Ob der auf der diesjährigen Berlinale gezeigte Dokumentarfilm „The First 54 Years“ des israelischen Filmemachers Avi Mograbi ein Skandal ist oder nicht, muss letztlich jeder Zuschauer mit sich selbst ausmachen. Fakt ist, dass ein etwaiger Skandal aufgrund der in diesem Jahr ohne Publikum stattfindenden Berlinale von Vornherein zu einem Strohfeuer verdammt ist, da sich im heimischen Wohnzimmer nun mal schlecht Skandale produzieren lassen.
Doch was macht „The First 54 Years“ eigentlich so skandalträchtig? Der Film behandelt die nunmehr über 50 Jahre andauernde Besatzung der palästinensischen Gebiete im Gaza-Streifen und der Westbank durch Israel in einem durchaus ungewöhnlichen Dokumentationsformat. Er besteht aus einer Mischung von archiviertem Dokumentationsmaterial, Interviews mit Soldaten der israelischen Armee und dem Monolog des Regisseurs selbst. Kritiker werfen Mograbis Art der Dokumentation Einseitigkeit vor. Dadurch, dass weder die Seite der Palästinenser noch unabhängige Parteien im Film zu Wort kommen, kein unberechtigter Vorwurf. Avi Mograbi jedoch eine absichtliche Einseitigkeit zu unterstellen, ist wahrscheinlich etwas zu weit hergeholt. Seit vielen Jahren setzt sich der israelische Filmemacher kritisch mit der Politik seines Heimatlandes und dem kein Ende nehmenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auseinander.
Um der Intention des Films auf die Spur zu kommen, hilft ein Blick auf dessen Langtitel. Die lautet „The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation“, zu Deutsch „Die ersten 54 Jahre – Eine Kurzanleitung für die militärische Besatzung“. Der zweite Teil des Filmtitels ist nicht unbedeutend. Laut Aussage von Mograbi handelt der Film zwar von der israelischen Besatzung palästinensischer Gebiete, kann jedoch auch auf andere Besatzungsmächte übertragen werden.
Im Film wechseln sich die verschiedenen Erzählformate ständig ab. Archivfilmmaterial mit strategischen Hintergrundinformationen zum Vorgehen der israelischen Armee gehen in persönliche Beichten von israelischen Soldaten über, die in den vergangenen Jahrzehnten im Krieg und in den besetzten Gebieten gedient haben. Als drittes Erzählformat bringt sich der Regisseur selbst ein und kommentiert das Geschehene aus seiner eigenen Sicht. „The First 54 Years“ ist auf Hebräisch und Englisch vertont, wobei die hebräischen Teile mit englischen Untertiteln versehen sind.
Mograbi beginnt seinen Dokumentarfilm mit dem Sechstagekrieg von 1967 und der UN-Resolution 242, die die Grundlage für den israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten bilden sollte, aber systematisch ignoriert oder bewusst verschleiert wurde. Dann zeichnet er sorgfältig die verschiedenen Strategien nach, mit denen die Israelis de facto Eigentümer des Landes wurden, während sie die Bevölkerung destabilisierten und unterjochten. Durch eine Politik des „Zerreißens des sozialen Gefüges“, willkürliche Durchsuchungen und den Bau von Siedlungen normalisierten die Besatzer ihre Präsenz vor Ort. Die erste Intifada läutete die nächste Phase ein, nachdem offensichtlich wurde, dass das israelische Gerede von Selbstbestimmung der Palästinenser nur ein Lippenbekenntnis war. Die Besatzungstruppen wurden ermutigt, Palästinenser zu schlagen und die Soldaten drückten ein Auge zu, wenn israelische Siedler ihr Eigentum zerstörten. Während das Friedensabkommen von 1993 eine kurzzeitige Stabilität in die Region brachte, führte die Erkenntnis, dass die israelische Regierung keine Pläne hatte, ihr Ziel der Annexion aufzugeben, zur zweiten Intifada mit weiterer Gewalt und Selbstmordattentaten.
