Der Ver-Führer der Jugend im NS-Regime
Dem NS-Regime war ab der Machtergreifung sehr daran gelegen, sämtliche Lebensbereiche des deutschen Volkes zu durchdringen und mit ihrer Ideologie zu durchsetzen. Dies schloss auch die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit ein. In den Schulen wurde gezielt mit der Ideologie der Nazis indoktriniert. Mit der Hitlerjugend (HJ) wollte man auch die außerschulischen Aktivitäten junger Menschen kontrollieren. Dafür zuständig war Reichsjugendführer Baldur von Schirach (1907 – 1974), der dafür in Nürnberg bei den Hauptkriegsverbrecherprozessen 1946 angeklagt wurde.
Baldur von Schirach entstammte einem sorbisch-deutschen Adelsgeschlecht und wurde am 9. Mai 1907 als Sohn des Theaterdirektors und Rittmeisters Karl von Schirach (1873 – 1948) und dessen US-amerikanischer Ehefrau Emma Lynah Tillou Bailey Middleton von Schirach (1872–1944) in Berlin geboren. Er war damit bedeutend jünger als die meisten NS-Führer und kämpfte daher auch nicht im Ersten Weltkrieg, bei dessen Ausbruch er sieben und bei dessen Ende er elf Jahre alt war. Er wuchs in einem Milieu auf, in dem sich konservativ-kaisertreue und liberal-progressive Strömungen mischten. Baldurs älterer Bruder Karl von Schirach (1900 – 1919) nahm sich aber etwa 1919 aus Verzweiflung über den Friedensvertrag von Versailles das Leben. 1924 trat Baldur von Schirach dann einer Wehrjugendgruppe bei.
Am 29. August 1925 traf Baldur von Schirach in seinem Elternhaus erstmals auf Adolf Hitler (1889 – 1945) und trat im Anschluss daran der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei. 1927 fing von Schirach dann ein Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in München an, das er jedoch nicht abschließen sollte. Im Folgejahr wurde er als Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB) in die NSDAP-Reichsleitung berufen und am 30. Oktober 1931 dann zum Reichsjugendführer ernannt, womit der Rang des Gruppenführers der SA einherging. Von Schirach war damit dem Obersten SA-Führer (OSAF) unterstellt, ein Amt, das seit 1926 nicht mehr Ernst Röhm (1887 – 1934), sondern Hitler selbst bekleidete. Röhm war seit seiner Rückkehr zur SA Chef des SA-Stabes.
Am 31. März 1932 heiratete Baldur von Schirach in München Henriette Hoffmann (1913 –1992), die Tochter von Hitlers persönlichem Fotografen Heinrich Hoffmann (1885 – 1957). Im Juni desselben Jahres übernahm er dann die Leitung der NS-Jugendorganisation Hitler-Jugend. Die NSDAP war erstmals 1928 mit 12 Sitzen im Reichstag vertreten gewesen und hatte bei der nächsten Wahl 1930 einen Zuwachs von 15 % der Stimmen, womit sie mit 107 Sitzen bereits zweitstärkste Kraft nach der SPD gewesen war. Doch am 31. Juli zog auch Baldur von Schirach ins Parlament mit ein – die NSDAP war mit 37,3 % (19 % Zuwachs) und 230 Stimmen nun stärkste Kraft. Dies blieb sie auch trotz Verlusten bei der erforderlichen Neuwahl im November – der letzten demokratischen freien Wahl im Deutschen Reich.
