Ein schonungsloser Blick in den Abgrund
Mit „Riefenstahl“ präsentiert der renommierte deutsche Dokumentarfilmer Andres Veiel sein neuestes Werk, das am 31. Oktober 2024 in die deutschen Kinos kommt. Der Film, der seine Weltpremiere im Wettbewerb der 81. Internationalen Filmfestspiele von Venedig feierte, verspricht einen tiefgreifenden und bisher ungekannten Einblick in das Leben und Wirken einer der umstrittensten Figuren der deutschen Filmgeschichte: Leni Riefenstahl.
Veiel und seine Produzentin Sandra Maischberger erhielten als erste Zugang zu Riefenstahls umfangreichem Nachlass, der sage und schreibe 700 Kisten mit Dokumenten, Fotos, Filmen und persönlichen Aufzeichnungen umfasst. Dieses bisher unerschlossene Material bildet das Fundament für einen Dokumentarfilm, der nicht nur eine Biografie erzählt, sondern auch ein Stück deutscher Geschichte neu beleuchtet.
Die Regisseurin des Teufels: Warum Riefenstahl uns heute noch beschäftigt
Leni Riefenstahl, 1902 geboren und 2003 im Alter von 101 Jahren verstorben, bleibt bis heute eine Figur, die polarisiert und fasziniert. Als Regisseurin schuf sie mit Filmen wie „Triumph des Willens“ und „Olympia“ ikonografische Bilder, die tief in das kollektive visuelle Gedächtnis des 20. Jahrhunderts eingedrungen sind. Gleichzeitig steht sie wie kaum eine andere Künstlerin für die Verstrickung von Kunst und Propaganda im Dienste des Nationalsozialismus.
Die Frage, warum eine neue Dokumentation über Riefenstahl im Jahr 2024 relevant ist, beantwortet der Film selbst: In einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen weltweit zunehmen und Propagandamechanismen in sozialen Medien und darüber hinaus eine Renaissance erleben, ist die Auseinandersetzung mit Riefenstahls Werk und Wirkung aktueller denn je. Veiel zeigt, dass die Ästhetik Riefenstahls in erschreckender Weise bis in die Gegenwart nachwirkt – sei es bei Militärparaden in Moskau oder der Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele in Peking.
Archivschätze statt Zeitzeugen: Veiels radikaler Ansatz entlarvt die große Manipulatorin
Veiels Herangehensweise ist so radikal wie spannend: Er verzichtet vollständig auf Zeitzeugeninterviews oder aktuelles Material und lässt ausschließlich historische Dokumente sprechen. Diese Methode erlaubt es dem Zuschauer, sich ein eigenes Bild zu machen, ohne durch nachträgliche Interpretationen beeinflusst zu werden.
Der Film zeichnet Riefenstahls Lebensweg nach, von ihrer Kindheit in Berlin über ihre frühen Erfolge als Tänzerin und Schauspielerin bis hin zu ihrer Karriere als Regisseurin im Dritten Reich. Besonders entlarvend sind die Einblicke in bisher unveröffentlichte Dokumente, die Riefenstahls bewusste Manipulation ihrer eigenen Biografie belegen. So wird deutlich, wie sie nach dem Krieg systematisch versuchte, ihre Rolle im NS-Regime zu verharmlosen und sich als unpolitische Künstlerin darzustellen. Energisch kämpfte sie um die Deutungshoheit über ihre Person und ihr Werk.
Montage als Waffe: Wie Riefenstahls eigene Techniken gegen sie gewendet werden
Die Montage des Films, für die Stephan Krumbiegel, Olaf Voigtländer und Alfredo Castro verantwortlich zeichnen, ist meisterhaft. Sie schafft es, aus dem heterogenen Archivmaterial einen kohärenten und fesselnden Erzählfluss zu kreieren. Besonders beeindruckend ist, wie sie es schaffen, Riefenstahls eigene Montagetechniken gegen sie zu wenden und so ihre Selbstinszenierung zu dekonstruieren. Das erinnert an die hypnotischen Montagen, die Adam Curtis in seinen Dokumentationen verwendet.
Die Musik von Freya Arde spielt eine zentrale Rolle in der emotionalen Wirkung des Films. Statt die Bilder zu illustrieren, schafft sie eine subtile Gegenerzählung, die oft in spannungsvollem Kontrast zum Gezeigten steht. Arde gelingt es, eine schwebende Distanz zu Riefenstahls Erzählungen herzustellen und Räume des Zweifelns und Hinterfragens zu öffnen.
Vom Mythos zur Realität: Neue Erkenntnisse erschüttern das Bild der „unpolitischen Künstlerin“
„Riefenstahl“ bietet eine Fülle neuer Perspektiven auf seine Protagonistin. Anders als bisherige Darstellungen, die Riefenstahl oft als opportunistische Künstlerin porträtierten, die ihr Talent in den Dienst jeder Macht gestellt hätte, zeichnet Veiel das Bild einer zutiefst von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugten „Aktivistin“. Der Film belegt, dass Riefenstahl das Ende des Krieges als persönliche Niederlage empfand und bis zu ihrem Lebensende an ihren alten Idealen festhielt.
