
Alice Weidel und Tino Chrupalla. Sandro Halank, Wikimedia Commons Steffen Prößdorf, Alice Weidel et Tino Chrupalla, CC BY 4.0.
Hinter den Wahlerfolgen der AfD in Ostdeutschland verbirgt sich ein komplexes Geflecht unbewusster Motive, die weit über politische Programmatik hinausreichen. Eine psychoanalytische Betrachtung offenbart, wie historische Traumata, narzisstische Kränkungen und archaische Abwehrmechanismen die politische Landschaft formen. Diese Analyse vertieft die psychodynamischen Prozesse und entwickelt konkrete Handlungsansätze für Individuen, Familien und die Gesellschaft und ist eine wichtige Ergänzung zur politischen Analyse.
Das transgenerationale Wendetrauma: Drei Generationen im Schatten der Einheit
Die Eltern-Generation (Jahrgänge 1940-1965): Vom Staatsbürger zum Entwerteten
Die erste Nachwendegeneration erlebte den Systembruch 1989/90 nicht als Befreiung, sondern als existenzielle Entwertung. Psychologen diagnostizieren hier ein kollektives narzisstisches Trauma:
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Biografische Brüche: Über Nacht wurden Lebensleistungen (Betriebszugehörigkeit, FDJ-Engagement) zu Makeln. Ein ehemaliger LPG-Vorsitzender aus Mecklenburg beschreibt dies als „psychologische Enteignung“.
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Autoritätsverlust: Die DDR-Staatstreue verwandelte sich in ein Stigma, während westdeutsche Eliten Führungspositionen besetzten. Dies nährte das Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein – ein Selbstbild, das durch AfD-Rhetorik („Vasallen der Berliner Republik“) aktualisiert wird.
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Scham-Kompensation: Viele reagieren mit Abwertung des Westens („Bonzen“, „korrupte Politiker“), um die eigene Kränkung zu überspielen.
Die Transformations-Kinder (Jahrgänge 1970-1985): Heimatlose Grenzgänger
Diese Kohorte wuchs zwischen zwei Welten auf:
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Bindungsunsicherheit: Eltern, die mit eigener Trauer beschäftigt waren, boten wenig emotionale Stabilität. Folge: Überangepasstheit im Beruf kombiniert mit latenter Wut im Privaten.
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Kulturelle Schizophrenie: Der Westen wurde sowohl bewundert (Konsumversprechen) als auch gehasst („Besserwessis“). Diese Ambivalenz spiegelt sich im AfD-Programm: Ablehnung „globalistischer Eliten“ bei gleichzeitiger Forderung nach wirtschaftlicher Gleichstellung.
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Identitätsleere: Fehlende positive Ost-Identität führt zur Flucht in kompensatorische Gemeinschaften (Reichsbürger, Querdenker).
Die Enkel-Generation (ab 1995): Erben des unbewussten Grolls
Junge AfD-Wähler reproduzieren oft transgenerational übertragene Narrative:
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Emotionale Ansteckung: Großelternberichte über „Abwicklung“ und „Demütigung“ wirken wie posttraumatische Sugges-tionen.
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Medialisierte Ohnmacht: Soziale Medien verstärken das Gefühl, im „westdominierten Diskurs“ keine Stimme zu haben.
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Rebellion als Identitätsstiftung: Die Provokation „linksgrüner Tabus“ wird zum Initiationsritual – ähnlich der Punkbewegung in der DDR.
Narzisstische Wut: Vom Opfer zum Täter
Die Dynamik der Erniedrigung
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz beschreibt die AfD-Anhängerschaft als „Wutkörper“, der aus drei Schichten besteht:
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Primäre Wut: Direkte Benachteiligungserfahrungen (Arbeitslosigkeit, Abwanderung)
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Sekundäre Wut: Gefühl, mit Problemen alleingelassen zu werden
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Tertiäre Wut: Scham über die eigene Hilflosigkeit, die in Hass auf Schwächere (Flüchtlinge, LGBTQ+) umschlägt
Das Paradox der Stärke
Die AfD bedient das Bedürfnis, aus der Opferrolle auszubrechen:
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Symbolische Vergeltung: Wahl der „unerwünschten“ Partei als Racheakt an etablierten Strukturen
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Größenphantasien: Vorstellungen von „Deutschland als Weltmacht“ kompensieren reale Marginalisierung
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Sado-Masochistische Dynamik: Gleichzeitige Identifikation mit Unterdrückten („Volk“) und Unterdrückern (autoritäre Führer)
Regression: Die Sehnsucht nach dem politischen Mutterleib
Sicherheit durch Simplizität
Die AfD bietet kognitive Entlastung für Überforderte:
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Binäre Weltsicht: „Wir gegen die“ ersetzt komplexe Abwägungen
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Ritualisierte Feindbildpflege: Regelmäßige Empörung („Asylmissbrauch“, „Gender-Ideologie“) schafft emotionalen Zusammenhalt
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Magisches Denken: Versprechen schneller Lösungen („Grenzen dicht – Probleme gelöst“)
Fallbeispiel: Die politische Kuschelgruppe
In AfD-Stammtischen wird oft eine pseudo-familiäre Atmosphäre inszeniert:
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Führerkult: Lokale Politiker als „Vaterfiguren“, die „Klartext reden“
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Gemeinschaftsrituale: Gemeinsames Singen nationalistischer Lieder, kollektives Lästern über „Systemmedien“
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Regression zum Gruppen-Ich: Individualität schwindet zugunsten tribalistischer Loyalität
Projektion: Der Kampf gegen das eigene Spiegelbild
Die Schatten der Transformation
Abgelehnte Selbstanteile werden von AfD-Wählern auf Fremdgruppen projiziert:
Eigene Angst | Externes Feindbild | AfD-Narrativ |
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Scheitern am Kapitalismus | „Sozialschmarotzer“ | „Ausländer nehmen uns Arbeitsplätze weg“ |
Sexuelle Unsicherheit | „Vergewaltigungsmigranten“ | „Islamisierung bedroht unsere Frauen“ |
Eigene Aggression | „Linke Gewalttäter“ | „Wir müssen uns wehren“ |
Der Teufelskreis der Abspaltung
Je stärker die Projektion, desto unerträglicher wird die Konfrontation mit der eigenen Verletzlichkeit. Dies erklärt die Aggression gegen „Lügenpresse“ oder „Systemparteien“, die an der Selbsttäuschung rütteln.
