Ein deutscher Jude, unorthodoxer Kommunist, Widerstandskämpfer und ökologisches Urgestein

Berliner Gedenktafel am Haus, Neumannstraße 50, in Berlin-Pankow. OTFW, Berlin, Berliner Gedenktafel Neumannstr 50 (Pankow) Heinz Brandt, CC BY-SA 3.0.
Der Titel klingt zugegebenermaßen etwas sperrig, bezeichnet aber die wichtigsten Stationen und Eigenschaften eines Mannes, der heute kaum noch in der Öffentlichkeit bekannt ist.
Doch gibt es gute Gründe, Heinz Brandt als Person zu würdigen und seine Überzeugungen darzustellen; insbesondere auch im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen bei sich abzeichnenden gesellschaftlichen Reizthemen, wie soziale Ungleichheit und Klimaschutz.
Betrachtet man den äußeren Werdegang, lässt sich der Lebenslauf von Heinz Brandt in drei große Abschnitte einteilen: Die erste Phase umfasst den Zeitraum zwischen Geburt und dem Ende der Nazi-Barbarei. Anschließend folgen die Jahre 1945 bis 1964 und der dritte Lebensabschnitt umfasst die Zeit danach bis zu seinem Tod. (1)
I) 1909 bis 1945
1) Geboren wurde Heinz Brandt 1909 in der damals preußischen Provinzhauptstadt Posen und stammte aus einem jüdischen Elternhaus – in dieser Zeit durchaus keine Seltenheit. Posen kam erst in Folge des Wiener Kongresses endgültig unter preußische Verwaltung und konnte sich bis zum Ersten Weltkrieg eine gewisse kulturelle Eigenständigkeit bewahren.
Brandt fand als Student 1931 zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), also zu einer Zeit, als die politischen Exponenten der Arbeiterbewegung (SPD und KPD) extrem verfeindet waren, wodurch ein gemeinsames Vorgehen gegen den aufkommenden Nationalsozialismus unmöglich wurde.
Im Gegensatz zu anderen jüdischen Intellektuellen, die in der KPD tätig wurden, war es Brandt bereits Anfang der 1930er Jahre ein Anliegen, sich um die Werktätigen vor Ort zu kümmern und Kontakte in die Betriebe zu knüpfen. Dies sollte sich auch noch über 30 Jahre später in einer aktiven Tätigkeit als Gewerkschafter fortsetzen und vertiefen. Innerhalb der KPD zählte Heinz Brandt bis Ende der Weimarer Republik zum moderaten Flügel, der sich kritisch gegenüber dem Allmachtsanspruch von KPdSU und der von Moskau gesteuerten „Kommunistischen Internationalen“ verhielt. Diese parteiinterne Oppositionshaltung sollte Brandt auch nach 1945 beibehalten.
2) Der 30. Januar 1933 stellte für Brandt in mancherlei Hinsicht einen tiefen Einschnitt dar.
Wie bei vielen anderen deutschen Juden kamen erste ernsthafte Bedenken um die eigene Sicherheit auf. Bereits kurz nach der Regierungsübernahme Hitlers wurden generell die politischen Gegner der Nazis, allen voran die Kommunisten, verfolgt und viele bereits im Frühjahr 1933 verhaftet oder sogar getötet. Spätestens mit Inkrafttreten des sog. „Ermächtigungsgesetzes“ Ende März 1933 gab es für willkürliche Maßnahmen seitens der Polizei und anderer Behörden, aber vor allem auch durch die Justiz keinerlei rechtsstaatliche Grenzen und Kontrollen. Folge dieser massiven Entrechtung der Verfolgten des Nazi-Regimes war entweder Flucht ins Ausland (viele Sozialisten gingen nach 1933 in die damalige Tschechoslowakei oder nach Skandinavien, nur wenige z. B. nach England oder Frankreich) oder der Versuch, in Deutschland zu bleiben und in den sog. Untergrund abzutauchen.