Besonders erschütternd sind die Einblicke in Riefenstahls Umgang mit ihren Mitarbeitern. Der Film beleuchtet etwa das Schicksal des Kameramanns Willy Zielke, der nach den Dreharbeiten zum Olympia-Film in die Psychiatrie eingeliefert und zwangssterilisiert wurde – mit Riefenstahls Wissen, aber ohne ihr Eingreifen.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Films ist die Untersuchung der anhaltenden Wirkung von Riefenstahls Bildästhetik. Veiel zeigt auf, wie ihre Techniken der Körperinszenierung und Massenchoreografie bis heute in Werbung, Sportübertragungen und politischen Inszenierungen nachwirken. Diese Kontinuitäten werden nicht plakativ behauptet, sondern durch geschickte Montage subtil suggeriert.
Detektivarbeit im Archiv
Die Entstehungsgeschichte von „Riefenstahl“ ist fast so faszinierend wie der Film selbst. Vier Jahre lang arbeiteten Veiel und sein Team an der Sichtung und Katalogisierung des riesigen Nachlasses. Die Corona-Pandemie erschwerte zeitweise den Zugang zu den Archiven, doch das Team ließ sich nicht entmutigen.
Die Herausforderungen der Produktion spiegeln sich in der Komplexität des fertigen Films wider. 18 Monate verbrachte Veiel mit seinem Team im Schneideraum – eine ungewöhnlich lange Zeit, die sich aber in der Präzision und Vielschichtigkeit des Endprodukts niederschlägt.
Meisterwerk oder Mammutaufgabe?
„Riefenstahl“ ist zweifellos ein Meilenstein der filmischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren Nachwirkungen. Veiel gelingt es, neue und teilweise schockierende Erkenntnisse zu präsentieren, ohne in Sensationalismus zu verfallen. Die Stärke des Films liegt in seiner Methode, die Protagonistin durch ihre eigenen Worte und Bilder zu entlarven.
Besonders beeindruckend ist, wie der Film die komplexe Persönlichkeit Riefenstahls einfängt, ohne sie zu entschuldigen oder zu dämonisieren. Veiel zeigt eine Frau, die von ihren Überzeugungen getrieben wird, auch wenn diese zutiefst problematisch sind. Er vermeidet dabei jede Form von Relativierung, sondern legt schonungslos die Verstrickungen und Widersprüche in Riefenstahls Leben offen.
Mit 115 Minuten ist „Riefenstahl“ für einen Dokumentarfilm recht lang. Doch angesichts der Komplexität des Themas und der Fülle des Materials ist diese Dauer gerechtfertigt. Jede Kürzung hätte zu einer Vereinfachung geführt, die dem Thema nicht gerecht geworden wäre.
Mehr als eine Biografie: „Riefenstahl“ als Spiegel unserer Zeit
„Riefenstahl“ ist mehr als eine Filmbiografie – er ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Macht, Verführung und Selbsttäuschung. Veiel hat einen Film geschaffen, der weit über sein unmittelbares Sujet hinausweist und grundlegende Fragen nach der Verantwortung von Künstlern in politischen Systemen stellt.
Der Film ist keine leichte Kost. Er fordert seine Zuschauer heraus, sich mit unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen und eigene Positionen zu hinterfragen. Doch gerade darin liegt seine Stärke und Relevanz. In einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen weltweit zunehmen und die Macht der Bilder durch soziale Medien potenziert wird, liefert „Riefenstahl“ wichtige Denkanstöße.
Besonders beeindruckend ist, wie der Film die Kontinuitäten aufzeigt – nicht nur in der Bildsprache, sondern auch in den zugrundeliegenden Ideologien. Wenn Riefenstahl noch in ihren späten Jahren von einer Rückkehr zu „Anstand, Sitte und Moral“ träumt, klingt das erschreckend aktuell und erinnert an Rhetorik, die heute von populistischen Bewegungen verwendet wird.
Der Film ist all jenen zu empfehlen, die sich für deutsche Geschichte, Filmgeschichte oder die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Politik interessieren. Aber auch für ein breiteres Publikum ist er relevant, da er grundlegende Fragen nach der Macht der Bilder und der Verantwortung ihrer Schöpfer stellt – Fragen, die in unserer mediengesättigten Gegenwart aktueller sind denn je.
Andres Veiel hat mit „Riefenstahl“ einen mutigen, komplexen und notwendigen Film geschaffen. Er zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nie abgeschlossen ist, sondern immer wieder neu geführt werden muss – besonders wenn neue Quellen neue Erkenntnisse ermöglichen. „Riefenstahl“ ist ein eindringlicher Appell, wachsam zu bleiben gegenüber den Verführungen der Macht und der Ästhetik – ein Appell, der in unserer Zeit nicht oft genug wiederholt werden kann.
Ab 31. Oktober 2024 im Kino
Weitere Informationen
Website: www.riefenstahl-film.de
Biographisches zu Leni Riefenstahl
Filme „Triumph des Willens“ und „Sieg des Glaubens„