Unleugbar Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie
Als am 17. März 2012 in einem Pflegeheim in Bad Feilenbach ein 92 Jahre alter Mann starb, endete ein Stück deutscher Kriegs-, Nachkriegs- und Strafprozess-Geschichte, das kaum zwiespältiger hätte sein können. Der Mann selbst sah sich stets als „Opfer der Deutschen“; Ein Gutachter nannte ihn „den kleinsten der kleinen Fische“, die für NS-Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden; Andere denken bis heute mit Abscheu und Entsetzen an den vermeintlichen Massenmörder zurück. Möglicherweise war er keines davon. Eines war er offenbar tatsächlich nicht: der berüchtigte Majdanek-NS-Scherge „Iwan der Schreckliche“. Netflix widmete ihm sogar eine eigenen Dokumentation.
Unfreiwillig Strafprozess-Geschichte geschrieben
John Demjanjuk, am 3. April 1920 in Dubowi Macharynzi in der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik geboren als Iwan Mykalajovyč, hat unfreiwillig in zweifacher Hinsicht Strafprozessgeschichte geschrieben. Er war der erste und bisher nach wie vor einzige nicht-deutsche untergeordnete NS-Befehlsempfänger, der vor ein deutsches Gericht gestellt wurde. Außerdem änderten wegen seines Falles deutsche Gerichte von da an in einer grundsätzlichen Frage ihre Rechtsprechung. Bis dahin hatte es als unbedingt notwendig gegolten, einem Angeklagten mindestens eine ihm vorgeworfene Tat individuell konkret nachweisen zu können, um ein Urteil von Belang herbeiführen zu können. Aufgrund der ungeheuerlichen Fallzahlen, um die es bei Demjanjuk ging, und aufgrund der Tatsache, dass er im Lager Sobibor unleugbar Teil der „Vernichtungsmaschinerie“ des NS-Regimes war, sah sich die Staatsanwaltschaft veranlasst, davon auszugehen, dass seine Tätigkeit dort aufgrund der Gesamtumstände für eine Verurteilung ausreiche. Dieser Einschätzung schloss sich das Landgericht München II, vor dem der Fall verhandelt wurde, an. Das Urteil lautete auf fünf Jahre Freiheitsstrafe. Dass es derart milde ausfiel, lag unter anderem daran, dass er bereits acht Jahre in Israel in Haft gewesen war. Weil er als Staatenloser Deutschland nicht verlassen konnte, und aufgrund seines zu diesem Zeitpunkt bereits hohen Alters und seines schlechten Gesundheitszustands wurde er auf freien Fuß gesetzt, bis über eine von ihm ebenso wie von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision entschieden wäre. Es kam nicht mehr dazu. Demjanjuk, der nach Überzeugung des Gerichts in Sobibor an der Ermordung von mindestens 28.060 Menschen beteiligt gewesen war, starb als freier Mann. Eine Verurteilung postum ist nach deutschem Recht nicht möglich. Wenn ein Angeklagter stirbt, ist das Verfahren gegen ihn ohne wenn und aber einzustellen.
Beinahe wäre er aufgrund einer Verwechslung gehenkt worden
Tatsächlich wäre Demjanjuk beinahe gehenkt worden, und zwar in Israel, Jahre zuvor. Mehrere Holocaust-Überlebende hatten geglaubt, in ihm den bereits erwähnten „Iwan den Schrecklichen“ aus dem übergeordneten Lager Majdanek wiederzuerkennen. Im Prozess stellte sich jedoch heraus, dass sie ihn vermutlich aufgrund einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit (Kopfform, Ohren und andere Details) mit diesem Schlächter verwechselt hatten. Das israelische Gericht sprach Demjanjuk nachträglich frei. Ein winziger Rest an Zweifeln, ob beide nicht vielleicht doch identisch gewesen sein könnten, ist bis heute geblieben. Bis es zu dem Freispruch kam, saß der Ukrainer insgesamt acht Jahre in einem israelischen Gefängnis, fünf davon, weil bereits zum Tod verurteilt, sogar in der Todeszelle.
