
Steven Spielberg (2023). Martin Kraft, MKr25402 Steven Spielberg (Berlinale 2023), CC BY-SA 4.0.
Steven Spielbergs Auseinandersetzung mit dem Holocaust und jüdischer Identität prägt sein Schaffen seit den 1990er-Jahren. Als Sohn einer orthodox-jüdischen Familie, die den Antisemitismus in den USA der 1950er-Jahre erlebte, verbindet er persönliche Erfahrungen mit historischer Verantwortung. Sein filmisches Werk zum Holocaust – insbesondere „Schindlers Liste“ (1993) – steht im Spannungsfeld zwischen künstlerischer Darstellung, moralischer Aufarbeitung und theologischer Deutung. Dieser Artikel analysiert, wie Spielberg den Holocaust filmisch interpretiert, welche Debatten seine Werke auslösten und wie sie die Erinnerungskultur prägten.
Theologische Deutung: „Schindlers Liste“ als moderne Exodus-Erzählung
Spielbergs „Schindlers Liste“ überträgt die Rettung von 1.100 Juden durch Oskar Schindler in eine geschichtstheologische Erzählung. Wie die biblische Exodus-Tradition verknüpft der Film die Befreiung der „Schindler-Juden“ mit der Gründung Israels. Die Schlussszene zeigt die Überlebenden beim Gang ins „gelobte Land“, begleitet vom Lied „Jerushalajim shel Zahav“ (Jerusalem aus Gold). Diese Parallelisierung zum alttestamentarischen Zug nach Kanaan deutet den Holocaust als Teil einer göttlichen Heilsgeschichte, wie sie die jüdische Holocaust-Theologie seit den 1960er-Jahren diskutiert.
Der Holocaust wird dabei als radikale Infragestellung der jüdischen Existenz interpretiert, die durch die Staatsgründung Israels überwunden wird. Spielberg greift diese Idee auf, indem er Schindler als säkularen Messias inszeniert, dessen Handeln die Kontinuität jüdischen Lebens sichert. Der Ring der Geretteten mit dem Talmud-Zitat „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“ wird zum Symbol einer Erlösungserzählung – eine Deutung, die Kritiker als Trivialisierung des Absoluten ablehnten.
Authentizitätsdebatten: Zwischen Dokumentation und Fiktion
Spielbergs Anspruch, den Holocaust „authentisch“ darzustellen, löste kontroverse Diskussionen aus. Durch Schwarz-Weiß-Bilder, Handkamera und dokumentarische Stilisierung evoziert der Film eine „Aura des Authentischen“. Doch gerade diese Ästhetik wurde zum Problem: Historiker kritisierten, die Rettungsgeschichte Schindlers verdränge die „Abwesenheit jeder Hoffnung“ im Holocaust.
Besonders umstritten ist die Darstellung des Vernichtungslagers Auschwitz: In einer Schlüsselszene strömt Wasser aus Duschen, die die Opfer für Gasdüsen halten. Während manche dies als „sadistischen Trick“ verurteilten, verteidigten andere diese Szene als notwendigen „Mut zur Kunst“. Spielberg selbst betonte, er habe bewusst auf Special Effects verzichtet, um „die Würde der Opfer nicht zu verletzen“.
Trotz aller Kritik zeigt der Film historische Präzision: Die Deportationsszenen im Krakauer Ghetto basieren auf Augenzeugenberichten, und die Figur des Amon Göth spiegelt akribisch die Sadismen realer NS-Täter. Doch führt die Fokussierung auf Überlebende zu einer erinnerungspolitischen Wende – weg von den Ermordeten hin zu einer optimistischen Trauer.
Filmische Mittel: Symbolik und Grenzen des Darstellbaren
Spielberg nutzt symbolische Motive, um das Unsagbare anzudeuten. Das Mädchen im roten Mantel – die einzige Farbe im Schwarz-Weiß-Film – verkörpert die Unschuld der Opfer. Ihre Leiche auf einem Karren verbrennender Körper markiert Schindlers Wendepunkt vom Profiteur zum Retter. Gleichzeitig problematisiert der Film seine eigenen Darstellungsgrenzen: Die Massenerschießungen im Ghetto werden durch perspektivische Distanz (Schindlers Blick vom Hügel) und akustische Stille gebrochen, um Voyeurismus zu vermeiden.
Eine Schlüsseltechnik ist die Verknüpfung von Fiktion und Realität: Im Epilog legen reale Überlebende Steine auf Schindlers Grab, während ihre Namen eingeblendet werden. Dieses Verfahren verdoppelt die historische Wahrheit durch ihre Darsteller. Doch genau diese Strategie wurde kritisiert: Die „Schindler-Juden“ erscheinen als passive Empfänger von Rettung, während die systematische Vernichtung hinter individuellen Schicksalen zurücktritt.
