Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008.
Schon immer waren Umbruchzeiten idealer Nährboden für die Ausarbeitung von alternativen Gesellschaftsentwürfen, in denen Vorstellungen über eine andere und vermeintlich bessere Zukunft ausgebreitet wurden. Utopien und Visionen sind (und bleiben) Seismographen eines wirklichen oder gefühlten Krisenbewusstseins, die geistige Reaktion auf unerwartete und umwälzende Veränderungen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts, verstärkt nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871, setzte unaufhaltsam die Industrialisierung der Wirtschaft durch den Einsatz moderner Technik und Technologie ein. Als wesentliche Grundlage des Aufschwungs erwies sich die allgemeine Nutzung der Wissenschaftserkenntnisse. Der aus dem gesamtgesellschaftlichen Umbruch entstandene Widerspruch zwischen wachsender bürgerlicher Wirtschaftsmacht und überkommener ständischer Ordnung musste früher oder später zu Auflösungserscheinungen bestehender Verhältnisse führen. Bürgerlichen Werte und Normen setzten sich allmählich durch. Die soziale und kulturelle Machtstellung des Bürgertums fand kein Gegengewicht im herrschenden politischen System. „Der Ruf der Intellektuellen nach einem ‚neuen Adel’ fiel in eine Zeit, die als Geburtsstunde dieser modernen ‚Sozialfigur’ selbst gilt. Die Beschäftigung mit den Themen Adel und Aristokratie endete für die meisten Intellektuellen nicht auf dem Papier, sondern führte in vielen Fällen zur Gründung von Bünden und Assoziationen. ‚Adel’ und ‚Aristokratie’ fungierten dabei als Deutungsmuster, die dazu dienten, kulturelle, gesellschaftliche und politische Phänomene zu deuten, Probleme zu diagnostizieren und Lösungswege zu artikulieren“ (S.11). Weitere Elitekonzeptionen entstanden als Reaktion auf die von alten und neuen Konservativen verachtete Weimarer Republik.
Alexandra Gerstner, Jahrgang 1975, untersucht in ihrer 2007 an der Freien Universität Berlin eingereichten und mit dem Hedwig-Hintze-Frauenförderpreis ausgezeichnete Dissertation „Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus“. Um ihr Anliegen auf einer allgemein verständlichen Ebene zu unterbreiten, geht die Autorin auf die Begriffsgeschichte von Adel (edles Geschlecht) und Aristokratie (Herrschaft der Besten/ Tüchtigen) ein und zeichnet den Wandel von Begriffsinhalten und zeitgenössische Sinnentlehnungen (Arbeiter-/ Geistesaristokratie) nach. „Der Elitebegriff war bereits mit dem Eintritt in die politisch-soziale Sprache während der Französischen Revolution gegen die Machtansprüche des Geburtsadels instrumentalisiert worden“ und bot jetzt Theoretikern wie Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels (was mit dem Adelsbegriff nicht gelingen konnte) die Möglichkeit, „soziologische Strukturen einer funktional differenzierten Gesellschaft zu beschreiben“ (S. 31).
Im Zentrum von Gerstners Betrachtungen spiegelt sich das (gefühlte) Krisenbewusstsein des Bildungsbürgertums wider. In der umfangreichen Einleitung legt sie den historischen Wandel dar, definiert Ursprung und Wirkung der veränderten Stellung des Adels in der bürgerlichen Gesellschaft und analysiert anhand ihrer fünf ausgewählten Protagonisten die realen Möglichkeiten von deren Gesellschaftsentwürfen.
Dabei greift die Autorin auf Intellektuelle unterschiedlicher politischer, sozialer und religiöser Bekenntnisse sowie verschiedener Generationen zurück. Vorgestellt wurden der nationalliberale Politiker, Schöngeist und Unternehmer Walther Rathenau (1867-1922), der völkische Genealoge Bernhard Koerner (1875-1952), der Pazifist und Sozialist Kurt Hiller (1885-1972), der jungkonservative Revolutionär und Schriftsteller Edgar Julius Jung (1894-1934) sowie der Gründer der Paneuropa-Union Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894-1972). Diese Personenzusammenstellung verspricht eine weite Spannbreite der Vorstellungen über zu verwirklichende Gesellschaftsmodelle.