Auch Heinz Brandt versuchte, in Deutschland konspirativ tätig zu bleiben. Aber auch er wurde, wie die allermeisten, die diesen Weg einschlugen, entdeckt und bereits 1934 zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt: Zwischen dem damaligen „Zuchthaus“ und den heutigen „Justizvollzugsanstalten“ gibt es sehr große Unterschiede; während des NS-Regimes wurden „Zuchthäusler“ besonders stigmatisiert. (2)
Doch auch nach Verbüßung dieser rein politisch motivierten „Strafe“ war Heinz Brandt kein freier Mann, sondern kam direkt als „Politischer“ ins Konzentrationslager: 1940 ins KZ Sachsenhausen bei Oranienburg, dann 1942 nach Auschwitz und Anfang 1945 schließlich nach Buchenwald. Dort erlebte er dann im April 1945 die Befreiung durch die US-Armee.
3) In Auschwitz hatte Brandt Gelegenheit, an der Dokumentation über die Massenvernichtung von Juden mitzuwirken; diese Unterlagen konnten später aus dem Lager herausgeschmuggelt werden und gelangten so über Umwege nach 1945 in die Hände der Strafverfolgungsbehörden. Ohne derartige Beweisstücke wären die vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ab 1960 angestrengten Ermittlungsverfahren gegen Angehörige und Führer der SS-Wachmannschaft des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz noch deutlich schwieriger gewesen.
Zumindest mittelbar trug Heinz Brandt durch seine für ihn höchst gefährlichen Beobachtungen und Aufzeichnungen der Gräueltaten in Auschwitz dazu bei, dass Ende 1963 der Auschwitzprozess vor dem Landgericht Frankfurt/M. eröffnet werden konnte.
Dass es diesen Prozess später einmal geben würde bzw. die NS-Verbrecher überhaupt in nennenswertem Umfang strafrechtlich verfolgt und auch angeklagt werden würden, konnten Brandt und andere Mitstreiter damals im Lager natürlich nicht wissen (allenfalls hoffen), was ihn aber trotzdem nicht davon abhielt, gegen die Nazis zu opponieren. Jedem Insassen, aber auch allen „Bediensteten“ in den Konzentrationslagern, war absolut klar, dass dort Massenmorde vollzogen wurden, die ausschließlich politisch motiviert gewesen sind. (3) Dieses unbedingte Festhalten an moralischen Standpunkten und der eigenen Überzeugung sollte Brandt auch nach 1945 noch charakterisieren.
Nachdem das Kriegsgeschehen Ende 1944, Anfang 1945 Wehrmacht und Waffen-SS immer stärker zum Rückzug zwang, musste auch das KZ Auschwitz geräumt werden, so dass Heinz Brandt zu den anderen „Politischen“ ins Lager Buchenwald gesteckt wurde.
Als die 3. US-Armee bis Mitte April 1945 den gesamten Lagerkomplex in Buchenwald befreit hatte, wurde der berühmte „Schwur von Buchenwald“ verfasst. (4)
Dieser stammt vom 19. April 1945 und wurde von allen Antifaschisten, die das KZ Buchenwald überlebt hatten, mitgetragen. Eine der wichtigsten Passagen lautet: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“ Diese Losung sollte Heinz Brandt nach 1945 verinnerlichen und umsetzen.
II) 1945 bis 1964
1) An diesem ambitionierten Ziel, den „Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit“ zu gestalten, wollte Heinz Brandt nach der Befreiung in Berlin bzw. im sowjet-russisch besetzten Sektor mitwirken. Als Vorkriegskommunist schienen für ihn günstige Voraussetzungen gegeben.
Auch wenn er nicht zur „Gruppe Ulbricht“ gehörte, Brandt war ja ab 1934 entweder im Zuchthaus oder im Konzentrationslager, existierten zahlreiche persönliche Verbindungen.
Brandt wurde infolge der Zwangsvereinigung von KPD und SPD Mitglied der neuen Staatspartei der DDR und stieg innerhalb der SED, in der Bezirksleitung Berlins, auf. Beruflich nahm er seine journalistische Tätigkeit wieder auf und war als Parteisekretär für Propaganda (Schulung) und später für Agitation zuständig.
Aufgrund seiner Stellung hatte Heinz Brandt auch tiefe Einblicke ins Innere des Machtgefüges der DDR, insbesondere auch in die Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmer, die trotz des Versprechens einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel immer rigidere Arbeitsnormen erfüllen mussten – und das in der permanenten Mangelwirtschaft des SED-Regimes.
