Die japanischen Einheit 731 war ein Vernichtungslabor. Im Zweiten Weltkrieg experimentierte man an Hunderttausenden Chinesen mit Milzbrand, Pest und Cholera.
Kriege sind dafür berüchtigt, das Schlechteste im Menschen zum Vorschein zu bringen, obgleich es auch heißt, sie brächten angesichts des Leids ebenso die nobelsten Eigenschaften mancher Menschen hervor. Vermutlich zeigt sich in Ausnahmesituationen, in denen wir einzig unserem Gewissen verpflichtet sind, wer wir wirklich sind – im Guten wie im Schlechten. Im Zweiten Weltkrieg, teilweise auch schon im Ersten Weltkrieg, gab es eine bizarre Mischung aus dem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und Fortschritt, die den Menschen langfristig zugutekommen sollten, und völliger Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Individuum.
Es ist eine traurige Tatsache, dass die verbrecherischen Experimente, die etwa die Nazis an ihren Gefangenen vornahmen, Erkenntnisse hervorbrachten, auf die sich spätere Forschung stützte. Viele Nazi-Wissenschaftler arbeiteten nach Kriegsende für die Geheimdienste und Armeen der Siegermächte. Vielfach testeten Wissenschaftler aber auch schlicht aus, wie man Menschen am meisten Schaden und Leid zufügen konnte. Man probierte chemische und biologische Kampfstoffe an Gefangenen aus, erforschte die Auswirkungen extremer Witterungsbedingungen auf den menschlichen Körper oder testete schlicht aus, wie viel Leid und Schmerz ein Mensch ertragen konnte, ehe er starb.
Dabei ist die Erkenntnis, dass Wissenschaftler, die bar jeder Moral und ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen forschen, zu allem fähig sind, nicht neu. Schon 1816 verfasste die damals 19-jährige Mary Shelley ihren Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges brachte Theaterstücke wie Dürrenmatts „Die Physiker“, Brechts „Das Leben des Galilei“ oder Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ hervor, die sich mit der Verantwortung von Wissenschaftlern gegenüber der Menschheit befassten. Und in der Verfilmung von Michael Crichtons „Jurassic Park“ hält Dr. Ian Malcolm John Hammond vor: „Ja, aber Ihre Leute waren nur darauf konzentriert, ob Sie es schaffen konnten oder nicht. Ob Sie es tun sollten, die Frage stellte sich keiner.“
Das wohl erschreckendste Beispiel dafür, wozu Forscher, die tun und lassen können, was sie wollen, und dabei keinerlei Skrupel haben, fähig sind, sind aber nicht etwa die Atomwaffentests oder auch die grauenvollen Experimente von Josef Mengele, wobei man nicht glauben möchte, dass es noch schlimmer ginge. Nein, wer in die aller tiefsten Abgründe wissenschaftlicher Forschung hinabschauen will, muss in den Marionettenstaat Mandschukuo blicken, den das Kaiserreich Japan noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf dem Boden der chinesischen Mandschurei errichtete. Hier führten verschiedene Einheiten der Kwantung-Armee, einer Heeresgruppe der Kaiserlich Japanischen Armee wissenschaftliche Experimente an Menschen durch. Die berüchtigste jener Einheiten war die Kantō-gun bōeki-kyūsui-bu honbu (関東軍防疫給水部本部; „Hauptabteilung der Abteilung für Epidemieprävention und Wasserversorgung der Kwantung-Armee“) oder kurz Manshū dai-731 butai, also Einheit 731.
Leiter der Einheit 731 war ein ultranationalistischer Arzt und Generalleutnant der japanischen Armee: Dr. Ishii Shirō (1892 – 1959). Schon ab 1932 hatte Ishii erste vorbereitende Experimente in einer Einrichtung bei Harbin durchgeführt, Zhoghma-Festung genannt, doch ein Gefangenenaufstand 1935 nötigte ihn zur Schließung dieser Forschungseinrichtung. So entstand 1936 eine 6 km2 große und 150 Gebäude umfassende Anlage im nahe gelegenen Pingfang. Offiziell war die hier tätige Einheit 731 für die Wasseraufbereitung zuständig. Shinozuka Yoshio (1923 – 2014), ein Mitglied der Einheit, sollte als alter Mann einmal sagen: „Ich habe Dinge getan, die ein Mensch nie in seinem Leben tun sollte!“
Zu diesen Dingen gehöre etwa das Projekt Maruta (丸太; „Holzklotz“), das seinen Namen von der Bezeichnung der Japaner für die Testsubjekte hat. Man sprach beim Töten der Testpersonen untereinander auch davon, „Holzklötze zu fällen“. Man wählte Chinesen aus dem Umland von Pingfang aus und infizierte sie gezielt mit Krankheitserregern. Wie Shinozuka, der damals mit 20 Jahren an den Experimenten beteiligt war, berichtete, wurden etwa mit Typhus infizierte Chinesen einer Vivisektion unterzogen. Das heißt, dass sie bei lebendigem Leibe und ohne Narkose oder Betäubung, da diese die Forschungsergebnisse hätten verfälschen können, aufgeschnitten und Organ für Organ auseinandergenommen wurden wie bei einer Obduktion.
