Polen protestieren gegen westliche Gedankenlosigkeit
Am 27. Januar 2005 jährte sich zum 60. Mal der Tag, an welchem das KZ Auschwitz befreit wurde. Daran wurde in aller Welt mit Veranstaltungen, Publikationen etc. erinnert, und was da mitunter auch laut wurde, hat in Polen wütende Proteste hervorgerufen: Unter dem Titel „Gegen polnische Lager“ (Bild) hat die Tageszeitung „Rzeczpospolita“ eine „Aktion“ gestartet, an der sich mittlerweile rund 5.000 Polen beteiligen. Polnische Organisationen schreiben Protestbriefe, polnische Botschafter werden an ihren ausländischen Dienstorten aktiv, um Politiker und Medien ihrer Gastländer sehr deutlich zur Ordnung zu rufen. Mehr oder minder alle Polen sind überzeugt, dass (so „Rzeczpospolita“ am 2. Februar 2005) „westliche Medien ständig Bezeichnungen benutzen, die für Polen beleidigend (obrażliwy) sind“, wenn nicht gleich „antipolski“.
Worum geht es? Da veröffentlichte José Manuel Barroso, Vorsitzender der EU-Kommission, in „European Voice“ (Nr. 3/2005) einen Artikel „A united Europe can heal the holocaust wounds“. Den hat man ihm in Polen so übel genommen, dass polnische Parlamentarier Barroso aufforderten, sich bei Polen zu entschuldigen. Der Kommissionschef hatte nämlich nur von „Auschwitz-Birkenau in Poland“ geschrieben, aber (so polnische Kritik) „nicht nur kein einziges Mal Wörter wie »deutsch« oder »Deutsche« benutzt, sondern auch Wörter wie »Nazi-« oder »Hitler-« vermieden“.
Wäre es nur um Barroso und seinen „persönlichen Kommentar“ (so seine Pressesprecherin Francoise Le Bail) gegangen, dann hätte man das in Polen gewiss übersehen. Aber die Polen blättern in diesen Wochen westliche Blätter, Bücher und Artikel durch und finden überall Anlass zur Erbitterung: Da werden durchweg geographische Angaben und Ausführungen über KZs so gedankenlos ineinander vermengt, dass der Eindruck entstehen kann, es sei die Rede von „polnischen Konzentrationslagern“. Dazu schrieb Grzegorz Gauden, Chefredakteur der „Rzeczpospolita“, schon am 26. Januar 2005: „Mit Schmerz und Bedauern verfolge ich, wie in vielen angesehenen Zeitungen der ganzen Welt falsche und für Polen beleidigende Formulierungen über »polnische Konzentrationslager« auftauchen. Im Verlauf von Jahren und Jahrzehnten hat diese unzulässige gedankliche Verkürzung historisches Wissen verdrängt und scheint an Popularität zu gewinnen“.
Polens Presse, allen voran die große und angesehene „Rzeczpospolita“, bringt derzeit laufend Zitate aus ausländischen Blättern, die diese Kurzsichtigkeit illustrieren und die polnische Verärgerung darüber verständlich machen. Wenn da beispielsweise im Internet Bilder gefunden werden, die eine „Vereidigung der Hitlerjugend in Breslau, Polen“ von 1943 zeigen, dann ist wohl jeder Pole gleich mehrfach erbost – über die falsche geographische Zuschreibung des Orts und über den „ungeheuren Mangel an Kenntnissen zum Zweiten Weltkrieg, wie sie im Westen herrscht“.
Was jeder unbedingt wissen und gerade als Journalist stets beherzigen sollte, fasste Grzegorz Gauden so zusammen: „Ich erinnere daran, dass Polen im September 1939 seine staatliche Souveränität verlor und das von Hitler-Deutschland am längsten okkupierte Territorium Europas war. Es gab in Polen keine Kollaborations-Regierung. Polen waren auf keine Weise an den Verwaltungsentscheidungen deutscher Behörden beteiligt. Konzentrationslager auf polnischem Territorium waren von deutschen Beamten errichtet und von deutschen Institutionen überwacht worden. Die Selektionen ins Gas führten deutsche Offiziere aus. Todesurteile fällten deutsche Funktionäre. Das waren deutsche Todeslager (to były niemieckie obozy śmierci), in denen Angehörige verschiedener Nationen umkamen, vor allem der jüdischen, aber auch der polnischen“.