Als im Frühsommer 1953 erneut das Plansoll insbesondere für die Bauarbeiter heraufgesetzt wurde, kam es zu nachvollziehbaren Beschwerden der betroffenen Werktätigen, die bekanntlich in dem Aufstand vom 17. Juni 1953 mündeten und eskalierten. (5)
Die äußerst harte Reaktion der DDR-Staatsführung, verbunden mit dem Einsatz der Roten Armee, auf die Proteste der eigenen Bürger, löste bei Brandt einen Umdenkungsprozess aus. Er wurde, wie zu Beginn seiner Mitgliedschaft in der KPD, nun auch in der SED zu einem internen Kritiker. Brandt wurde daraufhin erst von bestimmten Posten entbunden und ab Sommer 1954 sogar mit einem sog. Funktionsverbot belegt. Ab diesem Zeitpunkt wurde er intern „kaltgestellt“, was zwangsläufig dazu führte, dass Brandt immer größere Zweifel befielen, ob er wirklich noch der richtigen Sache diente. Nach dem „Volksaufstand“ in der DDR 1953 stand der nächste, diesmal in Ungarn, 1956 kurz bevor.
In der Folgezeit nahm Brandt über alte Bekannte im Westen Verbindung mit dem sog. Ostbüro der SPD auf. Bis zu seiner Flucht 1958 berichtete er über oppositionelle Strömungen in der DDR.
Solange er noch SED-Funktionär war, konnte er innerhalb des Apparates agieren. Insbesondere gelang es Brandt, nach dem XX. Parteitag der KPdSU nach Moskau zu reisen, um dort das Schicksal seiner Geschwister zu erkunden. Er erfuhr, dass sein Bruder den Stalinschen Säuberungen zum Opfer gefallen und seine Schwester nach Sibirien verbannt worden war. Im September 1958 floh Brandt in die Bundesrepublik, da er seine Verhaftung zu befürchten hatte. Auch in Westdeutschland arbeitete Brandt zunächst als Journalist für die Industriegewerkschaft Metall.
Jedoch wäre es falsch anzunehmen, mit der Flucht aus der DDR nach Westdeutschland hätten sich für Heinz Brandt alle Probleme erledigt. Nicht nur, dass er nach wie vor ein überzeugter „Linker“ geblieben ist, was im politisch verkrusteten Nachkriegsdeutschland in der Ära der Adenauerregierungen sicher kein Vorteil war. Brandt war ja auch noch den Vorurteilen ausgesetzt, die damals – weitaus deutlicher als heute – offen gegenüber Juden geäußert wurden.
Noch kurz vor Gründung der Bundesrepublik hatte die US-Militärregierung einen Antisemitismusreport für ihre Besatzungszone erstellen lassen. Die hierbei ermittelten Zahlen sind doch erschreckend: Bei 18 Prozent der im Rahmen dieser Untersuchung erfassten Deutschen wurde ermittelt, dass es sich um radikale, bei weiteren 21 Prozent um nichtradikale Antisemiten gehandelt hat; 22 Prozent wurden als sonstige Rassisten eingestuft. (6)
Lediglich 20 Prozent der von der US-Militärregierung erfassten deutschen Bevölkerung wurden als vorurteilsfrei bewertet, was mehrere Rückschlüsse zulässt: Die von den alliierten Siegermächten aufgestellten Grundsätze der Entnazifizierung (Reeducation), wie sie in dem sog. „Potsdamer Abkommen“ vom 2. August 1945 programmatisch niedergelegt und von den drei Regierungschefs (Truman, Attlee und Stalin) unterzeichnet wurden, waren (zumindest in den westlichen Besatzungszonen) auch Jahre später noch lange nicht umgesetzt. (7)
In den erfassten Bevölkerungsgruppen war auf jeden Fall ein hoher latenter Antisemitismus vorhanden, die jüdischen Re-Migranten konnten sich nicht wirklich sicher und willkommen fühlen und die offiziell in den sog. Spruchkammerverfahren durchgeführten „Entnazifizierungen“ waren im Ergebnis nur Schall und Rauch, insbesondere dank der weit verbreiteten Praxis sog. Persilscheine.