Dies waren keineswegs Einzelfälle. Ende 1941 infizierte man 3.000 chinesische Kriegsgefangene mit Typhus, ließ sie frei, damit sie andere Menschen ansteckten und sammelte sie dann ein, um sie zu „untersuchen“. 1940 hatte man bereits in den Städten Chü Hsien, Ningbo und Kinhwa Pestausbrüche initiieren wollen, wobei der Versuch in Kinhwa scheiterte, in den anderen beiden Ortschaften aber glückte und 120 Todesopfer forderte. Auf die gleiche Weise experimentierte man aber etwa auch mit Cholera. Insgesamt arbeitete Einheit 731 gezielt an der Entwicklung biologischer Kampfstoffe. 1945 räumte Japans Wissenschaftsattaché Hōjō Enyro nach seiner Gefangennahme durch US-Truppen ein, er habe bis 1941 als Bakteriologe in Pingfang an den Experimenten mitgewirkt und danach versucht, mit dem NS-Regime eine gemeinsame Entwicklungsabteilung für biologische Kampfstoffe aufzubauen.
Andere medizinische Experimente schlossen aber auch das gezielte Herbeiführen von Herzinfarkten und Schlaganfällen mit ein. Hinzu kamen Abtreibungen, die gegen den Willen der betreffenden Frauen durchgeführt wurden. Das Interesse Ishiis an chemischer und biologischer Kriegsführung rührte übrigens ausgerechnet aus deren Verbot durch die Genfer Konvention. Aber auch die Auswirkungen von Waffen wurden untersucht:
So berichtete der japanische Militärarzt Ken Yuasa (1916 – 2010) davon, wie Kriegsgefangenen zweimal gezielt in den Bauch geschossen wurde, um dann bei einer Vivisektion die Auswirkungen der Schussverletzung, aber auch Möglichkeiten, die Kugel zu entfernen, erforscht wurden. Das Ziel war herauszufinden, wie man auf dem Feld verletzte Soldaten gegebenenfalls noch retten könnte. Auch die Auswirkungen von Granaten bei unterschiedlichen Entfernungen wurden an Kriegsgefangenen untersucht. Bomben, die mit den zu erforschenden biologischen Kampfstoffen in Form von Pulver oder mit infizierten Flöhen gefüllt waren, testete Einheit 731 ebenfalls an Gefangenen.
Ähnlich wie die Nazis setzten die Japaner Menschen auch starker Kälte oder hohem Druck aus, um die Auswirkungen auf den menschlichen Körper zu erforschen. Dies sollte ähnlich wie die Tests mit Schusswunden und Granaten nicht nur Aufschluss darüber geben, wie man dem Feind am meisten schaden könnte, sondern auch, wie man die eigenen Soldaten unter Extrembedingungen effektiver schützen und einsetzen könnte. Man besprühte Gefangene bei -20 °C mit Wasser und tauchte dann die erfrorenen Körperteile in heißes Wasser. Bei den Experimenten mit hohem Druck wollte man für die Luftwaffe austesten, bei welchen Bedingungen einem Menschen die Augen aus den Höhlen treten. Es gab auch Experimente mit Senfgas, Strahlung, Verhungern lassen, Erhängen. Alle nur denkbaren Methoden, einen Menschen zu töten, und ihre genauen Auswirkungen auf den Körper wurden ausgetestet und untersucht. Man geht von mindestens 3.000 Toten in der Anlage der Einheit 731 aus.
Als das Ende des Krieges absehbar war, vernichteten die Japaner einen Großteil der Beweise. Sie töteten verbleibende Gefangene, ließen die oftmals infizierten Versuchstiere frei und Gebäude der Einrichtungen wurden gesprengt. Eines jedoch behielt man und das waren die Forschungsergebnisse. Mit der Übergabe eben dieser an die USA vertreten durch Generalmajor Charles Willoughby (1892 – 1972) kauften sich die Verantwortlichen, allen voran Ishii, frei und wurden nie vor Gericht gestellt oder als Kriegsverbrecher belangt. Nur jene Mitglieder von Einheit 731, die in sowjetische oder chinesische Kriegsgefangenschaft gerieten, wurden bei den Kriegsverbrecherprozessen von Chabarowsk und Shenyang abgeurteilt. Viele ehemalige Mitglieder, die sich nach Japan hatten retten können, gingen nach Kriegsende in die Pharmaindustrie und forschten weiter. Ishii starb als freier Mann am 9. Oktober 1959 in einem Krankenhaus in Tokyo an Kehlkopfkrebs. Bis zu seinem Tod zeigte er keine Zeichen der Reue.
Autor: Bernd Fischer
Weitere Infos unter
unit731.org (englisch)
Unmasking Horror — A special report. Japan Confronting Gruesome War Atrocity Artikel der New York Times vom 17. März 1995 über die Unit 731
Medizinische Humanexperimente der japanischen Truppen für Biologische Kriegsführung in China, 1932–1945 (PDF; 29 kB)
Die tödliche „Abteilung für Wasserreinigung“. Artikel und Foto von Martin Ebner, Erstveröffentlichung: Der Standard, 7. Dezember 2001
Tötungsfabrik „Einheit 731“. Artikel von André Kunz, Erstveröffentlichung: Die Tageszeitung, 26. August 2002
Artikel der Japan Times über Shinozuka Yoshio (englisch)
Unit 731 Experimentation Camp, Harbin, Manchuria, China (englisch)
David K.: Japan’s dark background 1881–1945: Singapore – Headquarters of the Oka Unit (Unit 9420) (Memento vom 3. Februar 2003 im Internet Archive) (englisch)