Die Rückkehr der Systemfrage

Logo der DNVP. Dahn, DNVP logo (basic), CC BY-SA 4.0.
Als die AfD im Januar 2025 ihre radikalisierte Jugendorganisation Junge Alternativeauflöste, um sich vor einem drohenden Verbot zu schützen, schien sich ein Muster zu wiederholen, das bereits in den 1920er-Jahren die Weimarer Republik destabilisierte: der Konflikt zwischen demokratischer Fassade und antipluralistischem Kern. Die Debatte um die Einordnung der AfD als „neue DNVP“ oder gar als „gemäßigte NSDAP“ ist nicht nur akademisch. Sie berührt die Frage, wie verwundbar moderne Demokratien gegenüber Parteien sind, die ihre eigenen Spielregeln untergraben.
Die Weimarer Republik: Ein Labor der Extreme
Das Parteiensystem der ersten deutschen Demokratie war ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Zerklüftung. Auf der einen Seite standen die republiktreuen Kräfte – die SPD, das katholische Zentrum und die liberale DDP –, die sich gegen die Feinde von links und rechts stemmten. Auf der anderen Seite formierte sich ein Bündnis aus Kommunisten, Nationalkonservativen und später den Nationalsozialisten, das die junge Demokratie aktiv bekämpfte. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) spielte dabei eine Schlüsselrolle. Unter Führung des Medienmoguls Alfred Hugenberg radikalisierte sie sich ab 1928 zur Speerspitze der Republikfeinde. Ihr Programm vereinte monarchistische Nostalgie, antisemitische Ressentiments und die Verteufelung des Versailler Vertrags – eine Mischung, die sie zur parlamentarischen Heimat für enttäuschte Eliten und völkische Aktivisten machte.
Die AfD: Erbe der DNVP mit modernem Anstrich
Seit ihrer Gründung 2013 durchlief die AfD eine ähnliche Radikalisierung. Aus einer eurokritischen Protestbewegung wurde eine Partei, die heute zentrale Positionen der Weimarer Rechten aktualisiert:
Kulturpessimismus als Programm
Wie die DNVP stilisiert die AfD sich zur Hüterin einer „bedrohten deutschen Identität“. Statt des Antisemitismus der 1920er dominiert heute die Islamfeindlichkeit. Der Slogan „Remigration“ ersetzt die Forderung nach „Judenquote“ – doch das Muster der Ausgrenzung bleibt gleich. Laut Verfassungsschutzbericht 2024 vertritt die AfD einen „völkischen Nationalismus“, der Menschen ohne deutsche Abstammung zu Bürgern zweiter Klasse degradiert.
Eliten gegen „System“
Die DNVP hetzte gegen die „Novemberverbrecher“ der Weimarer Koalition; die AfD spricht von „Altparteien“ und „Lügenpresse“. Beide nutzen Krisen, um sich als Stimme des „wahren Volkes“ zu inszenieren. Während die DNVP die Hyperinflation 1923 instrumentalisierte, profitiert die AfD von der Flüchtlingsdebatte 2015 und der Energiekrise 2022.
Doppelstrategie: Parlament und Straße
Die DNVP kooperierte mit dem paramilitärischen Stahlhelm; die AfD pflegt enge Verbindungen zu Pegida und der „Querdenken“-Bewegung. Diese Symbiose aus parlamentarischer Arbeit und außerinstitutionellem Protest soll die Demokratie von zwei Seiten aushöhlen – ein Spielbuch, das bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik erprobt wurde.
Die AfD im europäischen Kontext: Sonderweg oder Spiegelbild eines Rechtsrucks?
Der Aufstieg der AfD ist kein isoliertes deutsches Phänomen, sondern Teil eines gesamteuropäischen Trends, der seit den 2010er-Jahren an Dynamik gewinnt. Gleichzeitig weist die Partei spezifische Radikalisierungsmerkmale auf, die sie von vergleichbaren rechtspopulistischen Kräften unterscheiden.
