Kleine Kinder hinter dem Stacheldraht von Auschwitz, die die eintätowierten Nummern auf ihren Ärmchen zeigen, kleine Jungen im Ghetto Warschau, denen von der SS Gemüse abgenommen wird, Kinder, an denen der KZ-Arzt Mengele seine „Experimente“ vornahm – es gibt ein paar Bilder und Berichte, die davon zeugen, daß in Konzentrationslagern auch Kinder gefangen waren. Aber diese Zeugnisse sind wenige und sie verraten nicht die Hauptsache: In KZs durften Kinder keine Kinder sein, sie waren von ihren Eltern getrennt, sie mußten Tag für Tag schwere Arbeit leisten, sie konnten nicht spielen und keinen Unterricht besuchen. Was geschah mit denen, die im Alter von acht, zehn oder vierzehn Jahren das denkbar schlimmste Schicksal getroffen hatte, in ein nationalsozialistisches Ghetto oder KZ eingeliefert zu werden?
Es ist bekannt, daß es Kinder und Jugendliche unter den KZ-Häftlingen gab, wie auch bekannt ist, wie sie dorthin kamen. Generell kann man vier Gruppen unterscheiden: Erstens Kinder, die im KZ geboren wurden und dort keine Lebenschance bekamen – die Memoiren Überlebender erwähnen mitunter, wie im KZ mit Babies verfahren wurde, und das war so, daß selbst die emotional „abgehärtetsten“ Gefangenen überfordert waren.(2) Zweitens waren es Kinder, die bei Transporten zusammen mit ihren Eltern ins Lager gingen. Drittens handelte es sich um Kinder und Jugendliche, die im eroberten Osten als angebliche „Saboteure“, „Partisanen“ etc. aufgegriffen worden waren. Und viertens gab es noch deutsche Jugendliche, für die das Regime eine eigene Kategorie geprägt hatte:
Ein Auszug aus einem Brief ans Führer-Hauptquartier über die „Swing Jugend“ in Hamburg:
„Alle Rädelsführer … unter den Lehrern diejenigen, die feindlich eingestellt sind und die Swing-Jugend unterstützen, sind in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dort muss die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen und dann in schärfster Form exerzieren und zur Arbeit angehalten werden. … Der Aufenthalt im Konzentrationslager für diese Jugend muss ein längerer, 2-3 Jahre sein. Es muss klar sein, dass sie nie wieder studieren dürfen. Bei den Eltern ist nachzuforschen, wie weit sie das unterstützt haben. Haben sie es unterstützt, sind sie ebenfalls in ein KL zu verbringen und das Vermögen ist einzuziehen“.
Der Reichsminister des Inneren hatte am 24. Mai 1939 das Reichskriminalhauptamt ermächtigt, sog. „Jugendschutzlager“ einzurichten. Dabei beabsichtigte man keine Kopie der bereits vorhandenen KZs, vielmehr ging es darum, „etwas völlig Neues, dem Alter und der Wesensart der in Frage stehenden Menschen Angemessenes zu schaffen“. Dieses „Neue“ bestand darin, daß reguläre KZs der „Sicherung der Volksgemeinschaft vor dem Eingewiesenen“ dienten, während in den Jugendlagern „die Erziehung der noch nicht voll entwickelten Menschen gewissermaßen als letzter Versuch nach anderen Erziehungsgrundsätzen eingesetzt“ werden sollte. Die „anderen Erziehungsgrundsätze“ wurden von Kriminalbiologen und „Sippenforschern“ festgelegt und führten in den Lagern zu einem mehrstufigen „Blocksystem“:
- B-Block (= Beobachtungsblock)
- U-Block (= Block der Untauglichen)
- S-Block (= Block der Störer)
- D-Block (= Block der Dauerversager)
- G-Block (= Block der Gelegenheitsversager)
- F-Block (= Block der fraglich Erziehungsfähigen)
- E-Block (= Block der Erziehungsfähigen, der einzige mit Entlassungen)
- St-Block (= Staatspolizeiblock für „Politische“, Mitte 1943 eingerichtet)