Lösungsansätze: Vom Erkennen zum Handeln
1. Individuelle Ebene: Selbstermächtigung statt Ohnmacht
AfD-Wähler können:
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Trauerarbeit leisten: DDR-Verluste und Transformationskränkungen bewusst betrauern – etwa durch Biografiearbeit oder generationenübergreifende Dialoge
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Projektionen hinterfragen: Tagebuch führen über eigene Ängste, die auf „Feindgruppen“ übertragen werden
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Sinnquellen jenseits der Politik erschließen: Ehrenamt, Kunst, intergenerationelle Projekte
Angehörige sollten:
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Zuhören ohne zu bewerten: Statt „Recht zu haben“ („Die AfD ist undemokratisch!“) lieber fragen: „Was macht dich so wütend?“
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Positive Identitätsangebote schaffen: Familienchroniken erstellen, ostdeutsche Kulturleistungen würdigen
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Gemeinsame Handlungsräume öffnen: Zusammen Gartenprojekte managen, Handwerkskurse besuchen – um Ohnmacht durch Gestaltung zu ersetzen
2. Zivilgesellschaft: Demokratie als Beziehungskultur
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Traumasensible Dialogformate: Moderierte Gesprächskreise nach dem Vorbild der „Runden Tische“ von 1989, die Wut als Schmerz erkennbar machen
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Ostdeutsche Erzählsalons: Plattformen für unverklärte Lebensgeschichten – nicht als Nostalgie, sondern als Heilungsraum
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Intergenerationelle Lernpartnerschaften: Jugendliche dokumentieren Wendebiografien, entzaubern dabei verklärte DDR-Bilder
3. Staatliche und institutionelle Maßnahmen
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Transformations-Museen: Orte, die die Komplexität der Wende zeigen – nicht als Siegererzählung, sondern als multiperspektivisches Drama
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Psychosoziale Zentren: Flächendeckende Angebote für transgenerationale Traumatherapie, kombiniert mit politischer Bildung
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Symbolpolitik der Anerkennung:
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Bundesverdienstkreuze für ostdeutsche Bürgerrechtler
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Lehrstühle für Transformationsforschung an Ost-Unis
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Kulturförderung jenseits von Ostalgie-Shows
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4. Medien: Vom Besserwessi zum Resonanzraum
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Diversität in Redaktionen: Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen, um paternalistischen Ton zu vermeiden
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Konstruktiver Journalismus: Nicht nur AfD-Provokationen skandalisieren, sondern Lösungsansätze für strukturelle Probleme aufzeigen
Fazit: Die Demokratie als therapeutischer Prozess
Der Aufstieg der AfD im Osten ist nicht nur ein politisches, sondern ein menschliches Drama – eine kollektive Überforderung mit den Folgen nicht verarbeiteter Brüche. Gegenstrategien müssen daher über klassische Politikvermittlung hinausgehen:
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Trauma anerkennen: Die Bundesrepublik braucht eine „psychologische Wiedervereinigung“, die das Leid der Transformationsjahre würdigt.
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Komplexität aushalten: Statt einfache Antworten zu bekämpfen, muss die Demokratie lernen, Ambivalenzen als Stärke zu inszenieren.
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Beziehung heilt: Nur durch echte Begegnung (nicht Debatten) zwischen Ost und West, Jung und Alt, AfD-Wählern und Demokraten kann der Teufelskreis aus Wut und Abspaltung durchbrochen werden.
Die gute Nachricht: Jede Krise enthält Wachstumspotenzial. Vielleicht zwingt uns die AfD dazu, endlich erwachsen zu werden – als Gesellschaft, die ihre gespaltenen Seelenanteile integriert, statt sie in Populisten zu projizieren.