Thomas Meyer: Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933, Göttingen 2008.
Unser Wissen über die Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes in Deutschland und Europa wurde in vielen Abhandlungen dokumentiert. Worüber wir jedoch weniger Kenntnisse besitzen, ist die Reflektion der intellektuellen Wahrnahme der entwürdigenden Verhältnisse durch jüdische Geisteswissenschaftler in dieser Zeit. Einen Überblick über die Jahre zwischen 1933 und 1938 verschafft uns Thomas Meyer, Jahrgang 1966. In vier unterschiedlich langen Essays analysiert und interpretiert er detailreich mittels ausführlicher Zitate und kurzer Inhaltsangaben der Schriften Diskussionen über jüdische Theologie und Philosophie und deren Verhältnis zueinander. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur (Leipzig) erweist sich als profunder Kenner der Philosophiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie der jüdischen Geistesgeschichte seit der Haskalah. Auf intellektuell hohem Niveau referiert der Autor über den innerjüdischen Geistesaustausch im immer enger werdenden Rahmen jüdischen Lebens in Deutschland und stellt Autoren vor, die heute, wenn überhaupt, uns nur durch Nachkriegsveröffentlichungen bekannt sind.
Waren die innenpolitischen Verhältnisse der Weimarer Republik schon instabil, so änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 die Lage der deutschen Judenheit entscheidend. Schließlich gehörte der Antisemitismus zum Bestandteil ihrer Weltanschauung und es wurden Schritt um Schritt gesetzliche Grundlagen zur Einschränkung der jüdischen Lebenswelt oktroyiert. Die Reaktion der betroffenen Intellektuellen kann nur als verblüffend bezeichnet werden: „… nicht aus Not, sondern aus der Überzeugung, dass die von den neuen Machthabern verordnete Reduzierung aufs Jüdische tatsächlich die Gelegenheit bot, zur Überlieferung zu greifen und sie zu befragen“ (S.12). Die Texte scheinen unabhängig und wehren sich gegen „jede ideologische Vereinnahmung erfolgreich“ (S.12). Bereits im Herbst 1933 legte der Rabbiner Max Wiener (1882 bis 1950) in seinem Hauptwerk „Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation“ eine erste Bilanz des langen Zwiegesprächs jüdischer Philosophen und Theologen mit der Moderne vor. Für Gegenwart und Zukunft empfahl er die vollständige Hinwendung zum jüdischen Wissen.
In diesem Zusammenhang spielte in den geistigen Auseinandersetzungen der früh verstorbene Franz Rosenzweig (1886 bis 1929) eine zentrale Rolle. Sein Lebenslauf empfahl sich als beispielhaft: Geboren und aufgewachsen in einer wohlhabenden assimilierten deutsch-jüdischen Familie mit guten Kontakten zur christlich geprägten Umwelt und der daraus folgenden Abkehr vom Judentum folgte Rosenzweigs spätere Rückkehr zum wahren Glauben. Überzeugend verfolgt Thomas Meyer in dem Aufsatz „Tod und Verklärung – Franz Rosenzweigs Nachleben“ dessen intellektuellen Werdegang und geistiges Weiterleben durch die Rezeptionsgeschichte nach dem Beginn des „Dritten Reiches“. Zugleich weist der Autor auf eine Forschungslücke hin. „Doch wie Rosenzweig in anderen Diskursen aufgenommen, interpretiert oder wie sein Denken transformiert wurde, ist weder in die zeitgenössische Literatur noch für die gegenwärtige bisher geleistet worden“ (S. 132). Es ist die Frage nach dem „wie“, welche auf Antworten harrt. Als Gründe benennt Thomas Meyer Materialfülle und das Fehlen eines erprobten methodischen Modells in der jüdischen Geistesgeschichte, das neben Sachthemen und Argumenten die Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Wir können nur hoffen, dass sich der Autor dieser Herausforderung stellt.