Rezeption und Kontroversen: Zwischen Bildungsauftrag und Kitschverdacht
„Schindlers Liste“ polarisierte wie kaum ein anderer Holocaust-Film. In Deutschland wurde er zum pädagogischen Instrument erklärt und in Schulen gezeigt, während Intellektuelle ihn als moralische Beschönigung attackierten. Der französische Regisseur Claude Lanzmann warf Spielberg vor, durch narrative Strukturen das Unvorstellbare zu verraten: „Der Holocaust darf kein Ende haben, doch dieser Film gibt ihm eins.“
Dagegen betonten andere Historiker, Spielbergs Film sei adäquat für den Umgang mit dem Teufel. Tatsächlich löste der Film eine Welle der Erinnerungsarbeit aus: 1994 gründete Spielberg die „USC Shoah Foundation“, die über 55.000 Zeugnisse von Überlebenden archivierte. Dieses Projekt, ursprünglich als Ergänzung zu „Schindlers Liste“ konzipiert, wurde zur größten Oral-History-Sammlung zum Holocaust weltweit.
Kritisch bleibt jedoch die Repräsentation jüdischer Agency: Manche Überlebende monierten, der Film reduziere Juden auf Opfer ohne Gesicht. Andere lobten Szenen wie die Vergiftung von Patienten durch eine jüdische Krankenschwester als Ausdruck widerständiger Handlungsmacht – ein seltenes Motiv in Hollywood-Darstellungen des Holocausts.
Jüdische Identität und Antisemitismus in Spielbergs Spätwerk
Spielbergs jüngere Werke vertiefen seine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität und Antisemitismus. „München“ (2005) thematisiert israelische Vergeltung nach dem Olympia-Attentat 1972 und verzichtet dabei auf klare Schuldzuschreibungen oder Heldenfiguren. „Die Fabelmans“ (2022), eine autobiografische Coming-of-Age-Geschichte, zeigt antisemitische Anfeindungen in den USA der 1950er-Jahre und beleuchtet zugleich das Spannungsverhältnis zwischen Assimilation und Bewahrung jüdischer Rituale und Traditionen.
Dabei bleibt Spielbergs Ansatz ambivalent: Einerseits dekonstruiert er antisemitische Klischees – etwa durch satirische Darstellungen privilegierter weißer Amerikaner –, andererseits riskiert er durch emotionale Inszenierungen Vorwürfe der Stereotypisierung oder Simplifizierung komplexer historischer Zusammenhänge. Seine Stärke liegt jedoch in der Vermenschlichung abstrakter Ereignisse: Der Holocaust wird durch individuelle Schicksale greifbar gemacht, ohne seine Monstrosität zu relativieren oder zu banalisieren.
Film als Medium der Erinnerung
Spielbergs Holocaust-Filme zeigen eindrucksvoll die Dilemmata künstlerischer Aufarbeitung: Zwischen historischer Treue und narrativer Dramaturgie sowie zwischen Trauer und Hoffnung bewegen sich seine Werke stets an den Grenzen des Darstellbaren. Seine Filme prägten nicht nur nachhaltig das kollektive Gedächtnis des Holocausts – allein „Schindlers Liste“ erreichte weltweit über 300 Millionen Zuschauer –, sondern trugen auch zur globalen Erinnerungskultur bei. Doch sie bleiben zugleich Gegenstand kritischer Reflexion über Authentizität und moralische Verantwortung in der Kunst. Letztlich bleibt Spielbergs Verdienst unbestritten: Er hat den Holocaust nicht nur als historische Katastrophe ins Bewusstsein gerückt, sondern auch als universelle Mahnung an individuelle Verantwortung dargestellt – ganz im Sinne des Talmud-Zitats aus seinem Film: „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“
Literatur
Thomas Keneally: „Schindlers Liste“. München: List Verlag, 1983
Emil L. Fackenheim: „To Mend the World: Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought“. Indiana University Press, 1994
Claude Lanzmann: „Shoah“. Düsseldorf: Claassen Verlag, 1986
Raul Hilberg: „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1990
Gertrud Koch: „Die Einstellung ist die Einstellung: Visuelle Konstruktionen des Judentums“. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1992
Yosefa Loshitzky: „Spielberg’s Holocaust: Critical Perspectives on Schindler’s List“. Indiana University Press, 1997
Micha Brumlik: „Deutscher Geist und Judenhass: Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum“. München: Luchterhand Verlag, 2000
Leon Wieseltier: „Shoah Business“, in „The New Republic“, 15. März 1993
Urs Jenny: „Spielbergs schwarzer Holocaust“, in „Der Spiegel“, 13. Dezember 1993
Omer Fast: „Spielberg’s List“. Videoinstallation, 2003
USC Shoah Foundation: https://sfi.usc.edu