Auch zehn oder sogar zwanzig Jahre nach dem Untergang des Nazi-Regimes waren in der alten Bundesrepublik antisemitische Einstellungen stark verbreitet. Dies erklärt nicht zuletzt auch die Wahlerfolge der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) Ende der 1960er Jahre. Die NPD, als Nachfolgerin der Deutschen Reichspartei und anderer Rechtsgruppen, entwickelte sich zum bedeutendsten Sammelbecken rechtsextremer und neofaschistischer Kräfte in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Partei wird zwar heute rechtskräftig vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft, darf aber dennoch politisch tätig bleiben.
Zwar wurden die eben wiedergegebenen Zahlen nur für einen Teil Westdeutschlands erhoben, doch wer nun glaubt, in der damalig sowjetisch besetzten Zone bzw. in der späteren DDR hätten deutlich bessere Werte in der dortigen Bevölkerung zum latenten Antisemitismus vorgelegen, dürfte sich gewaltig täuschen. Hierzu wurden erst in den letzten zwanzig Jahren wissenschaftlich relevante Daten erhoben. Aber die alten stereotypen Zuschreibungen für jüdische Mitbürger galten auch in der DDR. In diesem gesellschaftlichen Klima wechselte nun Heinz Brandt 1958 von Ost- nach West-Deutschland.
2) Wie viele andere Dissidenten, die aus der DDR flohen, oft sogar fliehen mussten, galt Brandt dort nun auch noch als Staatsfeind und war ins Visier der Staatssicherheit (Stasi) geraten.
Die Auslandsabteilung der Stasi beobachtete Brandt im Westen genau und kannte daher seine Gewohnheiten. Als er sich anlässlich eines beruflichen Termins in West-Berlin aufhielt, wurde er dort Mitte Juni 1961 in eine Falle gelockt, gekidnappt und nach Ost-Berlin verschleppt.
Davon abgesehen, dass die Entführung fremder Staatsbürger (aus Sicht der DDR war die Bundesrepublik Ausland, Heinz Brandt war westdeutscher Staatsangehöriger und West-Berlin gehörte nicht zum Staatsgebiet der DDR) einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt, offenbarte sich in dieser eindeutig kriminellen Aktion wiederum nur eins: der Charakter des damaligen SED-Regimes als Verkörperung eines Unrechtsstaates. (8)
Heinz Brandt selbst hat als das maßgebliche Motiv für seine Entführung vermutet, dass er als Kronzeuge für die Notwendigkeit des Mauerbaus missbraucht werden sollte. Dieser fand wenige Wochen später Mitte August 1961 statt. Ob dies zutrifft, müsste anhand offizieller Unterlagen näher überprüft werden. Davon abgesehen, war die Entführung von Heinz Brandt allerdings kein Einzelfall: Hier handelt es sich nämlich um eines der dunkelsten Kapitel in der Tätigkeit des gesamten „Ministeriums für Staatssicherheit“, dem planvollen und oft praktizierten Menschenraub im sog. Kalten Krieg zwischen 1950 bis Spätsommer 1961: Bis zum Mauerbau im August 1961 hat die Stasi viele hundert Menschen von West-Berlin und der Bundesrepublik nach Ost-Berlin entführt. Die Methoden bei diesem organisierten „Menschenraub“ waren vielfältig: Verschleppung auf offener Straße, Betäubung der Opfer durch Chemikalien, arglistige Täuschungsmanöver durch Freunde und Verwandte. (9)
Nach rund einjähriger Isolationshaft und Verhören in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen wurde Heinz Brandt 1962 wegen „schwerer Spionage in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall“ zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Déjà-vu! Wo war der Unterschied zu 1934, als er ebenfalls ausschließlich unter ideologischen Gesichtspunkten verfolgt, verhaftet und willkürlich verurteilt worden war?
Es gibt tatsächlich einen eklatanten Unterschied: Nachdem Brandt etwa zwei Jahre Haft in der Sonderhaftanstalt Bautzen II verbüßt hatte, gab es eine weltweite Kampagne der IG Metall, von Linkssozialisten, Amnesty International und anderen Aktivisten. Diese massiven weltweiten Proteste gegen das schreiende Unrecht führten 1964 zu seiner Freilassung!