In den vorliegenden Anträgen auf Unterbringung in den Jugendlagern fällt besonders die Reduzierung der darin getroffenen Aussagen auf negativ besetzte Verhaltensweisen oder Eigenschaften der Betroffenen auf. Dabei wurde häufig die Auflistung von Verfehlungen und vermeintlichen Charakterschwächen für die Argumentationskette geschickt benutzt, um über diesen Weg der Stigmatisierung und Kriminalisierung die jeweils „notwendige“ Unterbringung im Jugend-KZ dringlich und revisionssicher zu untermauern. Kennzeichnend sind die Verwendung von dehnbaren Worthülsen bei der Verhaltensbeschreibung und die kategorische Abstempelung der Jugendlichen zu „Arbeitsscheuen“, „geborenen Verbrechern“ und „Volksschädlingen“. Die Einweisungsgründe verweisen eher auf erzieherische Bankrotterklärungen bei der Beurteilung der sog. „Zöglinge“. So regte ein Mitarbeiter des Landesjugendamtes Kattowitz in seinem Antrag vom 18.07.1944 zum Beispiel an, die „pubertätskritische Trotzhaltung“ des betreffenden Jungen mit den Mitteln der Jugend-KZ-Haft „zu brechen“. Zwangsläufig waren von der Haft im Jugend-KZ vor allem solche Jugendliche betroffen, die sich unter dem Einfluß des Krieges der zunehmenden Reglementierung sämtlicher Lebensbereiche zu entziehen versuchten und mit den Norm- und Wertvorstellungen des NS-Staates in Konflikt gerieten. Vor allem die Fälle der zunehmenden „Arbeitsverweigerung“ („Blaumachen“), des „Umherstreunens“, der Diebstähle und eines freizügigeren Sexuallebens gelangten als „volksschädigendes Verhalten“ in das Blickfeld von Polizei und SS. Dabei ist festzuhalten, dass unter dem Einfluß der Kriegsgeschehnisse und der damit einhergehenden Militarisierung des gesamten Lebens- und Arbeitsumfeldes die normative Bestimmung der Begriffe „Asozialität“ und „Kriminalität“ erheblich ausgedehnt wurde, je mehr die staatliche Autorität auch durch sogenannte „innere Feinde“ angreifbar erschien. Beklagte die deutsche Justiz zunächst noch den rein polizeilichen Charakter der Haft und die fehlende Einbindung ihrer Instanzen, so reagierten SS und Polizei mit taktischen Zugeständnissen, wie z.B. mit einem Anhörungsrecht für die Vormundschaftsrichter. Letztlich hatten Polizei und SS mit der Einrichtung der Jugend-KZ einen weiteren partiellen Erfolg im Macht- und Kompetenzgerangel der verschiedenen NS-Instanzen erzielt.
Die bekanntesten Jugendlager waren:
- „Jugendschutzlager Moringen“ (bei Göttingen) für männliche Jugendliche, errichtet ab dem 15. August 1940, mit Nebenlagern in Volpriehausen (1. Juli 1944) und Berlin-Weißensee (14. September 1943). Über die Lebensbedingungen der dort inhaftierten Jugendlichen heißt es: „Der Lageralltag vollzog sich für die Häftlinge nach einem normierten, präzise geregelten Tagesablauf, in dessen Mittelpunkt militärisch ausgerichteter Drill stand. In seiner repressiven Ausprägung bildeten „Arbeit, Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit und Disziplin“ absolute Dogmen, die durch eine schier unübersehbare Vielzahl von Anordnungen, Appellen und Strafen brutal durchgesetzt wurden. So nannte der sog. „Leitende Erzieher“ des Lagers in einem Vortrag 51 verschiedene Arten von „Disziplinwidrigkeiten“, die mit dem Strafapparat sanktioniert werden konnten. Dazu gehörten unter anderem: Beanstandungen bei den zahlreichen Appellformen (Zähl-, Spind-, Betten-, Sauberkeits- und Geschirrkontrollen), Verstöße gegen die Lagerordnung (Fluchtversuche, unerlaubte Kontaktaufnahmen), negativ beurteilte Arbeitsleistungen oder Lebensmitteldiebstähle. Der auf offiziellen und inoffiziellen Sanktionen und Schikanen basierende Unterdrückungsapparat erfasste dabei akribisch jede Form abweichenden Verhaltens oder der Resistenz der Häftlinge. Neben dem Entzug von Vergünstigungen und den angewandten Ordnungsstrafen wurden vor allem der Essensentzug, das „harte Lager“, das Strafstehen über mehrere Stunden sowie die Stockhiebe und der sog. „Strafsport“ von den Häftlingen als besonders schmerzlich empfunden. Wie in den anderen KZ, so stand auch in Moringen die bedingungslose Ausnutzung der Arbeitskraft bei völlig unzureichender Verpflegung und mangelnder medizinisch-hygienischer Versorgung im Vordergrund. Der 10- bis 12stündige Arbeitseinsatz der Häftlinge erfolgte vorwiegend für Rüstungszwecke bzw. zur Aufrechterhaltung der Kriegsmaschinerie.“ (Quelle)
