Zu den wichtigen Stunden der deutschen Demokratie gehörte die Bundestagsdebatte, die zur Wehrmachtsausstellung am 13. März 1997 in Bonn stattfand. Eine Bewegte Diskussion, in der Denklinien von „Niederlage“ und „Befreiung“, die Friedrich von Weizsäcker in seiner Rede am 8. Mai 1985 angestoßen hatte noch kontrovers diskutiert wurden.
Den sicher wichtigsten Beitrag hielt der Abgeordnete Otto Schily, der nicht nur in seiner persönlichen Emotionalität einmalig ist. Ihm gelingt als einzigem sich aus der deutschen Innenperspektive zu befreien, in der die meisten Diskutanten nach wie vor gefangen waren.
Deutscher Bundestag – 13. Wahlperiode – 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. März 1997
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Schily, SPD.
Otto Schily (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Das Thema, das wir heute diskutieren, eignet sich nicht für Polemik. Aus diesem Grunde werde ich mich zu Herrn Gauweiler nicht mehr äußern. Heiner Geißler hat dazu alles Notwendige in seinem Artikel in der „Bild am Sonntag“ gesagt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)
Notwendig ist unsere heutige Aussprache als Teil einer Vergegenwärtigung unserer Geschichte, die noch Jahrzehnte andauern wird. Es geht um den Unwillen und die Unfähigkeit vieler Menschen, sich auf die historische Wahrheit, was die Untaten der Schreckenszeit der Naziherrschaft angeht, einzulassen. Es ist das hochanzuerkennende Verdienst des von Jan Philipp Reemtsma gegründeten Instituts für Sozialforschung und der von ihm erarbeiteten Wehrmachtsausstellung, daß sie sich mit der Rolle der Wehrmacht im Gefüge der Naziherrschaft auseinandersetzen.
Ganz am Anfang des Katalogs zu dieser Ausstellung findet sich eine einleitende Bemerkung, die Volker Beck schon zitiert hat, die die Zielrichtung der Ausstellung deutlich werden läßt. Ich zitiere:
Die Ausstellung will kein verspätetes und pauschales Urteil über eine ganze Generation ehemaliger Soldaten fällen. Sie will eine Debatte eröffnen über das – neben Auschwitz – barbarischste Kapitel der deutschen und österreichischen Geschichte, den Vernichtungskrieg der Wehrmacht 1941 bis 1944.
Den beschämenden Versuchen rechtsradikaler Kreise in der CSU und anderer Gruppierungen, die Ausstellung zu diffamieren, müssen alle mit Entschiedenheit entgegentreten.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)
Es ist beunruhigend, nein, es ist empörend, mit welcher Dreistigkeit die übelsten nazistischen Parolen in Umlauf gesetzt werden in dem Bestreben, die Wahrheit über die Schrecken der Naziherrschaft und die Rolle der Wehrmacht aus dem historischen Bewußtsein zu verdrängen.
Fast schlimmer ist die Tatsache, daß der bayerische Ministerpräsident und der CSU-Parteivorsitzende sich in Schweigen hüllen, anstatt sich an die Seite der Kritiker in ihren eigenen Reihen, an die Seite der beiden CSU-Stadträte in München zu stellen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Kann es die deutsche Öffentlichkeit hinnehmen, daß gegen eine Wehrmachtsausstellung, zu der der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, dankenswerterweise eine Eröffnungsrede am 13. April halten wird, zu der der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Andrzej Szczypiorski, eine Eröffnungsrede gehalten hat, von Angehörigen einer traditionsreichen demokratischen Partei die dumpfesten neonazistischen Ressentiments mobilisiert werden?
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)
Wer diesem Treiben nicht entschlossen entgegentritt, handelt verantwortungslos. Er setzt das Ansehen Deutschlands aufs Spiel und gefährdet den demokratischen Grundkonsens unserer Bundesrepublik. –
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)
Ich rechne es Heiner Geißler und Volker Rühe hoch an, daß sie in dieser Richtung nie Undeutlichkeiten haben aufkommen lassen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)
Die Debatte über die Rolle der Wehrmacht ist schwierig und schmerzhaft, gewiß. Aber sie ist unausweichlich. Die Grammatik der politischen Sprache bevorzugt leider häufig in der historischen Retrospektive die Passivform: es wurde, es passierte, es ereignete sich, es fand statt. Hinter diesen Wortgeweben verschwinden das Subjekt, das Individuum, die Schuld und die Verantwortung.