III) Die letzten beiden Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1986
1) Obwohl Heinz Brandt nach seiner Entlassung aus Bautzen und der erneuten Übersiedlung in den Westen allen Grund gehabt hätte, zu resignieren und seine alten Ideale an den Nagel zu hängen, hat sein Engagement nicht nachgelassen. Gerade mit seiner Lebensgeschichte bestand für Heinz Brandt geradezu eine Verpflichtung, gegen Unterdrückung und Unrecht einzutreten. Die 1960er Jahre (und auch noch danach) haben hierfür genügend Ansatzpunkte geliefert: Bereits mit Gründung der Bundeswehr begannen die teils hitzigen Diskussionen um die sog. Wiederbewaffnung; ein besonderer Aspekt war naturgemäß die Diskussion über die Stationierung von Atomwaffen in Westdeutschland, wie insbesondere vom damaligen Verteidigungsminister Strauß favorisiert.
Jedoch rückte auch die friedliche Nutzung der Atomenergie immer stärker in den Fokus kritischer Betrachtung. Vorläufer für die vielen Protestbewegungen von Atomkraftgegnern/-kritikern war die Kampagne „Kampf dem Atomtod“: die wahrscheinlich erste außerparlamentarische Widerstandsbewegung in Westdeutschland. (10)
Brandt war ebenfalls Gegner einer lediglich dem Profitstreben dienenden Atompolitik. Er gründete gemeinsam mit anderen DGB-Mitgliedern die gewerkschaftliche Anti-Atomkraft-Initiative „Aktionskreis Leben“. Dies brachte ihm aber innerhalb der IG Metall einigen Ärger ein, da die offizielle Gewerkschaftsführung stark den industriepolitischen Kurs, der von politischer Seite in der alten Bundesrepublik vorgegeben wurde, unterstützte. Erneut gehörte Heinz Brandt also zu einer internen Opposition, die sich kritisch mit dem eigenen System auseinandersetzte.
2) Das Engagement von Heinz Brandt in der Anti-Atomkraft-Bewegung bewirkte aber auch den Übergang zu der letzten Station in seinem politischen Leben.
Zusammen mit seinem Freund Rudi Dutschke (dieser hatte sich nach dem Attentat, das 1968 von einem rechtsradikalen Einzeltäter, so die offizielle Version, verübt worden war, aus der aktiven Studentenbewegung zurückgezogen) beteiligte sich Brandt an dem langen Gründungsprozess der „Grünen“. Er hoffte, in einer breiten Sammlungspartei eine ökologische Katastrophe zu verhindern.
a) Ein ganz spezieller Aspekt in der Debatte, die ab Mitte der 1970er Jahre beim Thema Atomkraft zunächst nur eine relativ kleine Zahl von Kritikern auf den Plan rief, war das Thema der Endlagerung bzw. Wiederaufbereitung radioaktiver „Abfälle“, also besonders von verbrauchten Brennstäben.
Nachdem in der alten Bundesrepublik die Industriepolitik auf scheinbar grenzenloses Wachstum ausgerichtet worden war, wurde das Problem mit dem Atommüll immer akuter. Nahe Gorleben im niedersächsischen Wendland (damals Zonenrandgebiet) sollte Ende der 1970er Jahre eine sog. Wiederaufbereitungsanlage bzw. ein Endlager für radioaktive Abfälle errichtet werden.
Nachdem schon mehr als ein Jahrzehnt in Westdeutschland Atomkraftwerke betrieben worden waren, merkte man in den Chefetagen der Stromkonzerne und dann auch in der Politik, dass sich ein veritables Entsorgungsproblem ergeben hatte. Dies sollte schnellstmöglich gelöst werden, indem ein abseits gelegenes Gebiet (ein unterirdischer Salzstock) als günstige Alternative gefunden wurde. Politik und Industrie hatten jedoch die Rechnung ohne die betroffene Bevölkerung gemacht: Seit 1977 wurde das Wendland zum Brennpunkt des Anti-Atom-Protestes. Es kam zu medienwirksamen Demonstrationen, z.B. im März 1979 mit etwa 100.000 Teilnehmern bei Lüchow-Dannenberg.