- „Jugendschutzlager Uckermark“ (bei Ravensbrück) für weibliche Jugendliche, errichtet ab dem 1. Juni 1942 mit einem Nebenlager in Dallgow-Döberitz (1. Juni 1944). In diesem Lager herrschte ganztägiges Redeverbot für die Insassinnen, dessen Verletzung streng bestraft wurde. An weiteren Details ist bekannt: „Nach einem Bericht der Lagerleiterin Lotte Toberentz aus dem Jahr 1945 lebten von den ersten 500 Häftlingen 288 Mädchen vor ihrer Haft in Uckermark in Fürsorgeerziehungsanstalten, 220 Mädchen litten an einer Geschlechtskrankheit, 125 waren einmal, 64 zweimal und 52 dreimal vorbestraft. Auch für das Lager Uckermark fällt in den vorliegenden Anträgen auf Unterbringung in beiden Jugendlagern vor allem die Reduzierung der darin getroffenen Aussagen auf negativ besetzte Verhaltensweisen oder Eigenschaften der Betroffenen auf. Das eigene pädagogische Versagen ausblendend, blieb es den jeweiligen Sachbearbeitern in den Heimen und FE-Behörden, bei der Polizei oder den Gerichten vorbehalten, das jugendliche Verhalten als „gemeinschaftsfremd“ bzw. „asozial“ und die betroffenen Mädchen als „erziehungsfähig“ bzw. „erziehungsunfähig“ zu definieren, wobei eine klare Abgrenzung oder Definition dieser Begriffe nicht vorgegeben war.“ (Quelle)
Diese Lager waren rein ökonomisch höchst profitabel: An der extensiven Zwangsarbeit der Jugendlichen wurde ca. das Doppelte dessen verdient, was für den Unterhalt des Lagers, die Gehälter der rund 150 Beschäftigten etc. aufgewendet wurde. Zu den genannten Lagern zählte auch das „Polenjugendverwahrlager in Litzmannstadt“, dem ehedem polnischen Lódz, das nach der Niederlage Polens der neugebildeten Provinz „Warthegau“ zugeschlagen wurde. In der Stadt bestand bereits ein jüdisches Ghetto, und das Jugendlager wurde ab dem 1. Dezember 1942 errichtet. In ihm waren anfänglich Jungen und Mädchen von 12 bis 16 Jahre inhaftiert, im Januar 1943 wurde die Altersgrenze auf 8 – in Worten: acht! – Jahre herabgesetzt, kurz darauf sogar eine Abteilung für Kleinkinder ab zwei Jahren eröffnet. Die Kinder waren eingeteilt in sog. „Bandenkinder“, „Streuner“ und „Eindeutschungsfähige“, ein nicht geringer Teil waren auch Kinder von polnischen „Fremdarbeitern“, die man in das Lager einwies, damit sie nicht die Fürsorgeeinrichtungen des Reichs belasteten. Auch für Achtjährige galt: „Arbeitseinsatz von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends.
Kinder und Jugendliche gab es nicht nur in diesen Lagern – es gab sie in jedem KZ. Sie waren dort, weil sie dorthin eingewiesen wurden, sobald sie über 16 Jahre alt waren. So bestimmte es eine Verordnung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), die sich widersprach: „Exekutionen von jugendlichen Ostarbeitern erfolgen nur in K(onzentrations-)L(agern), auch dann, wenn der Jugendliche noch keine 16 Jahre alt ist“. Die Altersgrenze von 16 Jahren scheint nie beachtet worden zu sein, wie ein Beispiel aus dem KZ Mauthausen verdeutlicht. Dort trafen am 16. März 1944 176 Ostarbeiter-„Jugendliche“ ein, von denen einer 13 Jahre alt war, drei 14 bis 15 Jahre, 16 15 bis 16 Jahre und der Rest 16 bis 18 Jahre alt waren. Es waren überwiegend polnische und russische Jugendliche, die in „Einsatzfähige“, „bedingt Einsatzfähige“ und „Nichteinsatzfähige“ eingeteilt und zur Arbeit geschickt wurden. Ihre Arbeit fand in Steinbrüchen oder beim Stollenbau statt, nur die „Nichteinsatzfähigen“ wurden als Kartoffelschäler verwendet.(4) Es ist nicht leicht und schon gar nicht angenehm, die Spuren von Kindern in KZs zu suchen – die im KZ Gusen beispielsweise so aussahen:
„Das KL GUSEN war in sanitärer Hinsicht vollkommen verwahrlost. Anfangs gab es im Lager keinerlei Kanalisation, nur wenige Wasserstellen und keine Abortanlagen. Anstelle der Toiletten benutzten die Häftlinge Latrinen neben den Baracken oder leere Marmeladekübel in den Gefangenenzellen. Jüdische Häftlinge und vor allem Kinder waren für die Entleerung und Reinigung der Fäkaliengruben und für den Abtransport in großen Behältern zuständig.
