatzkiste jüdischer Überlieferung„ erweist, sie es eifrig gebrauchen und weiter empfehlen. Ich wünsche ihm, dass es Sehnsüchte nach Jüdischkeit wendet in lebendige Praxis – und ich wünsche ihm, dass eine in ihm enthaltene Utopie bald Wirklichkeit wird: das „klitzekleine Pixi Buch mit dem Titel Prinzessin Schabbat“!
Autorin: Rachel Herweg
Nea Weissberg-Bob: „Schabbat ha-Malka“ – Königin der Jontefftage /“Git Schabbes Dvorale!“: Zwei Erzählungen über den Schabbat, Lichtig Verlag, Berlin 2010.