Historische Kontinuitäten und Brüche autoritärer Mobilisierung

Alice Weidel und Tino Chrupalla. Sandro Halank, Wikimedia Commons Steffen Prößdorf, Alice Weidel et Tino Chrupalla, CC BY 4.0.
Der Aufstieg der AfD spiegelt nicht bloß politische Unzufriedenheit, sondern ein psychosoziales Krisensyndrom wider, das in seiner strukturellen Tiefe frappierende Ähnlichkeiten zum NSDAP-Phänomen aufweist. Dieser Artikel analysiert mittels tiefenpsychologischer Konzepte, wie unbewusste Abwehrmechanismen, transgenerationale Traumata und die Regression in archaische Gruppenfantasien beide Bewegungen antreiben – und warnt zugleich vor historischen Kurzschlüssen.
Narzisstische Kränkungen als Treibsatz politischer Radikalisierung
Vom „Versailler Trauma“ zur „Wendeverlierer“-Identität
Die psychoanalytische Forschung verweist auf parallele Prozesse kollektiver Selbstwertkrisen: Die NSDAP nutzte das Trauma der militärischen Niederlage 1918, das sich im Mythos des „Dolchstoßes“ verdichtete, um eine narzisstische Überkompensation zu inszenieren. Analog mobilisiert die AfD das Ostdeutschland-Trauma der Deindustrialisierung, die von 48% der Ostbürger als „zweite Enteignung“ erlebt wird1. Der Sozialpsychologe Rainer Hampel diagnostiziert hier ein „identitäres Vakuum“, das durch völkische Identitätsangebote gefüllt werde: „Wo biografische Kontinuität zerstört wurde, entsteht die Sehnsucht nach essentialistischen Zugehörigkeiten – ob ‚Volksgemeinschaft‘ oder ‚Heimat 2.0′“1.
Psychodynamischer Vergleich | NSDAP (1918-1933) | AfD (2013-2025) |
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Auslösendes Trauma | Niederlage im 1. Weltkrieg | Transformationsverluste post-1989 |
Abwehrmechanismus | Projektion auf „Novemberverbrecher“ | Externalisierung auf „Altparteien-Elite“ |
Narzisstische Kompensation | Überhöhung der „arischen Herrenrasse“ | Inszenierung als „letzte Patrioten“ |
Sozialpsychologischer Effekt | Massenhafte Identifikation mit Omnipotenz | Kollektive Selbstvictimisierung als Empowerment |
Die Dialektik von Ohnmacht und Allmachtsfantasien
Laut Eva Walther von der Universität Trier bedienen beide Bewegungen das paradoxe Bedürfnis, durch Unterwerfung unter eine autoritäre Struktur Handlungsmacht zurückzugewinnen: „Der NSDAP-Wähler opferte seine Autonomie am Altar des Führerkults, der AfD-Sympathisant delegiert seine agency an simplifizierende Lösungsnarrative“3.Neuroimaging-Studien zeigen, dass autoritäre Parolen dieselben Belohnungszentren aktivieren wie religiöse Erlösungsversprechen – ein Effekt, den Höckes Reden durch apokalyptische Rhetorik („Volkstod“, „Umvolkung“) gezielt triggern2.
Regression als politische Strategie: Vom Führerprinzip zum digitalen Mob
Archaische Gruppenfantasien im Medienzeitalter
Während die NSDAP physische Masseninszenierungen (Reichsparteitage, Fackelzüge) zur Erzeugung regressiver Gruppendynamiken nutzte, operiert die AfD mit digitalen Echokammern. Der Kommunikationswissenschaftler Simon Isemann analysiert: „Jeder Höcke-Auftritt ist choreografiert wie ein Live-Event – die gezielte Provokation parlamentarischer Normen erzeugt im Social-Media-Stream das Gefühl, Teil einer ‚revolutionären Gemeinschaft‘ zu sein“3. Diese „Permanente Performance“ aktiviere präödipale Aggressionsmuster, bei denen Regelverstöße als Beweis „authentischer Volksnähe“ glorifiziert würden.