Dabei hatten die Kinder von Gusen noch Glück, verglichen mit dem Schicksal, das Kinder in Auschwitz erlebten. Rudolf Höß (1900-1947), langjähriger Kommandant von Auschwitz, erinnerte sich an entsprechende Szenen:
„Die kleinen Kinder jammerten meist ob des Ungewohnten beim Ausziehen, doch wenn die Mütter gut zuredeten, oder die vom Sonderkommando, beruhigten sie sich und gingen spielend, sich gegenseitig neckend, ein Spielzeug im Arm, in die Kammern. Ich habe auch beobachtet, dass Frauen, die ahnten oder wussten, was ihnen bevorstand, mit der Todesangst in den Augen die Kraft noch aufbrachten, mit ihren Kindern zu scherzen, ihnen gut zuzureden. Eine Frau trat einmal im Vorübergehen ganz nahe an mich heran und flüsterte mir zu, indem sie auf ihre vier Kinder zeigte, die sich brav angefasst hatten, um die Kleinsten über die Unebenheiten des Geländes zu führen: „Wie bringt ihr das bloß fertig, diese schönen lieben Kinder umzubringen? Habt ihr denn kein Herz im Leibe?“
Ein „Herz im Leib…“? Die Frage an die SS zu stellen, hieß, sie zu verneinen! Aber andere hatten ein Herz für Kinder:
„Am 13. Oktober 1997 wurde im Museum von Yad Vashem in Jerusalem eine Ausstellung „Es gibt keine kindlichen Spiele“ eroeffnet. Es gibt dort Puppen, Spielsachen, Gesellschaftsspiele und Zeichnungen von Kindern vieler Laender aus dem Holocaust. Unter diesen ist auch ein selbstgemachtes „Monopol“-Spiel der Brueder Micha und Dan Glass aus dem Ghetto Theresienstadt, Puppen eines Ghetto-Wachmannes und einer Krankenschwester, genaeht in Theresienstadt, die Marionette eines Clowns, die vom 14-jaehrigen Jan Klein unter Anleitung von Walter Freund im Ghetto geschaffen wurde. Marianne Grant aus Glasgow rekonstruierte fuer die Ausstellung die Zeichnungen von Schneewittchen und der 7 Zwerge, von Eskimos und anderen bunten Gestalten, wie sie Dinah Gottlieb auf die Waende des Kinderblocks im Birkenauer Familienlager gemalt hatte.“ (Quelle)
Noch wichtiger als Spielzeug war für die Kinder, auch im KZ wenigstens eine Imitation von Bildung, Schule und Unterricht zu erleben. Von diesem Bereich ist in offiziellen Verlautbarungen des Regimes, die sich auf Jugendlager etc. beziehen, nie die Rede. Das war auch nicht nötig, weil jegliche Bildung für Kinder einfach verboten war – was aber von der SS mitunter nicht allzu streng befolgt und von den Erwachsenen eher als Herausforderung zum Widerstand verstanden wurde. Aus dem „Musterghetto“ Theresienstadt gibt es dazu einen Bericht:
„Die Kinder stellen einen besonderen Part in der Geschichte des Konzentrationslagers Theresienstadt dar, da sie die Hoffnung auf Zukunft und auf Überleben waren. Deshalb versuchte man den Kindern so gut wie es geht eine bessere Lebensqualität, Verpflegung und eine Unterbringung zu sichern. Am Anfang wurden die Kinder genauso wie die Eltern, in überfüllten Räume in Kasernen untergebracht. Jungen und Mädchen mussten ab ihrem zwölften Lebensjahr bei ihren Eltern leben. Dabei durften die Mädchen nur bei ihrer Mutter und die Jungen nur bei ihrem Vater leben. Nach einiger Zeit wurden dann separate Räume für die Kinder angelegt, um die Lebensqualität zu steigern, doch diese war unter den Umständen auch nur minimal zu steigern. Im Sommer 1942, als die Bewohner von Theresienstadt „ausgesiedelt“ wurden, konnte man für die Kinder insgesamt elf Kinderheime errichten, um ihnen das Leben physisch als auch psychisch zu erleichtern. Diese Kinderheime wurden von Häftlingen, die Erzieher oder Pädagogen waren, geleitet. Man hat es sogar geschafft, obwohl die Nazis ein Verbot verhängt hatten, einen heimlichen Schulunterricht zu gründen und zu führen.“