Die Atomkraftgegner und Umweltschützer steigerten aber ihren Widerstand ab Frühjahr 1980 noch einmal zu einer bis dahin unbekannten Form: Anfang Mai 1980 wurde bei Gorleben das bekannteste Hüttendorf Deutschlands errichtet; Heinz Brandt war auch hier besonders aktiv. Mit über 70 Jahren beteiligte er sich nicht nur am Aufbau des Hüttendorfs (heute wäre es ein „Camp“), sondern auch an der Errichtung der „Freien Republik Wendland“. (11)
Heinz Brandt charakterisierte das Hüttendorf von Gorleben und auch die „Freie Republik Wendland“ als einen Ort der Phantasie, eine Art Himmelsspiegelung und „Fata Morgana einer Wirklichkeit, deren irdischer Ort erst auszumachen ist“. (12)
Diese durchaus bewusst utopische Kennzeichnung sollte auch den friedlichen Charakter der gesamten Protestbewegung unterstreichen: 33 Tage Utopie. Die Vorstellung von Selbstverwaltung und „Subsidiarität“ waren die philosophischen Grundlagen. Diese besondere Protestform konnte aber von der Politik nicht geduldet werden, so dass wenige Wochen später die Gegenreaktion der verantwortlichen Landesregierung von Niedersachsen erfolgte:
„Zur Nagelprobe kam es, als am 4. Juni 1980 die Staatsmacht mit dem bis dahin imposantesten Polizeiaufgebot der Nachkriegsgeschichte erschien. Mit Reiterstaffeln, Hunden, Wasserwerfern, Bulldozern. Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes knatterten über dem Gelände.“ (13)
Die heutige Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth war als Augenzeugin dabei und von den Geschehnissen stark beeindruckt: „Auf der einen Seite rund 2.000 friedliche Menschen, die gewaltlos gegen Atomkraft protestierten. Auf der anderen Seite mindestens 3.500 Polizisten, vermutlich mehr, zum Teil schwer aufgerüstet – gekommen, um Menschen wegzuschleppen und in Handschellen zu legen, die gegen die Atomkraft und für ihre demokratischen Rechte eingestanden waren.“ (14)
Heinz Brandt wurde also mit den anderen Besetzern bei der gewaltsamen Räumung vom Platz getragen. Seinerzeit wurden Demonstranten, die sich widerstandslos, also gewaltfrei von Polizisten wegtragen ließen, meistens noch wegen Nötigung oder gar Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte strafrechtlich verfolgt und oft verurteilt; die Ehrenhaftigkeit der Motive schützte dabei nicht vor Bestrafung. Erst ab Ende der 1980er Jahre hat hier ein Umdenken in der Justiz stattgefunden (natürlich gibt es auch heute noch Bundesländer, wo etwas härter durchgegriffen wird).
Brandt bekam also auch noch in der (alten) Bundesrepublik die Gewalt des Staates am eigenen Körper zu spüren: Im Dritten Reich durch die Nazis, in der DDR durch die Stasi und auch in der alten Bundesrepublik in Gestalt einer vorläufigen Festnahme in Handschellen.
Aber ohne diesen Protest in Gorleben 1979/80 hätte es in den Folgejahren viele andere Demonstrationen gegen atomare Endlager, Wiederaufbereitungsanlagen oder allgemein gegen die unkalkulierbaren Risiken der Kernkraft, aber auch gegen andere industriepolitische Großprojekte zweifelhaften Umfangs nicht gegeben. (15)
b) Trotz seines aktiven Eintretens gegen die Atomkraft und obwohl Heinz Brandt zu den „Urgrünen“ gehörte, scheiterte er dort insgesamt mit seinen Vorstellungen, so dass er bei den Grünen wieder ausgetreten ist. Hierfür gab es natürlich verschiedene Gründe. Nicht nur weil besagter Dutschke bereits Ende 1979 an den Folgen des auf ihn verübten Attentats von 1968 verstorben war, sondern auch die teilweise grotesken Flügelkämpfe innerhalb der „Grünen“. Diese waren eine geradezu zwangsläufige Folge aus den teils diametral gegenläufigen Strömungen, die Ende der 1970er Jahre zur Gründung dieser ursprünglich als Protestpartei gestarteten Bewegung geführt hatten.