John Demjanjuks Lebenslauf im Einzelnen
Demjanjuk arbeitete, nachdem er vier Jahre lang die Schule besucht hatte, als Traktorfahrer, bis ihn 1940 die Rote Armee zum Kampfeinsatz einzog. 1942 geriet er bei der Schlacht um Kertsch in deutsche Kriegsgefangenschaft und kam zunächst in ein Kriegsgefangenenlager bei Chelm. Dort nahm sein weiteres Leben eine entscheidende Wende. Im nicht weit entfernten Trawniki, einem Zwangsarbeitslager, wurde er wie mehrere tausend andere sogenannte „fremdvölkische“ Gefangene dazu gezwungen, sich als Hilfswilliger für unterschiedlichste Arbeiten zur Verfügung zu stellen. Anfangs handelte es sich meistens um die Bewachung von gefangenen Lagerinsassen, häufig Juden. Später kamen nach einer speziellen Ausbildung andere, weniger harmlose Tätigkeiten hinzu. Schon in den Arbeitslagern waren die hygienischen und sonstigen Zustände katastrophal, die Sterblichkeitsrate nicht nur unter den Gefangenen extrem hoch. Die Trawniki-Männer oder Trawniki, wie sie nach und nach nur noch genannt wurden, waren einem nicht zu unterschätzenden psychischen Druck ausgesetzt. Sich den Befehlen der NS-Schergen zu widersetzen, war kaum möglich. Bei verschiedenen Gelegenheiten versuchten es einige; Der Versuch endete meistens tödlich. Wie willig oder widerwillig Demjanjuk in dem perversen System mitmachte, ließ sich nie mit Sicherheit rekonstruieren. Wenig nach seiner „Ausbildung“ war er wahrscheinlich im Konzentrationslager Majdanek eingesetzt. Kurz darauf, am 27. März 1943, tauchte er im Vernichtungslager Sobibor auf, wo er endgültig Teil des Vernichtungssystems wurde. Von Lublin aus, dem Majdanek ebenso wie Sobibor und andere Lager angegliedert waren, wurde die „Aktion Reinhardt“ gesteuert. Was so harmlos klingt, war nichts anderes als die planmäßige Vernichtung allen jüdischen Lebens in dem Generalgouvernement im Dreiländereck Polen, Weißrussland, Ukraine, der allein in Sobibor bis zu 250.000 Juden zum Opfer fielen. Die meisten von ihnen wurden in eigens errichteten Gaskammern mit Kohlenmonoxid getötet. Zyklon B scheint in Sobibor nicht eingesetzt worden zu sein. Neben dem Tod in der Gaskammer waren mehr oder weniger willkürliche Erschießungen an der Tagesordnung. In der Regel mussten Gefangene die Toten begraben oder verbrennen, bevor sie selbst erschossen wurden. Dass der Ukrainer in Sobibor nur untergeordnete Bewachungs-Funktionen innegehabt haben wollte, nahm ihm das Gericht nicht ab. Es war bekannt, dass sämtliche Trawniki in diesem ausschließlich zur Ermordung von Juden errichteten Lager in alle dort anfallenden Tätigkeiten eingebunden waren. Das mitsamt dem Hinweis, wenn er es denn unfreiwillig getan habe, hätte er zumindest versuchen müssen, zu fliehen, war schließlich ausschlaggebend für die Verurteilung.
Lange Jahre lebt Demjanjuk unbehelligt in den USA
Bevor John Demjanjuk anscheinend noch kurze Zeit in der sogenannten Wlassow-Armee auf deutscher Seite gegen die Russen kämpfte, war er noch ab Oktober 1943 ins KZ Flossenbürg in Bayern versetzt worden. Anscheinend gelang es ihm während oder nach den Kämpfen zu fliehen und in einem Lager für Displaced Persons Unterschlupf zu finden und sogar einen Job als Lastwagenfahrer bei der US Truck Company 1049 zu ergattern. Wenig später heiratete er seine Frau Wera, die wie er aus der Ukraine stammte. 1950 bekamen sie eine Tochter und versuchten in die USA auszuwandern, mussten aber wegen des Verdachts, er könnte Tuberkulose haben, zurückkehren. Im Januar 1952 gelang die Ausreise in die USA. Dort änderte er seinen Vornamen von Iwan auf John und erhielt 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1975 tauchte er auf einer von der Sowjetunion übersandten Liste als einer von 70 vermuteten NS-Kollaborateuren auf, was zunächst noch keine Folgen hatte. 1976 sagte ein verurteilter Sobibor-Wächter aus, dass er mit Demjanjuk in Sobibor gedient habe. Schließlich meldeten sich in Israel Holocaust-Überlebende, die meinten, in dem Ex-Ukrainer jenen „Iwan den Schrecklichen“ erkannt zu haben. Die USA entzogen ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft, lieferten ihn nach Israel aus, nur um ihn acht Jahre später wieder aufnehmen zu müssen und ihm die Staatsbürgerschaft zurückzugeben.
Die Waage begann sich endgültig zu seinen Ungunsten zu senken, als ihm 2004 aufgrund bestimmter Verdachtsmomente erneut die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt und eine Auslieferung in die Ukraine in Betracht gezogen wurde. Statt dessen landete John Demjanjuk schließlich in Deutschland, wo ihm die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord an rund 29.000 Menschen vorwarf und ihn unter Anklage stellte.
2019 veröffentlichte Netflix unter dem Titel „The Devil Next Door“, eine Dokumentarserie über John Demjanjuk.
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Netflix: „The Devil Next Door“