Wenn das Regime nicht einmal in Theresienstadt Unterricht gestattete, dann war in den KZs im eroberten Osten schon gar nichts zu erhoffen: Slaven waren „Untermenschen“, die keine Bildung benötigten! Die Betroffenen sahen das freilich nicht ein und versuchten alles, um Kindern die nötige Bildung zu vermitteln. Im KZ Stutthof, schon 1939 bei Danzig errichtet, trafen 1943/4 zahlreiche polnische Mädchen ein, die noch nicht die Grundschule abgeschlossen hatten.(5) Für sie organisierte Halina Strzelecka (eine frühere Lehrerin) einen „geheimen Unterricht“ (tajne nauczanie), der ein ganzes Jahr lang fortgeführt wurde. Halina Strzelecka gewann Berufskolleginnen zur Mitarbeit, die entweder Fachunterricht erteilten (Mathematik, Polnisch, Geschichte) oder den Lehrplan der Klassen VI und VII zugleich „durchzogen“. Die Schulstunden wurden am Abend in einer Zimmerecke abgehalten, mitunter auch während der Spaziergänge auf den Lagerstraßen.
Wie immer, so stand auch hier die polnische Pfadfinderorganisation im Mittelpunkt, die legendären Harcerzy (ZHP). Im KZ Ravensbrück hatten diese „Helden im Zeichen der Lilie“ (bohaterowi spod znaku lilijki) eine Geheimorganisation „Mury“ (Mauern) gegründet, die von Herbst 1941 bis April 1945 aktiv war und ein ganzes Netzwerk von Unterricht unterhielt.(6) Dieses Netzwerk, von inhaftierten Lehrerinnen umsichtig geplant, war von staunenswerter Breite und Tiefe: Es umfasste Grundschule, Oberschule und Lehrerseminar, enthielt alle Fächer „außer Zeichnen, Gesang und Sport“ und stand nicht nur Polinnen offen. Auch Deutsche kamen zu den Geschichtsstunden und hörten dort erstmals etwas über deutsch-slavische Wechselseitigkeit in der Vergangenheit. Das war um so erstaunlicher, als das Ziel der polnischen Lehrerin Helena Salska eine „odniemczenie naszej historiii“ war, eine „Entdeutschung unserer Geschichte“, d.h. eine Kritik zahlreicher Geschichtsklitterungen, die unter dem Einfluß der deutschen Historiographie in Polen Raum gegriffen hatten.
Der gymnasiale Unterricht in Geschichte umfasste sieben Wochenstunden. Der Tag begann um 4 Uhr morgens, um 5 Uhr war Appell und bis dahin mussten Bettenbau, Aufräumen, Frühstück etc. erledigt sein. Dennoch fand sich hier etwas Zeit, die wichtigsten Themen kurz zu erläutern – die dann während der stundenlangen Appelle memoriert werden konnten. Noch besser war dafür der Abendappell geeignet, bei welchem die Mädchen am Himmel das suchen konnten, was ihnen die Lehrerin für Physik und Astronomie Peretiatkowicz über Sterne und Himmelsbewegungen doziert hatte. Zeit für intensiven Unterricht in polnischer Literatur, Fremdsprachen, Mathematik etc. blieb nur am freien Sonntag. Irgendwie gelang es den Mädchen, Papierstücke und Schreibutensilien zu ergattern, um das zu notieren, was ihnen Lehrerin Felicja Fulinska zuvor mit einem Stöckchen in den Sand gemalt hatte. Der Unterricht gliederte sich in Grund-, Mittel und Oberschule, woran sich noch ein „Lehrerseminar“ (kurs nauczycielski) schloß: 16 Hörerinnen verfolgten sechs Monate lang, was ihnen Dozentinnen zu Methodik und Didaktik vortrugen und studierten die kurzen Unterrichtshilfen, die auf irgendwelchen Papieren geschrieben waren, die zuvor in den Büros der Lagerverwaltung entwendet worden waren. Das war höchst gefährlich, denn in den Jugendlagern galten rücksichtslose Strafbestimmungen: Wer unpünktlich zur Arbeit erschien, bekam „15 Rutenschläge“, für Brotdiebstahl gab es „20 Stockschläge und 2 Tage Arrest“, desgleichen „für Apfeldiebstahl bei Nacht“ etc.