Die Debatte kann uns aber auch in die Versuchung bringen – wer wollte das nicht eingestehen -, sie im Stil einer selbstgefälligen Moral zu führen. Davor ist niemand gefeit; davor sollten wir uns alle hüten. Wenn wir ehrlich mit uns umgehen, wird jeder einzelne von uns sich fragen müssen, wie er selbst in einer Extremsituation gehandelt hätte. Wer von uns könnte ohne weiteres behaupten, daß er zum Beispiel den Mut eines deutschen Soldaten aufgebracht hätte, der sich der Exekution von wehrlosen Zivilisten verweigerte und sich schweigend in ihre Reihe stellte, um den Tod mit ihnen zu teilen?
(Der Redner hält inne)
Gestatten Sie mir an dieser Stelle einige persönliche Bemerkungen. Mein Onkel Fritz Schily, ein Mann von lauterem Charakter, war Oberst der Luftwaffe.
(Der Redner hält erneut inne)
– Entschuldigung. – Zum Ende des Krieges war er Kommandeur eines Fliegerhorstes in der Nähe von Ulm. Er suchte in Verzweiflung über die Verbrechen des Hitler-Regimes bei einem Tieffliegerbeschuß den Tod.
Mein ältester Bruder Peter Schily verweigerte sich der Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend und versuchte zunächst ins Ausland zu fliehen. Da ihm das nicht gelang, meldete er sich freiwillig an die Front. Er wurde nach kurzer Ausbildung als Pionier im Rußlandfeldzug eingesetzt, erlitt schwere Verwundungen und verlor ein Auge sowie die Bewegungsfähigkeit eines Armes.
Mein Vater, eine herausragende Unternehmerpersönlichkeit, dem ich unendlich viel für mein Leben verdanke, war ein erklärter Gegner des Nazi-Regimes, empfand es aber als Reserveoffizier des Ersten Weltkrieges als tiefe Demütigung, daß er auf Grund seiner Mitgliedschaft in der von den Nazis verbotenen anthroposophischen Gesellschaft nicht zum Wehrdienst eingezogen wurde. Erst später hat er die Verrücktheit – ich verwende seine eigenen Worte – seiner damaligen Einstellung erkannt.
Der Vater meiner Frau, Jindrich Chajmovic, ein ungewöhnlich mutiger und opferbereiter Mensch, hat als jüdischer Partisan in Rußland gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft.
Nun sage ich einen Satz, der in seiner Härte und Klarheit von mir und uns allen angenommen werden muß: Der einzige von allen vier genannten Personen – der einzige! -, der für eine gerechte Sache sein Leben eingesetzt hat, war Jindrich Chajmovic. Denn er kämpfte gegen eine Armee, in deren Rücken sich die Gaskammern befanden, in denen seine Eltern und seine gesamte Familie ermordet wurden. Er kämpfte gegen eine Armee, die einen Ausrottungs- und Vernichtungskrieg führte, die die Massenmorde der berüchtigten Einsatztruppen unterstützte oder diese jedenfalls gewähren ließ. Er kämpfte, damit nicht weiter Tausende von Frauen, Kindern und Greisen auf brutalste Weise umgebracht wurden. Er kämpfte gegen eine deutsche Wehrmacht, die sich zum Vollstrecker des Rassenwahns, der Unmenschlichkeit des Hitler-Regimes erniedrigt und damit ihre Ehre verloren hatte.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Was glauben Sie, wie auf einen, der als Partisan für eine gerechte Sache gekämpft hat, folgender Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 26. Februar 1997 zu der Wehrmachtsausstellung wirken würde? Ich zitiere:
Gewiß wirkt erschreckend, wenn zu sehen ist, wie ein nach der Uniform unverkennbarer Wehrmachtssoldat jemandem den Strick um den Hals legt. Aber es verschwindet unter der scheinbar dokumentarischen Suggestivkraft des Bildes, ob es sich um eine Hinrichtung von Partisanen handelt – bis heute gerechtfertigt vom Kriegsvölkerrecht, das das Recht zum Töten den „Kombattanten“ vorbehält, also den von ihrem Staat in die Pflicht des Tötens genommenen Soldaten. Selbst der NS-Staat hat, als er Ende 1944 das letzte Aufgebot, den „Volkssturm“, aus halben Kindern und gebrechlichen älteren Männern aufstellte, darauf Bedacht genommen, die Reste der Uniformvorräte zusammenzukratzen, damit die Volkssturm-Männer als Kombattanten anerkannt würden.