Nachdem von Schirach am 2. Oktober noch den „Reichsjugendtag“ in Potsdam mit etwa 70.000 Teilnehmern organisiert hatte, erhob er am 29. Januar 1933, also einen Tag vor der sogenannten „Machtergreifung“, die man wohl eher als „Machterpressung“ oder „Machterschleichung“ betiteln sollte, in dem von ihm verkündeten „Manifest der Jugend“ Anspruch auf die gesamte Jugendführung im Reich. Dieser Titel wurde ihm mit der Ernennung zum Reichsjugendführer (durch die Gleichschaltung eben nicht mehr nur für die Partei, sondern aller staatlichen Organisationen und Verbände) am 17. Juni 1933 auch zugebilligt. Zuvor hatte er am 5. April im Rahmen der Besetzung der Geschäftsstelle des „Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände“ schon deren Vorsitz übernommen gehabt, war nun aber ganz offiziell und reichsweit für jegliche außerschulische Jugenderziehung zuständig. Diese sollte laut Hitler selbst folgendes Ziel verfolgen:
„Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. […] Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. […] Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. So kann ich das Neue schaffen. Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend.“
Zusammen mit seinem Schwiegervater Heinrich Hoffmann publizierte von Schirach ab 1933 einige Bildbände wie etwa „Der Triumph des Willens. Kampf und Aufstieg Adolf Hitlers und seiner Regierung“, „Jugend um Hitler“ oder „Hitler, wie ihn keiner kennt“. 1936 zog die Familie von Schirach, zu der mittlerweile auch die Kinder Angelika Benedikta (*1933) und Klaus (*1935) gehörten, auf Schloss Aspenstein in Kochel am See. Am 1. Dezember trat dann das Jugendgesetz (landläufig „HJ-Gesetz“ genannt) in Kraft, mit dem Deutsches Jungvolk (DJ), Jungmädelbund (JM) und Bund Deutscher Mädel (BDM) mit der eigentlichen Hitlerjugend zu einem gleichnamigen Dachverband zusammengeschlossen wurden. Die Reichsjugendbehörde wurde zur Obersten Reichsbehörde aufgewertet und von Schirach damit zum Staatssekretär ernannt. Ab dem 25. März 1939 wurde die Mitgliedschaft in den einzelnen Organisationen der HJ im Rahmen der Jugenddienstpflicht verpflichtend. Damit lag auch die außerschulische Erziehung der Kinder und Jugendlichen hin zu Disziplin und den politischen Idealen des Nationalsozialismus vollständig in den Händen der Partei. Von Schirachs Bestrebung, die Jugenderziehung gänzlich unter seine Kontrolle zu bringen, brachten ihn jedoch vermehrt in Konflikt mit HJ-Führer Artur Axmann (1913 – 1996).
Im Dezember 1939, etwa drei Monate nach Kriegsbeginn, meldete sich von Schirach freiwillig zum Kriegsdienst. Er diente 1940 für kurze Zeit als Leutnant an der Westfront bei der 12. Kompanie des motorisierten Infanterieregiments „Großdeutschland“ und wurde dafür mit dem Eisernen Kreuz, Zweiter Klasse, ausgezeichnet. Die innerparteilichen Konflikte wegen von Schirachs Ambitionen führten letztendlich dazu, dass er als Reichsjugendführer durch Axmann ersetzt wurde. Von Schirach wurde hingegen am 8. August 1940 zum Reichsstatthalter, Gauleiter von Wien und Beauftragten für die Inspektion der HJ ernannt. Da von Schirach weiterhin als Reichsleiter mit der Jugend betraut war, wurde ihm im September 1940 die Leitung über die Kinderlandverschickung übertragen: Wie in vielen anderen Ländern wurden auch im Deutschen Reich Kinder und Jugendliche aus von Luftangriffen bedrohten Großstädten aufs Land evakuiert.
Im Deutschen Reich betraf das ungefähr 5 Millionen Kinder und Jugendliche. Als Gauleiter von Wien war von Schirach von 1941 an maßgeblich für die Deportation jüdischer Menschen aus dem Gau Wien verantwortlich und sagte hierzu in einer Rede vom 14. September 1942: „Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich aus dieser Stadt Aberzehntausende ins östliche Ghetto abgeschoben habe, muß ich antworten: Ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.“ Obwohl von Schirach erklärter Antisemit war, äußerte er durchaus bisweilen Kritik an der Judenverfolgung des Regimes. Auch die Behandlung von Osteuropäern durch die Nazis kritisierte er und klagte am 24. Juni 1943 gegenüber Hitler selbst offen eine bessere Behandlung ein. Als Henriette von Schirach, nun Mutter von vier Kindern (die beiden jüngsten waren: Robert Benedict Wolf von Schirach, 1938 – 1980, und Richard von Schirach, *1942), Hitler offen für die Art und Weise, wie die Judendeportationen durchgeführt wurden, angriff, verlor die Familie endgültig das Wohlwollen des Diktators.