Wie Mograbi akribisch beschreibt, erlaubte der Anstieg der Gewalt der israelischen Regierung, auf der internationalen Bühne das Opfer zu spielen und ihre gut geölte PR-Maschine zur Verbreitung der Idee zu benutzen, dass Israel nur seine eigene Bevölkerung beschützt. Das Endergebnis ist, dass es nicht nur keine Einsatzregeln in den Gebieten gibt, sondern dass laut der israelischen Linie auch keine unschuldigen Zuschauer existieren.
Vor allem die Schilderung der rund 40 Soldaten machen den Film phasenweise nur schwer erträglich. Psychischer Terror gegen Palästinenser in den besetzten Gebieten, kollektive physische Bestrafung, sogar Gewalt gegen Kinder – im Besatzungsalltag scheint fast jedes Mittel recht zu sein, um die Gegenseite in Schach zu halten bzw. zu demoralisieren. Um die Worte der israelischen Soldaten richtig einordnen zu können, sollten Zuschauer des Films wissen, dass die Interviews durch die Organisation „Breaking The Silence“ gemacht wurden. Breaking The Silence gehört zu den in Israel umstrittensten Organisationen überhaupt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit des Staates darüber aufzuklären, was die Besatzung des Gaza-Streifens, des Westjordanlandes und der Golan-Höhen in der Praxis für die dort ansässige Bevölkerung, aber auch für die Soldaten selbst bedeutet. Aufgrund der Konfrontation mit den unschönen Seiten der israelischen Besatzungspolitik, wird die Organisation von vielen Leuten als „Nestbeschmutzer“ angesehen. Breaking The Silence wird häufig vorgeworfen, dass sich die Schilderungen von Kriegsverbrechen und Unrecht nicht unabhängig überprüfen ließen. Zudem wird die Organisation von Staaten finanziert, die keine freundschaftlichen Beziehungen zu Israel unterhalten.
Avi Mograbi lässt die persönlichen Erlebnisse der Soldaten, die in den letzten 54 Jahren an der Seite Israels im militärischen Einsatz waren, nüchtern und umkommentiert stehen. Die Soldaten werden weder pauschal aufgrund der schwierigen Einsatzbedingungen in den besetzten Gebieten in Schutz genommen, noch aufgrund ihrer Taten allgemein verurteilt.
Das neben den Archivbildern und Soldatenschilderungen wohl ungewöhnlichste Erzählformat des Filmes sind die persönlichen Kommentare von Avi Mograbi. Im Sinne des Filmtitels „Eine Kurzanleitung für die militärische Besatzung“ gibt der Filmemacher Ratschläge zur erfolgreichen Okkupation eines Gebietes durch eine Armee. Dass Mograbi dabei auf der Coach in seinem Wohnzimmer sitzt, verleiht dem ganze eine etwas absurde Note. Der Filmemacher klingt in seinen Ausführungen vielmehr wie ein wohlmeinender Opa als ein Armeegeneral.
Inwiefern die Darstellungen der israelischen Soldaten wahrheitsgemäß sind und ein korrektes Bild der Realität in den besetzten Gebieten widerspiegeln, muss jeder Zuschauer letztlich selbst beurteilen. Mangels einer Objektivierung durch andere Zeitzeugen bleiben die Darstellungen eine Glaubensfrage. Somit lässt sich auch die Frage, ob der Film tatsächlich israel-feindlich ist, nicht abschließend beurteilen. Sehenswert ist „The First 54 Years“ trotzdem für alle Menschen, die sich mit der Situation in den palästinensischen Gebieten auseinandersetzen wollen. Bis heute prägen die geopolitischen Auswirkungen der israelischen Besatzung den gesamten Nahen Osten.
The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation
Regie:
Berlinale – Sektion Forum