Trotzdem gehört auch die Episode bei den Grünen zu einem wichtigen Teil der Lebensgeschichte von Heinz Brandt und symbolisiert sein unbedingtes Festhalten an moralischen Standpunkten und der eigenen Überzeugung.
Letzteres nötigte Ende 1985 sogar dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl in einem persönlichen Brief an Brandt ungewöhnlichen Respekt ab, als er dem so grundverschiedenen Mann bescheinigte: „Ihre Erfahrungen sind auch für den heute handelnden Politiker von größter Bedeutung.“ (16) So bekam Heinz Brandt noch kurz vor seinem Tod (08. Januar 1986) eine Wertschätzung, mit der er sicher nicht gerechnet hat.
IV) Fazit
Von den Nazis verfolgt und persönlich entrechtet, weil er Kommunist und Jude war, vom stalinistischen Ulbricht-Regime der DDR ebenfalls willkürlich verhaftet (sogar entführt), obwohl er Kommunist war, der aber das Unrecht, das seinen Landsleuten tagtäglich angetan wurde, anprangerte und dafür politisch verfolgt wurde, hat Heinz Brandt nicht nur viele Nachteile erlitten, sondern oft sein Leben riskiert. Außerdem wurden etliche Verwandte von Brandt in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet, aber auch ein Bruder wurde später Opfer stalinistischen Terrors: Beispiel für das Leid, das durch die totalitären Regime im 20. Jahrhundert in Deutschland angerichtet wurde.
Im Mittelpunkt des Denkens und Handelns von Heinz Brandt stand der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Brandt, der selbst viele Jahre unschuldig in Gefängnissen und Lagern eingesperrt war und am eigenen Leib menschenunwürdige Verhältnisse ertragen musste, machte es sich sein Leben lang zur Aufgabe, seine Stimme gegen solche Missstände zu erheben und wirksam zu protestieren. Ob unter Einsatz seines eigenen Lebens oder im Verbund mit ganz unterschiedlichen Mitstreitern.
Immer ging es um existentielle Fragen, die gravierende Auswirkungen bedeuteten: Widerstand gegen totalitäre Regime oder der Schutz und die Bewahrung der Umwelt. Themen, die bereits im letzten Jahrhundert richtig und wichtig waren, aber bis heute nichts an Brisanz und Aktualität verloren haben. Oft genug war Heinz Brandt gescheitert. Entweder an den teils völlig unterschiedlichen politischen Verhältnissen oder an der Ignoranz seiner Umgebung. Trotzdem gibt es nicht viele Menschen, die sowohl den Respekt von Repräsentanten der rebellischen Studentenbewegung als auch von einem konservativen Bundeskanzler genossen. Ein sicherlich bewegtes und schwieriges Leben!
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Einen guten Überblick findet sich z.B. bei Wikipedia zu Heinz Brandt (Widerstandskämpfer).
2) Gemäß der im Dritten Reich vorherrschenden Strafrechtstheorie war der Gesetzesbrecher wegen seiner Tat automatisch ein Feind der Volksgemeinschaft, Straftaten wurden regelmäßig als Verstoß gegen die sittliche Ordnung des eigenen Volkes gewertet. Daher konnte ohne weitere Gerichtsverhandlung nach der Haftstrafe (teilweise sogar an deren Stelle) die Einweisung in ein Konzentrationslager erfolgen. Die überwiegende Mehrzahl der „Politischen“ kam aber in sog. Arbeitslager, nicht unbedingt in reine Vernichtungslager. In der perfiden Logik Heinrich Himmlers galt für diese Häftlinge die Devise: „Vernichtung durch Arbeit“. Das Großunternehmen SS war auf viele dieser Arbeitssklaven angewiesen; Rüstungsminister Speer wäre ohne das Heer von Kriegsgefangenen und die Insassen der KZ-Arbeitslager völlig außerstande gewesen, Hitlers Vorgaben zu erfüllen.