Walther Rathenau war ein „Mann vieler Eigenschaften“. Er wirkte publizistisch, unterhielt viele institutionelle Verbindungen zur kulturellen wie politischen Elite in Kaiserreich und Weimarer Republik. Die „Unentschiedenheit führte zu einem ‚Doppelleben’ als Industrieller einerseits und Schriftsteller-Philosoph beziehungsweise Politiker andererseits, das zur Signatur seines Daseins wurde“ (S. 53). Die Verschiedenartigkeit seiner Interessen nahm wesentlichen Einfluss auf seine sozialpolitischen Ideen. Setzte sich Rathenau anfangs kritisch mit seinem Judentum auseinander, entwickelte er später Konzepte über das „Reich der Seele“, übte „Kritik der Zeit“ und referierte im Kultbuch „Von kommenden Dingen“. Als Hauptübel des wilhelminischen Staates erkannte er die gesellschaftliche Zurücksetzung des Bürgertums im Allgemeinen und des Wirtschaftsbürgertums im Besonderen. Rathenau deutete auf geschichtsphilosophischer Grundlage die moderne industrialisierte Gesellschaft und erklärte deren Entstehung mit der Bevölkerungsexplosion und dem damit verbundenen notwendigen Wandel der Lebens- und Wirtschaftsformen. In seinen polemischen Schriften lehnt der politisch denkende Unternehmer die Gleichmacherei des Sozialismus ab. Nach seinen Vorstellungen sei das Hauptmerkmal der neuen Gesellschaft die Gerechtigkeit, die auf „Selbstbestimmung und Selbstverantwortung“ beruhe und nicht durch Revolution, sondern durch „Gesinnungswandel“ (S. 61) zu vollziehen sei. Beeinflusst sind die Schriften Walther Rathenaus von Friedrich Nietzsche und den völkischen Denkern Gobineau und Chamberlain. In ihrem Sinne pflegte er die „Adelsgermanenmystik“: „In der vormittelalterlichen Zeit habe es in Europa eine zweischichtige Gesellschaft gegeben, in der Herrscher und Beherrschte rassisch und sozial vollkommen getrennt gewesen seien. Diese Trennung sei notwendig für die Herausbildung von Kultur gewesen“ (S. 119). Dabei stellte er einen engen Zusammenhang zwischen Kultur, Kriegertum und Adel her. Die Probleme der Gegenwart erklärte Rathenau mit der außerordentliche Bevölkerungsvermehrung der unteren Schichten, welche so sehr angewachsen sei, dass sie die Machtpositionen der Etablierten nicht nur angriffen, sondern auch eroberten. Diesen Zustand deutete Rathenau nicht als „Stände- oder Klassenkonflikte, sondern als ‚Rassenkampf’“ (S.119).