Der polnische Name von Auschwitz lautet seit jeher Oświęcim. Seit den Nürnberger Prozessen gegen NS-Kriegsverbrecher sind die Einzelheiten vom KZ Auschwitz bekannt: Das Lager wurde von Deutschen geplant und von ihnen bis zum Schluss verwaltet. Polen gab es in dieser Zeit nicht, weil der größere Teil des einstigen Staates in ein deutsches „Generalgouvernement“, offiziell als „Nebenland des Reiches“ definiert, umgewandelt worden war. Auschwitz, etwa 70 Kilometer westlich von Krakau gelegen, gehörte nicht zum „Generalgouvernement“, sondern befand sich in den Gebieten, die dem „Reich“ direkt angeschlossen worden waren (vgl. die nebenstehende Karte). Und die dort geschehenen Verbrechen hat der langjährige Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, in Nürnberg sehr detailliert geschildert.
War Auschwitz ein polnisches Konzentrationslager?
Sind diese Fakten irgendwo in der Welt nicht bekannt? In Polen herrscht derzeit besondere Verbitterung über Australien, dessen Presse offenkundig noch mehr als andere in der fragwürdigen Art berichtet hat. Im Lande lebende Polen haben bereits im vergangenen November beim australischen Senat protestiert, und Senator Gary Humphries empfing eine polnische Delegation zu einem langen Gespräch. Dabei forderte er die Medien zu „größerer Vorsicht bei Berichten über diese Ereignisse auf“, aber seine Mahnung „blieb ohne Wirkung“ (kritisierte „Rzeczpospolita“). Andererseits sagte Patrick Lawless, Botschafter Australiens in Warschau, dass gewisse missverständliche Äußerungen aus seinem Land wohl nur eine „Abkürzung“ für etwas seien, das korrekter „Konzentrationslager, die die Nazi-Regierung Deutschlands in Polen erbaute“, genannt würde.
Von „polnischen Todeslagern“ zu sprechen und damit Auschwitz zu meinen, ist für Polen sachlich eine „Lüge“ (kłamstwo) und psychisch eine „Erniedrigung“. Interessant ist dabei (wiewohl aus Kenntnis der Polen nicht unerwartet), dass die polnische Verärgerung sich nicht etwa mit der Forderung Luft macht, man möge mehr die deutsche Verantwortung erwähnen. In gewisser Weise hat das Bundespräsident Köhler am 2. Februar nachgeholt, als er vor dem israelischen Parlament sagte: „Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität“. Über diesen Satz wird man noch lange nachzudenken haben, denn Identität bezeichnet hier nicht physische Gleichheit, sondern psychische Selbigkeit, die entindividualisiert auf Dauer „dasselbe Volk“ charakterisiert. Oder meinte der Bundespräsident, dass die Deutschen, solange es sie gibt, mit Auschwitz identifiziert werden?
Wie dem auch immer sei: Recht haben die Polen, wenn sie sich über Gedankenlosigkeit in westlichen Medienberichten erregen. Dass es sich nur um solche handelt, hat selbst Grzegorz Gauden eingeräumt: „Ich möchte glauben, dass die Ursache dieser Erscheinung in der Eile und beruflichen Schlamperei (neichlujstwo zawodowe) liegt, nicht aber in bösem Willen“. Den Polen geht es glaubhaft um mediale und historische Korrektheit. Mehr brauchten sie auch nicht zu äußern. Was noch zu sagen wäre, verdeutlicht das (abgebildete) Plakat von „Rzeczpospolita“: Blau-weiß gestreifter Stoff, roter „Winkel“ mit einem „P“ darinnen – genau so sah die Häftlingskleidung von Polen im KZ Auschwitz aus.
Autor: Wolf Oschlies