Europäische Parallelen: Anti-Immigrationsagenda und EU-Skepsis
Wie die Rassemblement National (Frankreich), die FPÖ (Österreich) oder die Partij voor de Vrijheid (Niederlande) baut die AfD ihre Mobilisierung auf der Ablehnung von Migration – insbesondere muslimischer Zuwanderung – auf. Der Slogan „Remigration“ ähnelt der Forderung nach „Großer Austausch“ („Grand Remplacement“) von Marine Le Pen oder Geert Wilders‘ „Niederlande zuerst“-Rhetorik[^1]. Auch in der EU-Skepsis steht die AfD nicht allein: Giorgia Melonis Fratelli d’Italia und Viktor Orbáns Fidesz teilen ihre Kritik an zentraler EU-Regulierung[^2].Doch während rechtspopulistische Parteien anderswo längst Regierungsverantwortung tragen – Meloni in Italien, die Schwedendemokraten als parlamentarische Stütze –, bleibt die AfD in Deutschland politisch isoliert. Das cordon sanitaire, das etablierte Parteien bislang um sie ziehen, zeigt Risse: Als CDU-Chef Friedrich Merz 2025 AfD-Stimmen für ein Gesetz annahm, löste dies Massenproteste aus[^3].
Deutsche Besonderheiten: Radikalisierung und historische Hypothek
Die AfD unterscheidet sich von europäischen Schwesterparteien durch ihre Nähe zum gewaltbereiten Rechtsextremismus. Während die Schwedendemokraten sich von ihrer neonazistischen Vergangenheit distanzierten, pflegt die AfD enge Verbindungen zu Gruppen wie der verbotenen Identitären Bewegung. Der „Flügel“ um Björn Höcke vertritt ein „ethnopluralistisches“ Weltbild, das an die NPD der 2000er-Jahre erinnert[^4]. Der Verfassungsschutz stufte die AfD-Jugendorganisation 2023 als „gesichert rechtsextrem“ ein – ein Alleinstellungsmerkmal in Westeuropa[^5].Hinzu kommt die historische Sensibilität: Begriffe wie „Umvolkung“ oder „Lügenpresse“ wecken in Deutschland Assoziationen zur NS-Propaganda. Selbst Marine Le Pen distanzierte sich 2024 von der AfD, nachdem diese „Remigration“ offiziell ins Programm aufnahm[^6].
Kontrafaktische Analyse: Hätte eine DNVP-Herrschaft Deutschland gerettet?
Kritiker des historischen Vergleichs argumentieren, die DNVP sei im Gegensatz zur NSDAP „regierbar“ gewesen. Doch dieses Narrativ verharmlost die antiemanzipatorische Agenda der Deutschnationalen:
Autoritäre Strukturen statt Demokratie
Eine DNVP-Regierung hätte die Republik in einen Obrigkeitsstaat nach preußischem Vorbild verwandelt. Geplant waren die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, die Entmachtung des Reichstags und die Wiedereinführung der Monarchie als symbolische Klammer. Historiker wie Heinrich August Winkler verweisen darauf, dass die DNVP damit einen „konstitutionellen Schein“ bewahrt hätte, während sie faktisch eine illiberale Technokratie etabliert hätte – ähnlich dem Orbán-Regime in Ungarn.
Wirtschaftspolitik als Klassenkampf von oben
Die DNVP vertrat die Interessen ostelbischer Großagrarier und Schwerindustrieller. Ihr Programm sah vor, Sozialleistungen zu kürzen, den Achtstundentag abzuschaffen und Gewerkschaften zu entmachten. In einer Zeit massiver Arbeitslosigkeit hätte dies soziale Unruhen provoziert, die nur durch Repression unterdrückt worden wären.
Außenpolitik: Revanchismus ohne Weltherrschaft
Anders als Hitler hätte die DNVP keinen Weltkrieg riskiert. Stattdessen wäre sie diplomatisch auf die Revision der Ostgrenzen gedrängt – unterstützt von Großbritannien, das ein starkes Deutschland als Bollwerk gegen die Sowjetunion sah. Doch auch ohne Holocaust hätte das Regime Minderheiten wie Juden und Sinti und Roma durch gesetzliche Diskriminierung ausgegrenzt.
Die NSDAP-Vergleiche: Wo die AfD anschlussfähig wird
Trotz aller Unterschiede zeigen sich in Teilen der AfD Radikalisierungstendenzen, die an die Frühphase der NSDAP erinnern:
Die Jugend als Avantgarde
Die aufgelöste Junge Alternative (JA) fungierte als Kaderschmiede für völkische Aktivisten. Ihre Forderungen nach „Ethnopluralismus“ und „Bevölkerungsaustausch“ stehen in direkter Tradition der NS-Ideologie. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnte 2023, die JA habe „Brücken in den gewaltbereiten Rechtsextremismus“ gebaut – ein Muster, das der SA der 1920er-Jahre gleicht.