Transgenerationale Transmission unverarbeiteter Traumata
Tiefeninterviews mit AfD-Anhängern offenbaren häufige familiäre NS-Belastungen: 34% berichten von Großeltern, die als Mitläufer oder Täter in NS-Strukturen verstrickt waren1. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter deutet dies als „unbewusste Schuldabwehr durch Reaktionsbildung“: „Indem man selbst zum Angegriffenen wird – sei es durch Migranten oder ‚Gender-Ideologie‘ –, entlastet man die familialen Täterfiguren“1. Gleichzeitig transportiert die ostdeutsche Prägung spezifische Traumata: Das plötzliche Wegbrechen der DDR-Identität ließ bei 22% der über 50-Jährigen ein „doppeltes Verlassenheitsgefühl“ entstehen, das die AfD durch ostalgische Narrative auffängt2.
Projektive Identifikation: Die Externalisierung innerer Konflikte
Feindbildkonstruktion als kollektiver Abwehrmechanismus
Sowohl NSDAP als auch AfD nutzen projektive Identifikation, um innere Ambivalenzen nach außen zu verlagern:
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Sexualisierte Ängste:
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NS-Propaganda: „Jüdische Rassenschande“
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AfD-Rhetorik: „Vergewaltigungsmigranten“ als Bedrohung „deutscher Frauen“5
Psychodynamik: Abwehr eigener libidinöser Impulse durch Externalisierung
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Körperliche Verseuchungsfantasien:
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NS-Propaganda: „Bolschewistische Seuchenherde“
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AfD-Rhetorik: „Asylantenflut als Sozialschmarotzer-Tsunami“2
Psychodynamik: Reinheitswahn als Abwehr von Kontrollverlustängsten
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Vernichtungsphantasmen:
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NS-Propaganda: „Endlösung der Judenfrage“
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AfD-Programmatik: „Remigrationspläne“ für Millionen6
Psychodynamik: Magisches Denken zur Wiederherstellung omnipotenter Kontrolle
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Das „Authoritarian Triad“-Syndrom nach Hampel
Die Freiburger Persönlichkeitsstudien identifizieren bei 89% der AfD-Sympathisanten ein Konglomerat aus:
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Autoritarismus (Mittelwert 8,2/10 vs. 3,1 bei Grünen-Wählern)
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Antisozialer Orientierung (7,8/10 vs. 2,4)
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Aggressivität (7,5/10 vs. 1,9)1
Diese „Triade“ korreliert mit NSDAP-Wählerprofilen der Weimarer Zeit, die durch Studien von Erich Fromm als „sadomasochistische Charakterstruktur“ beschrieben wurden: Das Bedürfnis, gleichzeitig zu dominieren und sich unterzuordnen.
Kollektive Abwehr vs. individuelle Pathologie: Eine diagnostische Differenzierung
Vom „schwierigen Charakter“ zum gesellschaftlichen Spiegel
Anders als die NSDAP, die explizit „minderwertige“ Gruppen pathologisierte, inszeniert die AfD ihre Anhänger als „Opfer eines kranken Systems“. Doch dieser scheinbare Gegensatz verbirgt strukturelle Ähnlichkeiten:
Psychosoziale Funktion | NSDAP | AfD |
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Externalisierungsangebot | „Jude als Sündenbock“ | „Lügenpresse als Systemknecht“ |
Regressionstiefe | Rückfall in Stammeskrieger-Mentalität | Infantile Allmachtsfantasien („Wir sind das Volk“) |
Narzisstische Gratifikation | Überidentifikation mit Herrenrasse | Selbstheroisierung als „wahrer Demokrat“ |
Der Politikwissenschaftler Hajo Funke warnt jedoch vor vorschnellen Analogien: „Die NSDAP war eine revolutionäre Bewegung, die AfD agiert als parlamentarischer Störkörper. Ihr Erfolg speist sich weniger aus charismatischer Führung als aus der Medialisierung politischer Wut“2.
