
Alice Weidel und Tino Chrupalla. Sandro Halank, Wikimedia Commons Steffen Prößdorf, Alice Weidel et Tino Chrupalla, CC BY 4.0.
Abgehängt, verunsichert, entfremdet: Wie die AfD den Osten eroberte
Die Bundestagswahl 2025 markiert einen historischen Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik wurde die SPD von einer Partei rechts der Union überholt. Die Alternative für Deutschland (AfD) erreichte mit 19,5 % der Zweitstimmen ihr bisher bestes Ergebnis und wurde zweitstärkste Kraft im Bundestag – ein Erfolg, der maßgeblich auf ihre Dominanz in den ostdeutschen Bundesländern zurückgeht. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg errang die Partei Direktmandate, während sie in westdeutschen Ballungsräumen wie Hamburg oder München deutlich schwächer abschnitt. Diese Analyse untersucht die strukturellen, soziokulturellen und politischen Ursachen für den anhaltenden Aufstieg der Rechtspartei im Osten Deutschlands und ist eine wichtige Ergänzung zur psychologischen Analyse.
Historische Einordnung: Von der Protestbewegung zur Systemkraft
Die AfD etablierte sich ab 2017 als feste Größe in ostdeutschen Landtagen, doch ihr bundesweiter Durchbruch blieb zunächst aus. Der Transformationsprozess von einer eurokritischen Professorenpartei zur rechtspopulistischen Sammlungsbewegung vollzog sich parallel zur wachsenden Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels. In Ostdeutschland, wo die AfD bei der Bundestagswahl 2021 bereits in 38 von 39 Wahlkreisen stärkste Kraft wurde, entwickelte sie sich zur politischen Heimat eines wachsenden Teils der Bevölkerung.
Die Rolle der „abgehängten“ Regionen
Ein Schlüssel zum Verständnis liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung ostdeutscher Kommunen. Trotz milliardenschwerer Transferleistungen konnten viele ländliche Gebiete nicht an die Produktivität westdeutscher Regionen anknüpfen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt in Sachsen-Anhalt bei 73 % des westdeutschen Durchschnitts, in Mecklenburg-Vorpommern sogar nur bei 68 %. Gleichzeitig beschleunigt sich der demografische Wandel: Bis 2040 werden einige Landkreise Ostdeutschlands über 40 % ihrer Einwohner verloren haben. In dieser Gemengelage aus Abwanderung, Überalterung und Perspektivlosigkeit fand die AfD ein ideales Betätigungsfeld.
Die gescheiterte Integration nach 1990
Soziologische Studien verweisen auf ein kollektives Trauma der Transformationsjahre. Die von vielen Ostdeutschen erlebte „Selbstentmächtigung“ nach der Wende – der Verlust gewohnter Strukturen bei gleichzeitiger Marginalisierung in gesamtdeutschen Eliten – schuf ein anhaltendes Gefühl der politischen Entfremdung. Während in Westdeutschland etablierte Parteien über Jahrzehnte Vertrauensreserven aufbauen konnten, blieb die Bindung an das demokratische System im Osten fragil. Die AfD nutzt diese Schwäche, indem sie sich als Stimme der „vergessenen Provinz“ inszeniert.
Wirtschaftliche Verwerfungen als Nährboden
Der ökonomische Aufholprozess Ostdeutschlands stockt seit Jahren. Zwar sank die Arbeitslosenquote von 18,7 % (2005) auf 6,8 % (2025), doch hinter dieser Statistik verbergen sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Lohnunterschiede von bis zu 25 % gegenüber vergleichbaren Tätigkeiten im Westen. Die AfD bedient gezielt die Ängste jener Gruppen, die sich vom sozialen Abstieg bedroht fühlen.
Die Rentner-Protestgeneration
Überdurchschnittlich stark vertreten ist die AfD-Wählerschaft in der Altersgruppe der 60- bis 70-Jährigen. Diese Kohorte erlebte den Zusammenbruch der DDR im erwerbsfähigen Alter, musste sich beruflich neu orientieren und sieht sich nun durch Inflation und Rentenreformen erneut existenziell herausgefordert. Das Versprechen der AfD, die Grundsicherung im Alter anzuheben und die „Zweiklassenmedizin“ zu beseitigen, traf hier auf besonders fruchtbaren Boden.
Der Mythos deindustrialisierter Landstriche
In der Lausitz oder im Mansfelder Land, wo einst Bergbau und Schwerindustrie blühten, inszeniert die AfD sich als Kämpferin gegen die „grüne Deindustrialisierung“. Der geplante Braunkohleausstieg bis 2038 wird als Angriff auf die regionale Identität interpretiert. Obwohl die Partei keine konkreten Alternativkonzepte vorlegt, gelingt es ihr, die Verantwortung für Strukturbrüche den etablierten Parteien zuzuschreiben.
Das Migrationsnarrativ als Katalysator
Kein Thema prägte den Wahlkampf 2025 so sehr wie die Debatte um Zuwanderung und Integration. Die AfD schaffte es, drei lokal begrenzte Anschläge von Migranten in Magdeburg, Aschaffenburg und München zu einem Beleg für das „Versagen der multikulturellen Gesellschaft“ zu stilisieren. Ihre Forderung nach einer „Remigration“ von Ausländern ohne dauerhaftes Bleiberecht traf bei 47 % der Ostdeutschen auf Zustimmung – ein Anstieg um 14 Prozentpunkte gegenüber 2021.
