Wir kennen sie, die Film-Dokumentationen in Schwarz-Weiß. Historische Zeugnisse verdichtet zu einem Film, besprochen und kommentiert von Zeitzeugen, vielleicht sogar von am Geschehen Beteiligten. Ran Tals Film über den israelischen Fotografen Micha Bar-Am ist anders. Micha Bar-Am ist ein vielfach ausgezeichneter israelischer Fotograf und Journalist. Er gilt heute als der wichtigste Chronist des Staates Israel. Sein vielschichtiges Werk reicht von der Gründung Israels bis in die heutige Zeit. Bar-Ams Werke finden sich in den bekanntesten Museen der Welt. Der renommierte israelische Dokumentarfilmer Ran Tal konnte Micha Bar-Am davon überzeugen, ihm Zugang zu seinem einzigartigen Fotoarchiv zu gewähren. Eine halbe Million Abzüge, Kontaktbögen und Fotos aus 60 Jahren fotografischen Arbeitens – die Geschichte eines Landes und eines Lebens, beide miteinander verwoben. Heraus gekommen ist nach insgesamt drei Jahren des Sichtens und Zusammenfügens eine beeindruckende Biografie, ein in 1341 Momente fragmentiertes Leben. Im Film lässt der mittlerweile 91 Jahre alter Micha Bar-Am zusammen mit seiner Frau Orna im Gespräch mit dem Regisseur sein Leben, sein Werk Revue passieren. Dabei sind die Fotos sein Gedächtnis, sein Gedächtnis erklärt die Fotos. Einiges in der Erinnerung verblasst, Vieles ist noch präsent.
Alles beginnt im Jahr 1930 – Michael Anguli wird in Berlin geboren, als Sohn jüdischer Eltern. Er hat zwei Schwestern. 1932 zieht die Familie nach Ulm, wo Michaels Vater als Geschäftsführer ein jüdisches Kaufhaus leitet. Aber schon ein Jahr später gibt es Aufrufe der Nazis, das Kaufhaus zu boykottieren. 1936 flüchtet die Familie nach Palästina. In Haifa lässt sie sich schließlich nieder. 1948 wird Micha eingezogen und dient während des Palästina-Krieges bis 1949. Nach seinem Militärdienst nimmt das Fotografieren mehr und mehr Raum in seinem Leben ein.
In den 50er Jahren wird aus Michael Anguli auf eigenes Bestreben hin Micha Bar-Am: der Sohn des Volkes. Während der ganzen Zeit fotografiert er. Von 1968 an arbeitet er als Israel-Korrespondent und Chef-Fotograf für die New York Times. Für die Times wird er anschließend Nahost-Korrespondent. Seine Reportagen über Israel erscheinen weltweit in Zeitungen, Magazinen und Büchern. Beim gemeinsamen Anschauen seiner zahllosen Fotos im Film wird Micha Bar-Am gleichermaßen unterstützt und herausgefordert von seiner Frau Orna, die chronologische Unsicherheiten oder Erinnerungslücken aufdeckt und mit Hilfe von Unterlagen zurechtrückt. Bisweilen endet dies auch in Diskussionen. Sie ist es auch, die in der Vergangenheit die Ausstellungen ihres Mannes kuratierte. Orna Bar-Am ist selbst eine Chronistin – für das Werk ihres Mannes, dem Chronisten. Sie ist es auch, die für die Kataloge ihres Mannes verantwortlich zeichnete. Der Zuschauer von „1341 Frames of Love and War“ ist Begleiter dieses kommunikativen Prozesses der Beiden im Zusammenspiel mit Regisseur Ran Tal. Das gemeinsame Betrachten und Einordnen der eigenen Bilder, mit jetzt zum Teil jahrzehntelanger Distanz, ist berührend und spannend zugleich und schafft eine tiefe Nähe zu den dargestellten Momentaufnahmen. Jegliche Flüchtigkeit verschwindet, jedes Foto steht für sich, die verbindenden Elemente schafft sich der Zuschauer mit Hilfe des Off-Kommentares von Micha, Orna und Ran Tal selbst.
Ein Film in Bildern. Was ist zu sehen? Armut, Kriege, immer wieder Kriege. Bilder von Gefangenen-Transporten, zum Tode Verurteilten, viel Blut, Not, große Trauer, Verzweiflung, auch Leichen, Bilder von Beschuss und Gefechten. Alles in Schwarz-Weiß. Teils auch für Bar-Am traumatische Erlebnisse, die im Verlauf des Films mitunter auch dazu führen, dass Bar-Am die Dreharbeiten abbricht. 1961 berichtet er über den Prozess gegen den NS Kriegsverbrecher Adolf Eichmann, er dokumentiert den Sechs-Tage-Krieg 1967, den Jom-Kippur-Krieg 1973, die Besetzung Beiruts 1982. Aber dennoch sieht sich Bar-Am nicht als Kriegsreporter. Sein Ziel sei es immer gewesen, zu dokumentieren, was ist. „Ich schütze mich vor dem Wahnsinn, indem ich durch meine Kamera der Welt beständig Ordnung verleihe“, sagte Micha Bar-Am mal in einem Interview. „1341 Frames of Love and War“ trägt aber das Gegengewicht zu den Bildern des Krieges schon im Titel: man sieht auch Bilder der Liebe. Man sieht Familienfotos, die drei Söhne kommen auch zu Wort, man sieht Fotos voller Lebenslust, dort sitzt man zusammen, ist ausgelassen und feiert. Zwischendrin auch Fotos von Micha Bar-Am selbst. Ein schlanker Mann, groß, mit einem imposanten Bart, mittlerweile fast weiß. Glück, Sinnlichkeit – all das findet auch seinen Platz in dieser fragmentierten Zeitreise durch 91 Jahre Leben und Schaffen. Man bekommt auch einen Eindruck davon, wie hoch der Preis ist, den die Familie Bar-Am für Michas Wirken und seinen Erfolg zu zahlen hatte. Im Film sagt er, er hoffte, er könnte die Welt mit seinen Bildern zu einem besseren Ort machen. Die Resignation darüber, an diesem Vorhaben letztendlich gescheitert zu sein, wiegt schwer. Was Hoffnung gibt, fällt als beiläufiger Satz: heute fotografiere er nur noch seinen Enkel.
1341 Frames of Love and War
Regie:
Berlinale – Sektion Berlinale Special