3) Daher ist es aus moralischer Sicht auch heute noch vertretbar, strafrechtliche Ermittlungsverfahren bzw. Anklagen gegen Angehörige des Wachpersonals von Konzentrationslagern u.ä. der Nazis durchzuführen. Jedoch ist klar, je älter die heute überhaupt noch lebenden Beschuldigten sind, umso schwieriger ist die Aufklärungsarbeit und Beweisführung für die Staatsanwaltschaften und Gerichte. Daher ist der juristische Wert der vereinzelt noch stattfindenden Strafverfahren gegen ehemalige Soldaten von Wachmannschaften eher gering. Von dem altersbedingt meist eher schlechten Gesundheitszustand abgesehen, stellt sich bei vielen der Angeklagten, sofern ihre objektive Tatbeteiligung außer Zweifel steht, das besondere Problem der Einsichtsfähigkeit in die persönliche Schuld der damals teilweise erst 17jährigen Täter. Die Versäumnisse einer umfassenden strafrechtlichen Aufklärung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik (also nach den Nürnberger Prozessen) liegen bekanntlich in den 1950er und 1960er Jahren; wenn erst heute, 75 Jahre nach Kriegsende, bestimmte Sachverhalte strafrechtlich gewürdigt werden sollen, können die politisch motivierten Verzögerungen und Vereitelungen vor 60 und 70 Jahren nicht mehr wettgemacht werden.
4) Fundstellen z.B.: https://buchenwald.de/fileadmin/buchenwald/download/der_ort/Buchenwaldschwur.pdf , https://de.wikipedia.org/wiki/Widerstand_im_KZ_Buchenwald
Siehe auch die Thüringer Erklärung aus dem April 2020, https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/thueringer-erklaerung-demokratie-und-menschenrechte-verteidigen/
5) Siehe erst jüngst die Debatte im Bundestag, kurze Darstellung in der Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 26-27 v. 22.06.20, S. 6; https://www.das-parlament.de/2020/26_27/kultur_und_bildung/701996-701996
6) Die Zahlen wurden erst jüngst wieder thematisiert, s. Stefanie Schüler-Springorum: Antisemitismus und Antisemitismusforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26-27/2020 v. 22.06.20, S. 29 – 35 (S. 30 dort Fußnote 7 mit weiteren Nachweisen).
7) Zum Text des Potsdamer Abkommens s. Wolfgang Benz, Potsdam 1945, als Taschenbuch 1986 erschienen, S. 207 – 225.
8) Der politische Streit um diese Bezeichnung ist in letzter Zeit mehrfach aufgeflammt.
Waren sich vor etwa 10 Jahren viel mehr Menschen darüber einig, so nimmt die Zahl derjenigen heute immer stärker zu, die teils recht spitzfindig der ehemaligen DDR den Unrechtscharakter nicht zu erkennen mögen. Interessanter Überblick: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47560/unrechtsstaat?pk_campaign=nl2020-06-24&pk_kwd=47560
9) Prominente Fälle waren neben Brandt noch Kurt Müller oder Walter Linse, s. zahlreiche Funde im Netz: https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/menschenraub-im-kalten-krieg-102.html
10) Ab den späten 1950er Jahren haben sich in der alten Bundesrepublik aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern Gegner der Atomkraftnutzung (militärisch wie industriell) zusammengetan, um auf die Gefahren dieser Technik aufmerksam zu machen.
11) Winfried Dolderer, 33 Tage Utopie, in: „Das Parlament“, Nr. 18-19 v. 27. April 2020, S. 9.
https://www.das-parlament.de/2020/18_19/im_blickpunkt/692870-692870
12) Dito.
13) Dito.
14) Dito.
15) Heutzutage profitieren auch die meist jugendlichen Aktivisten (z.B. „fridays for future“) von den unerschrockenen Protesten vor über 40 Jahren; ein intellektuelles Charisma von Brandt z. B. wird aktuell allerdings (noch) vermisst.
16) Thomas Schmid, Entführt von der Stasi – das Beispiel des Heinz B., auf Welt-Online v. 16.06.2011, s.: https://www.welt.de/kultur/history/article13429017/Entfuehrt-von-der-Stasi-das-Beispiel-des-Heinz-B.html – Dort am Ende. Zum oft unterschätzten Intellekt H. Kohls eine ganz aktuelle Bewertung einer eher links-liberalen Journalistin: „Wie jeder weiß, war der CDU-Kanzler Kohl kein Sozialist. Trotzdem war Deutschland damals gerechter.“ Ulrike Herrmann (Gastkommentar, Parlament v. 22.06.20, S. 2).