Die gesellschaftliche Polarisierung
Während in urbanen Zentren wie Leipzig oder Jena liberale Milieus die Diskurshoheit behaupten, dominieren in ländlichen Regionen Ängste vor „Parallelgesellschaften“. Die AfD instrumentalisiert konkrete Konflikte – etwa um die Unterbringung von Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften – geschickt für ihre Agenda. Ihr Narrativ vom „Bevölkerungsaustausch“ durch „unkontrollierte Masseneinwanderung“ verfängt besonders dort, wo der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund unter 5 % liegt.
Die Sicherheitsfrage
Das subjektive Sicherheitsgefühl in Ostdeutschland hat sich laut Kriminalstatistiken stärker verschlechtert, als es die objektive Bedrohungslage rechtfertigt. Die AfD schürt diese Ängste durch gezielte Desinformation: So verbreiteten ihre Social-Media-Kanäle während des Wahlkampfs manipulierte Videos angeblicher „Messerattacken“ durch Ausländer. Obwohl Faktenchecks diese Falschmeldungen widerlegten, prägten sie die öffentliche Wahrnehmung nachhaltig.
Kulturelle Hegemonie und Medienkritik
Ein unterschätzter Faktor im Erfolg der AfD ist ihre Fähigkeit, alternative Öffentlichkeiten zu schaffen. In Regionen mit schwacher Zeitungslandschaft fungieren Telegram-Kanäle und lokale AfD-Funktionäre als primäre Informationsquelle. Die Partei bedient dabei geschickt das Misstrauen gegenüber „Mainstream-Medien“, das im Osten aufgrund der Erfahrungen mit der DDR-Staatspresse tief verwurzelt ist.
Die Ostalgie-Falle
Kulturkämpfe um Denkmäler, Straßennamen oder Gedenkpraktiken bieten der AfD weitere Angriffsflächen. Indem sie die Aufarbeitung der SED-Diktatur als „Siegerjustiz“ denunziert und gleichzeitig die sozialen Errungenschaften der DDR verklärt, spricht sie jene Wähler an, die sich zwischen den Systemen heimatlos fühlen. Dieses ambivalente Geschichtsbild erklärt auch, warum die Partei trotz rechtsextremer Positionen von ehemaligen Linkswählern gewählt wird.
Die Sprache der „einfachen Leute“
Anders als die oft technokratisch argumentierenden Volksparteien bedient die AfD eine emotional aufgeladene Rhetorik. Begriffe wie „Heimat“, „Leistungsgerechtigkeit“ oder „law and order“ werden bewusst vage gehalten, um unterschiedliche Deutungen zuzulassen. In Wahlkampfauftritten ostdeutscher AfD-Politiker dominiert der Tonfall des „volksnahen Aufbegehrens“ gegen „Berliner Eliten“.
Die Schwächen des demokratischen Lagers
Der Aufstieg der AfD ist auch eine Folge strategischer Fehler ihrer politischen Konkurrenten. Die SPD verlor in ihren ostdeutschen Hochburgen wie Brandenburg massiv an Unterstützung, weil sie die sozialen Folgen der Energiewende unterschätzte. Die Union wiederum schwankte zwischen Abgrenzung und Annäherung – etwa als sie AfD-Stimmen für ein verschärftes Asylgesetz in Anspruch nahm.
Die gescheiterte Brandmauer
Das Mantra der „wehrhaften Demokratie“ verlor an Überzeugungskraft, als sich herausstellte, dass 23 % der AfD-Wähler früher die CDU unterstützten. Die ambivalente Haltung Friedrich Merz‘, der einerseits Koalitionsausschluss bekräftigte, andererseits inhaltliche Schnittmengen betonte, trug zur Normalisierung der Rechtspartei bei.
Die Linke als Opfer ihrer Zerrissenheit
Die Bundestagswahl besiegelte den Niedergang der Linkspartei in ihrer einstigen Kernregion. Der Streit um Wagenknechts Abspaltung BSW, die unklare Haltung zur NATO und das Fehlen charismatischer Führungsfiguren ließen viele Protestwähler zur AfD abwandern. In Sachsen-Anhalt etwa sank der Linksanteil von 18 auf 6 %, während die AfD auf 34 % zulegte.
Fazit: Eine gefährliche neue Normalität
Die Bundestagswahl 2025 hat gezeigt, dass die AfD kein vorübergehendes Protestphänomen mehr ist, sondern zur systemischen Herausforderung geworden ist. Ihre Verankerung in ostdeutschen Kommunen – von der Kreistagsebene bis zu Bürgermeisterposten – gibt ihr eine Resistenz gegen Skandale und Verfassungsschutzberichte. Die demokratischen Parteien stehen vor der Quadratur des Kreises: Einerseits müssen sie sachliche Alternativen zu den Simplifizierungen der Rechtspopulisten entwickeln, andererseits dürfen sie die Sorgen ihrer abgewanderten Wähler nicht ignorieren. Die Zukunft der deutschen Demokratie wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, die strukturellen Benachteiligungen Ostdeutschlands endlich zu überwinden – nicht nur ökonomisch, sondern auch durch eine neue Kultur der politischen Teilhabe.