Für Edgar Julius Jungs Neuadelskonzept waren „Rasse“ und „Züchtung“ von zentraler Bedeutung, „obwohl er die einseitige Fixierung auf die biologischen Eigenschaften des Menschen als ‚Materialismus des Blutes’ ablehnte und der Rassenlehre gegenüber skeptisch eingestellt war“ (S. 184). Für ihn sind Rassen Ergebnis langwieriger Zuchtprozesse und er wies dem Judentum, wie Spengler und andere Völkische, die Rolle einer „Gegenrasse“ zu, die als Gegenpol zur nationalen Identitätskonstruktion Abgrenzung ermöglichte. Seine Staatsvorstellungen breitete Jung in dem Buch „Herrschaft der Minderwertigen ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich“ aus, welches als wesentlich erweiterte zweite Auflage 1930 erschien. In ihm suggeriert er dem Leser, dass die Machtübernahme durch eine neue, verantwortlich denkende Oberschicht nicht aus Machtwillen, sondern Selbstopferung für das Gemeinwohl entspringt. Rahmenbedingung für die Entwicklung des Staatsgefüges sollte ein sich selbst verwaltendes Ständesystem sein, welches auf der gerechten Verteilung der Rechte und Pflichten beruhe. „Die Besten eines jeden Standes bilden die Oberschicht, die zur Herausbildung der Führung gefordert ist. Durch indirekte Wahl gelangten „Männer“ und nicht „Programme“ zur Machtausübung. Dabei sollten allerdings nicht Unternehmer und sonstige Wirtschaftsführer „selbst die neue ‚echte’ Führerschicht bilden, sondern deren Bildung durch finanzielle Förderung ihrer geistigen Vorreiter unterstützen“ (S. 280). Jungs Neuadelskonzept lehnte sich stark an die romantische Staatslehre, organischen Staatsbegriff und dem Reichsgedanken Adam Heinrich Müllers an und korrespondierte stark mit den Ideen Otmar Spanns. Seine politischen Vorstellungen versuchte Jung als enger Vertrauter Franz von Papens, Vizekanzler in der Regierung Hitler, umzusetzen.
Wie bei Rathenau und Jung untersucht Alexandra Gerstner bei den drei anderen Protagonisten neben den theoretischen Aussagen die Versuche der Intellektuellen, ihre Ideen in die politische Praxis umzusetzen. Die Grundlage, „der Schlüssel zu diesen Ordnungen ist die Hierarchie, also die Rangfolge der Wertmaßstäbe, die das Eingliedern des Einzelnen ins Ganze erlauben. Denn mit den Schlagworten jener Gegenbewegung gegen Massenherrschaft und Demokratie wurde zum einen die Sehnsucht nach Ganzheit benannt, zum anderen aber auch die Gefährdung der eigenen Person, die in den Volksmassen unterzugehen drohte“ (S. 21). In den Neuadelsmodellen und Elitekonzeptionen spielten die Visionen einer „anderen Moderne“, ein gewandeltes Welt- und Menschenbild und die Utopie des „Neuen Menschen“ eine zentrale Rolle. Eine Erlösungshoffnung gab dem Gedanken Zuversicht, den Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft, durch wissenschaftliche Fundierung der Glaubenssätze aufzuheben und das Ziel der Geschichte ins Diesseits zu verlagern. Neuadlige – biologische und geistig-psychologische Kriterien dienen als Zuschreibung adliger Qualitäten – sind immer Tatmenschen, die aufgrund ihrer inneren Qualitäten und Handlungsbereitschaft zur Führung der orientierungslosen Massen berufen sind. Alle Elitekonzepte basieren auf Ungleichheit der Menschen und Hierarchie, sind antibürgerlich und antidemokratisch (Ablehnung von Parteien und Parlament), elitär und autoritär mit dem ausdrücklichen Ziel der Führerauslese. Der stets exklusive Charakter der gegründeten Vereinigungen stand im dauernden Widerspruch des hehren Anliegens, Sammlungsbewegungen auf breiter gesellschaftlicher Basis schaffen zu wollen.
Konsequenterweise hätte Gerstner die Adelsvorstellungen des Nationalsozialismus einbeziehen sollen. Für deren Vorstellungen bietet sich Richard Walther Darrés 1930 in München erschienen Schrift „Neuadel aus Blut und Boden“ an. Sie wäre ein Kontrast gewesen, da sie antimodern und rückwärtsgewandt auf die Stärkung des Bauernstandes gegen Industrialisierung setzte, den Stand der Technik und Wissenschaft ignoriert und so, bei einer Verwirklichung, das Schritthalten mit der weltweiten Entwicklung unmöglich gemacht hätte. Leider entstehen durch die Struktur der Schrift viele Dopplungen von Daten, Ereignissen und Sachverhalten. Das mindert keineswegs den Wert der Promotionsschrift von Alexandra Gerstner.
Autor: Uwe Ullrich
Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 590 S.