Am 24. Februar 1945 bestellte Hitler von Schirach ein letztes Mal zu sich und gab ihm den Auftrag, als Reichsverteidigungskommissar Wien bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Am 4. April 1945 eroberte die Rote Armee Hütteldorf. Der Gaugefechtsstand Wien am Gallitzinberg in Ottakring wurde daraufhin geräumt. Von Schirach zog sich zunächst in seinen Bunker auf der Hohen Warte zurück, dessen Stromversorgung und Telefonleitungen von der Widerstandsbewegung gekappt wurden, woraufhin der Reichsverteidigungskommissar am 6. April 1945 in die Hofburg floh. Drei Tage später flüchtete er erneut, nun in das Hauptquartier des II. SS-Panzerkorps in Floridsdorf. Joseph Goebbels (1897 – 1945) vermerkte hierzu am 10. April 1945 in seinem Tagebuch: „Es haben in der Stadt Aufruhraktionen in den ehemals roten Vororten stattgefunden, und zwar haben diese Ausmaße angenommen, daß Schirach sich in seiner Hilflosigkeit veranlaßt gesehen hat, sich unter den Schutz der Truppe zu begeben. Das ist so typisch Schirach. Erst läßt er die Dinge laufen, wie sie laufen, und dann flüchtet er sich zu den Soldaten.“ 12 Tage später verkroch Goebbels sich selbst im Führerbunker in Berlin, wo er sich am 1. Mai 1945 das Leben nahm.
Baldur von Schirach tauchte hingegen unter. Während es Gerüchte gab, die Wiener Bevölkerung habe ihn aufgeknüpft, arbeitete von Schirach unter dem Namen Richard Falk als Dolmetscher für die US-Army. Doch am 5. Juni 1945 stellte er sich und wurde offiziell am 20. November 1945 wegen Verschwörung (Anklagepunkt 1) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Anklagepunkt 4) vor dem „Internationalen Militärgerichtshof“ in Nürnberg angeklagt. Bei der Urteilsverkündung am 1. Oktober 1946 wurde er im vierten Anklagepunkt aufgrund seiner nachweislichen Beteiligung an der Deportation von 185.000 jüdischer Menschen schuldig gesprochen und zu zwanzig Jahren Haft im Kriegsverbrechergefängnis Spandau verurteilt. Die paramilitärische Indoktrination der Jugend in Vorbereitung der Angriffskriege konnte ihm nicht nachgewiesen werden. 1950 stellten seine Kinder erfolglos Gnadengesuche, während Henriette von Schirach sich scheiden ließ. Am 30. September 1966 erfolgte die Entlassung von Schirachs, der in der Pension Müllen in Kröv an der Mosel seine letzten Lebensjahre verbrachte. Schon fast erblindet veröffentlichte er 1967 seine Memoiren „Ich glaubte an Hitler“. Am 8. August 1974 verstarb Baldur von Schirach.
Literatur
Oliver Rathkolb: Schirach: Eine Generation zwischen Goethe und Hitler. Molden Verlag, Wien 2020. (Rezension im Standard, 5. Oktober 2020, S. 19, Rezension in der Süddeutschen Zeitung, 2. Oktober 2020, S. 7); s. dazu auch ein Interview mit Oliver Rathkolb über dieses Buch, geführt am 30. Januar 2021 im Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog.
Roman B. Kremer: Autobiographie als Apologie. Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Dönitz und Erich Raeder. V&R unipress, Göttingen 2017.
Jochen von Lang: Der Hitlerjunge. Baldur von Schirach, der Mann, der Deutschlands Jugend erzog. Droemer Knaur, München 1991.
Henriette von Schirach: Der Preis der Herrlichkeit. Erfahrene Zeitgeschichte. Ullstein, Frankfurt am Main u. a. 1995.
Richard von Schirach: Der Schatten meines Vaters. Hanser, München 2005.
Michael Wortmann: Baldur von Schirach, Hitlers Jugendführer. Böhlau, Köln 1982.
Beitrag in der ARD Audiothek.