Wo immer im KZ schutzlose Kinder – wie auf nebenstehendem Bild im „Polen-Jugendverwahrlager Litzmannstadt“ -und wirklich „berufene“ Pädagogen zusammenkamen, da dürften ähnliche Pläne bedacht und realisiert worden sein: Kinder brauchen Unterricht, Pädagogen können ihn geben, der Rest sind Vorsicht (vor „Blockältesten“ und SS), Zeitplanung und „Organisieren“ von Hilfsmitteln. Der reine Unterrichtsstoff war im Grunde zweitrangig: Wer etwas zu lehren hatte, der lehrte es und fand dafür hochmotivierte Schüler – und wenn es ein „Kurs für Zahnarztassistentinnen“ war, in dem 15-jährige Mädchen mit allem Ernst „büffelten“.(7)
Wie konspiratives Unterrichtsmaterial im KZ beschaffen war, demonstriert das umseitig wiedergegebene Blatt, das ich vor langen Jahren im Archiv der Gedenkstätte Dachau fand: Auf einem DIN-A-4 Faltbrief des KZ, auf dem noch die obligatorischen Postvorschriften stehen, zeichnete jemand eine „Chronologische Karte v(on) 500 000 v(or) – 1929 n(ach) Chr(istus)“. Als Vorlage nutzte er das berühmteste Werk seiner Zeit, „The Story of Mankind“, die Hendrik van Loon (1882-1944) 1921 verfaßt hatte.(8)
Diese Namen finden sich auch auf dem Dachauer Blatt, zudem noch van Loons Motto: „The scene of our history is laid upon a little planet, lost in the vastness of the universe“. Auf dem Dachauer Blatt heißt es: „Die Geschichte der Menschheit spielt sich auf einem kleinen Planeten in der Unendlichkeit des Weltalls ab“. Die Details dazu verzeichnet das Blatt.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Chagoll, Lydia: Im Namen Hitlers – Kinder hinter Stacheldraht, Köln/ Frankfurt M. 1979
Diekmann, M. / D. Hilarová: Ich habe keinen Namen – eine Fünfzehnjährige im KZ, Würzburg 1985
Fruchtmann, Karl : Zeugen – Aussagen zum Mord an einem Volk, Köln 1982
Grabowska, Janina: Dzieci i wiezniowe maloletni w obozie koncentracyjnym Stutthof (Kinder und minderjährige Häftlinge im Konzentrationslager Stutthof), in: Stutthof Zeszyty Muzeum 2, Warschau et al. 1977
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998
Maršálek, Hans : Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 2.A. Wien 1980
Szefer, Andrzej (Hrsg.): Mury – Harcerska konspiracyjna druzyna w Ravensbrück – Wspomnienia (Mury – Eine geheime Pfadfinder-Gemeinschaft in Ravensbrück – Erinnerungen), Katowice 1986
Anmerkungen
1) Lydia Chagoll: Im Namen Hitlers – Kinder hinter Stacheldraht, Köln/ Frankfurt M. 1979
2) Karl Fruchtmann: Zeugen – Aussagen zum Mord an einem Volk, Köln 1982
4) Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 2.A. Wien 1980, S. 111 ff.
5) Janina Grabowska: Dzieci i wiezniowe maloletni w obozie koncentracyjnym Stutthof (Kinder und minderjährige Häftlinge im Konzentrationslager Stutthof), in: Stutthof Zeszyty Muzeum 2, Warschau et al. 1977, S. 33-54
6) Andrzej Szefer (Hrsg.): Mury – Harcerska konspiracyjna druzyna w Ravensbrück – Wspomnienia (Mury – Eine geheime Pfadfinder-Gemeinschaft in Ravensbrück – Erinnerungen), Katowice 1986, S. 158 ff.
7) M. Diekmann, D. Hilarová: Ich habe keinen Namen – eine Fünfzehnjährige im KZ, Würzburg 1985, S. 42 ff.
8) http://www.authorama.com/story-of-mankind-1.html