In zwei Texten bringt uns Thomas Meyer die innerjüdischen Diskussionen über „Gesetz und Philosophie“ und ihr Verhältnis zueinander nahe. An den geistigen Auseinandersetzungen waren Alexander Altmann (1906 bis 1987), Julius Guttmann (1880 bis 1950) und Leo Strauss (1899 bis 1973) beteiligt. Die Schriften der Autoren weisen Unterschiede auf und stellen auf verschiedene Art und Weise die großen Fragen jüdischer Existenz angesichts der Moderne neu: „diejenige der gegenläufigen, miteinander in Widerstreit liegenden Tendenzen von Geschichtsdenken und Emanzipation einerseits und jene von Offenbarung und Gesetz andererseits“ (S. 8).
In seinem Essay „Die Stunde der jüdischen Philosophie. Zu Schriften von Fritz Heinemann“ stellt uns Meyer einen (fast) vergessenen Denker vor, der mit seinem seinerzeit viel gelesenen und kontrovers diskutierten Buch „Neue Wege der Philosophie. Geist/Leben/Existenz“ Aufsehen erregte. Das 1929 erschienene Werk von Heinemann (1889 bis 1976) bilanzierte die Hauptdebatten der vergangenen dreißig Jahre deutscher Philosophiegeschichte und erwies sich als eine „Streitschrift, die sich an den Weltanschauungskämpfen ausdrücklich beteiligte“ (S. 176). Mit dieser geistigen Grundlage und Erfahrung entwickelte er im Juni 1935 im Text „Die Stunde der jüdischen Philosophie“ seine Sicht auf die neuen bedrückenden Verhältnisse, denn der „jüdische Mensch war durch die nationalsozialistische Herrschaft und die Errichtung der ‚Volksgemeinschaft’ gezwungen worden, über die platonische Frage nach dem Sinn von Sein unter existenziellen Bedingungen nachzudenken“ (S. 181).
Die „Jüdische Rundschau“ bat eine Reihe von angesehenen Wissenschaftlern, Herausgebern und Mitarbeitern an Bildungseinrichtungen in einer Umfrage über „Die Zukunft der jüdischen Wissenschaft“ um ihre Meinung. Die eingegangenen Äußerungen veranlasste die Redaktion in der Pessach-Doppelnummer 1936 zu folgender Einschätzung: „Den Gesamteindruck der Antworten kann man wohl dahin zusammenfassen, dass die außergewöhnlichen Umstände dieser Zeit uns nicht lähmen, sondern stärker, wacher und aktiver machen“ (S.194). Zehn Antworten veröffentlichte die Zeitschrift. Sie stammten von Autoren aus Kontinentaleuropa, Großbritannien, Palästina und den USA. „Man hat“, schreibt Thomas Meyer, „diese Umfrage in erster Linie als Reaktion auf die Gründung des ‚Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland’ 1935 und vor allem die Etablierung der ‚Forschungsabteilung Judenfrage’ als seinem Rahmen verstanden“ (S.194). Zwei Einwendungen: Für das „Reichsinstitut“ in Berlin kann die Aussage stimmen, jedoch nicht für dessen 1936 in München gegründete Zweigstelle „Forschungsabteilung Judenfrage“. Da war die Frühjahrsausgabe der „Jüdischen Rundschau“ bereits erschienen. „Man“ ist unpersönlich und nicht haftbar zu machen. An dieser Stelle kommt ein Nachteil der Veröffentlichung zum Vorschein – es fehlt der Anmerkungsapparat. „Quellen und Literatur“ als Anhang des Buches erfüllen keineswegs die Anforderungen konkreten Zitaten- und Faktennachweises.
Autor: Uwe Ullrich. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jahrgang 57 (2009), Heft 5, Seite 470 bis 472
Thomas Meyer: Vom Ende der Emanzipation: Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933 (= Reihe Toldot: Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. 6). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, 207 S.