Verstehen Sie, was in dieser eiskalten, trüben Logik zum Ausdruck kommt? Gerechtfertigt war es, einen Menschen, der für eine gerechte Sache kämpfte, zu erhängen. Es war ganz selbstverständlich, daß die Soldaten vom NS-Staat zum Töten in die Pflicht genommen wurden. Der NS-Staat findet eine Huldigung, weil er in seiner verbrecherischen Energie immer noch so penibel ordnungsliebend blieb, daß er die Kinder und Greise, die er am Schluß des Krieges in das Granatfeuer geschickt hat, mit Uniformen ausstattete.
Meine Damen und Herren, das ist eine erbärmliche Logik, die in der starren Welt formalistischer Begriffe nicht mehr die Wirklichkeit erreichen mag.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wer sich aus dieser Starrheit nicht befreien kann, macht sich blind dafür, was in jenen Schreckensjahren wirklich vor sich gegangen ist.
Zu den Starrsinnigen gehören – ich kann Ihnen das nicht ersparen, Herr Kollege Dr. Dregger – leider immer noch Sie. Ich sage Ihnen, Herr Dr. Dregger: Wir haben hier im Hause festgestellt, daß Sie im Laufe der Jahre zu einigen sehr beachtlichen Einsichten gelangt sind, für die Sie den Beifall des ganzen Hauses erhalten haben. Aber wenn Sie, Herr Dr. Dregger, äußern, die Wehrmachtsausstellung verdiene – ich zitiere Sie wörtlich – „nur Verachtung, besser noch Nichtbeachtung“,
(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)
Schmähen Sie damit nicht auch Ignatz Bubis, Andrzej Szczypiorski, Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, und viele andere bedeutende Persönlichkeiten, die Eröffnungsreden für diese Wehrmachtsausstellung gehalten haben?
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)
Schlimmer aber ist, daß Sie – Sie haben das heute wieder getan – immer noch an Ihrer These vom verlorenen Zweiten Weltkrieg festhalten. Sie sollten sich endlich zu der Einsicht durchringen, daß Deutschland nur dadurch zur Demokratie geworden ist, daß Nazi-Deutschland den Krieg verloren hat. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)
Herr Präsident, meine Damen und Herren, es sind noch viele Aufräumungsarbeiten im Bewußtsein unseres Volkes zu leisten. Wir dürfen unsere Augen nicht von den Bildern des Schreckens abwenden, weil wir nicht nur die Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft zu verantworten haben.
Die Wehrmachtsausstellung ist ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung. Sie verleiht den Opfern eine Stimme und hoffentlich auch unserem Gewissen. Dann können wir auch die Mahnung von Jan Philipp Reemtsma annehmen, die er in folgende Worte gefaßt hat, mit denen ich schließen möchte:
Auch wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts, angesichts seiner Destruktivität, seiner Schrecken innewerdend und mit nichts in der Hand dastehen als einer Buchführung über Verbrechen, Fehler, Versagen und skeptische Vorschläge zur Ergänzung internationaler Abmachungen, ist es doch nicht statthaft, alles untergehen zu lassen in einem summarischen „Jahrhundert der Barbarei“. Ein Verbrechen hat Ort, Zeit, Täter, Opfer, -und man sollte sich nicht einem Sprachgebrauch, der die forensische Präzision der Wörter „Täter“ und „Opfer“ zu rhetorischen Passepartouts verkommen läßt, überlassen. Der Hinweis auf Rechtsnormen ist so wenig schal, wie das Ethos der Sozialwissenschaften: die Welt zur Kenntnis zu nehmen.
(Langanhaltender Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])
Quellen / Literatur
Ausstellung „Vebrechen der Wehrmacht“
Podcast: Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ eröffnet (am 5.3.1995 ). WDR ZeitZeichen. 05.03.2020. 14:39 Min. Verfügbar bis 03.03.2090 WDR 5
Hartmann, Christian; Hürter, Johannes; Jureit, Ulrike (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. München 2005.
Hamburger Institut für Sozialforschung: Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 2002.