Propaganda 2.0
Die NSDAP nutzte Flugblätter und Massenveranstaltungen; die AfD dominiert mit inszenierten Social-Media-Kampagnen. Begriffe wie „Umvolkung“ oder „Lügenpresse“ wirken wie moderne Adaptionen von Goebbels‘ Propagandatechniken. Das Ziel bleibt dasselbe: die Delegitimierung demokratischer Institutionen.
Der Mythos der Legalität
Anders als die NSDAP, die offen zum Putsch aufrief, gibt sich die AfD betont staatskonform. Doch Historiker wie Jan-Werner Müller betonen, dass gerade diese „Legalitätstaktik“ gefährlich sei: „Hitler kam durch Wahlen an die Macht, nicht durch einen Putsch. Die AfD lernt aus dieser Lektion.“
Fazit: Weimar ist überall
Der Vergleich zwischen AfD und Weimarer Parteien ist keine Gleichsetzung, sondern eine Warnung. Die DNVP zeigt, wie eine Partei die Demokratie aushöhlen kann, ohne offen gegen die Verfassung zu verstoßen. Die NSDAP erinnert daran, wie schnell aus radikaler Rhetorik tödliche Realität wird.Die Auflösung der Jungen Alternative ändert nichts am Wesenskern der AfD. Wie die DNVP versucht sie, radikale Kräfte zu bändigen – nicht aus Überzeugung, sondern aus taktischem Kalkül. Die Geschichte lehrt: Solche Strategien scheitern oft. Die DNVP glaubte, Hitler instrumentalisieren zu können – und wurde von ihm verschlungen.Deutschlands Umgang mit der AfD steht vor einem Dilemma: Einerseits spiegelt sie europäische Trends wider, andererseits droht ihre Radikalität, einen deutschen Sonderweg zu zementieren. Die Lehre aus Weimar lautet, dass Demokratien erst sterben, wenn ihre Verteidiger die Bedrohung verharmlosen – oder überreagieren.
Quellen- und Literaturverzeichnis
- Bundesministerium des Innern (2025): Verfassungsschutzbericht 2024. Berlin.
- Evans, Richard J. (2003): The Coming of the Third Reich. London: Penguin.
- Geiges, Lars (2021): Social Media-Strategien der AfD. Wiesbaden: Springer VS.
- Haldenwang, Thomas (2023): „Lagebild Rechtsextremismus“. Bundesamt für Verfassungsschutz.
- Jones, Larry Eugene (1988): German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System. Chapel Hill: University of North Carolina Press.
- Kershaw, Ian (1998): Hitler 1889–1936: Hubris. New York: Norton.
- Lewandowsky, Marcel (2014): Die AfD und der Rechtspopulismus. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
- Mommsen, Hans (1989): Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang. Berlin: Propyläen.
- Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus?. Berlin: Suhrkamp.
- Pfahl-Traughber, Armin (2019): Die AfD und der Rechtspopremismus. Baden-Baden: Nomos.
- Salzborn, Samuel (2018): Rechtspopulismus. Ein Element der Neonazismus. Frankfurt: Campus.
- Winkler, Heinrich August (1993): Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München: C.H. Beck.
- Zick, Andreas (2016): Die AfD und die gespaltene Mitte. Bielefeld: transcript.
- Verfassungsschutzbericht (2023): Junge Alternative als sicher rechtsextrem eingestuft. Köln.
- Frankfurter Allgemeine Zeitung (02.04.2025): „AfD löst Junge Alternative auf“.
- Der Spiegel (15.03.2025): „Radikalisierung trotz Image-Kurs?“.
- Süddeutsche Zeitung (10.01.2024): Interview mit Heinrich August Winkler.
- Bröckling, Ulrich (2020): Pegida und die AfD: Resonanzen des Rechtspopulismus. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.
- Euronews (24.12.2024): „Europawahl 2024: Rechtsruck bestätigt“.
- Politico.eu (11.06.2024): „Le Pen snubs AfD über Nazi comments“.