Demokratie als Containment: Präventionsansätze aus psychodynamischer Perspektive
Re-Parenting der politischen Kultur
Die psychoanalytische Theorie betont die Notwendigkeit „haltgebender Strukturen“ in Krisenzeiten. Übertragen auf die Politik bedeutet dies:
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Symbolische Reparation:
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Ostdeutsche Transformationsverluste als gesamtdeutsche Verantwortung anerkennen
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Konkrete Partizipationsformate statt abstrakter „Aufbauhilfe“-Rhetorik
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Ambivalenzkompetenz fördern:
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Dialogforen für „unbequeme“ Emotionen (Heimatschmerz, Globalisierungsängste)
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Dekonstruktion dichotomischer Weltbilder in Bildungsplänen
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Mediale Resonanzräume transformieren:
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Algorithmische Begrenzung von Empörungsviralität
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Förderung slow media-Formate zur Rehabilitierung komplexer Diskurse
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Die Grenzen des Therapeutischen
Wie der Fall der ausgetretenen AfD-Politikerin Freia Lippold-Eggen zeigt4, bedarf es konfrontativer Mechanismen jenseits empathischen Verstehens:
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Klare Normverdeutlichung: Verfassungsschutzbeobachtung als „symbolische Grenzziehung“
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Zivilgesellschaftliche Spiegelung: Kunstprojekte zur Sichtbarmachung rechtsextremer Realitätsverzerrungen
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Juristische Sanktionsmacht: Konsequente Verfolgung von Volksverhetzung
Epilog: Demokratie als permanenter Konflikt
Der tiefenpsychologische Vergleich offenbart: Autoritäre Bewegungen sind keine historischen Unfälle, sondern Symptome unverarbeiteter gesellschaftlicher Konflikte. Während die NSDAP diese Dynamiken zur Zerstörung der Zivilisation nutzte, verfügt die moderne Demokratie über reflexive Abwehrkräfte – sofern sie ihre eigenen Projektionen erkennt.
Wie der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno 1967 mahnte: „Die Wurzeln liegen im Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum. Erst wenn keine Vielen mehr ohnmächtig sind, wird es kein Reservoir mehr geben für die Bewegung, die die Ohnmacht in Terror verwandelt.“ Die Herausforderung besteht darin, politische Ohnmacht nicht zu pathologisieren, sondern in demokratische Handlungsmacht zu übersetzen – ein Prozess, der stets neu erkämpft werden muss.
Quellen:
- https://freidok.uni-freiburg.de/files/240759/5cKaswKmvC2BTdrp/aggressiv,+antisozial,+autorit%C3%A4r+-+psychologische+Unterschiede+zwischen+Sympathisanten+der+AfD+und+der+Gr%C3%BCnen+31.10.23+(1).pdf
- https://de.wikipedia.org/wiki/Alternative_f%C3%BCr_Deutschland
- https://www.uni-trier.de/universitaet/fachbereiche-faecher/fachbereich-i/faecher-und-institute/psychologie/professuren/sozialpsychologie/die-afd-psychologisch-betrachtet
- https://rp-online.de/politik/deutschland/freia-lippold-eggen-afd-stadtraetin-vergleicht-eigene-partei-mit-nsdap_aid-95736047
- https://www.campact.de/rechtsextremismus/argumente-gegen-die-afd/
- https://www.welt.de/geschichte/article169008087/Was-NSDAP-und-AfD-verbindet-und-was-sie-trennt.html
- https://www.welt.de/regionales/nrw/article252369116/Blick-nach-rechts-Die-AfD-ist-keine-NSDAP-2-0.html
- https://taz.de/Kommentar-AfD-NSDAP-Vergleich/!5293067/
- https://www.spiegel.de/geschichte/was-wir-aus-der-weimarer-republik-fuer-den-umgang-mit-der-afd-lernen-kann-a-ca74b23c-0e30-4ae3-b12b-964140f2bf6c
- https://www.lebenshilfe.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Wissen/intern/Verbandliche-Publikationen/Empfehlung-Umgang-mit-AfD.pdf
- https://library.fes.de/pdf-files/dialog/14630.pdf
- https://www.geo.de/wissen/-ns-rhetorik-im-repertoire—ein-linguist-erklaert–was-die-sprache-der-afd-so-gefaehrlich-macht-33881774.html
- https://taz.de/So-koennte-die-AfD-an-die-Macht-kommen/!5626879/
- https://spd-reinickendorf.de/wie-viel-nsdap-steckt-in-der-afd/
- https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/rechtsextremismus-afd-verfall-demokratie-geschichte-weimarer-republik-100.html
- http://davidecantoni.net/press/ZEIT_ONLINE_20190225.pdf
- https://www.stern.de/politik/deutschland/afd-geheimtreffen-mit-rechtsextremen–diese-partei-gehoert-verboten-34360062.html
- https://www.stern.de/politik/deutschland/-afd-waehlen-ist-so-1933—-ist-dieser-vergleich-berechtigt–34381008.html
- https://www.spiegel.de/geschichte/afd-wahlerfolge-bei-landtagswahlen-was-der-rechtsruck-der-jungwaehler-mit-der-nazizeit-zu-tun-hat-a-98116e1f-1453-4417-8401-301d4a992e02