„Camouflage“, im spanischen Original „Camuflaje“, heißt der auf der Berlinale gezeigte neue Dokumentarfilm des argentinischen Filmemachers Jonathan Perel. Der Titel deutet an, um was es dem für seine politisch ambitionierten Arbeiten bekannten Dokumentarfilmer in seinem neuesten Werk geht: Camouflage ist ein Begriff aus dem Militärischen und bedeutet Tarnung und Verschleierung von militärischen Personen und Fahrzeugen im Gelände. Und genau darum geht es dem argentinischen Regisseur bei der Annäherung an eines der schwierigste Themen seines Heimatlandes: Die Tarnung militärischer Anlagen mit Folterlagern der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1982 und ihr buchstäbliches Verschwinden in der sie umgebenden Natur. Konkret geht es um den berüchtigten Campo de Mayo, ein riesiges Militärgelände mit mehreren angeschlossenen Folterlagern für politische Gegner am Stadtrand von Buenos Aires.
Gleichzeitig deutet der bewusst mehrdeutig gewählte Filmtitel auch die anderen Bedeutungen des Wortes an: Camouflage zum einen als Schönschminken und unschöne Stellen Wegretouschieren, wie es die argentinische Mehrheitsgesellschaft nach Ansicht des kritischen Filmemachers mit der Aufarbeitung ihrer unrühmlichen Vergangenheit bis heute hält. Und zum anderen sozialpsychologisch als Bezeichnung gesellschaftlicher Abwehr aus vermeintlichem Selbstschutz. All das packt Jonathan Perel in seinen vielschichtigen Film. Der Filmemacher lässt seinen Protagonisten barfuß durch dieses seltsame Gelände laufen, auf der Suche nach Enttarnung der so lange perfekt praktizierten Camouflage durch seine Landleute: den in seiner Heimat Argentinien und auch international anerkannten Schriftsteller Félix Bruzzone.
Gleich in der ersten Einstellung des Films wird klar, dass es sich hier um eine sehr persönliche Annäherung an ein schwieriges Kapitel der argentinischen Zeitgeschichte handelt: Der Filmemacher lässt die Hauptfigur seines biografisch-dokumentarischen Films kilometerweit auf nackten Füßen durch grünes Naturgelände joggen. Und Joggen ist das richtige Wort, denn genau darin betätigt sich der Schriftsteller pausenlos, verbunden mit einer nur auf den ersten Blick naiv wirkenden Annäherung an Orte und Menschen am Wegesrand, lakonischer Selbstironie, dabei ohne Pathos und erhobenen Zeigefinger.
Der Mittvierziger in der sportlichen Freizeitkleidung will sich die makabre Geschichte dieses Geländes buchstäblich erlaufen, denn er hat eine sehr persönliche Beziehung zum Campo de Mayo: Als er sich vor ein paar Jahren ein Haus am Rande des Areals in unberührter grüner Natur kaufte, ahnte er noch nichts von der tragischen Verbindung seiner Familie zu den Folterlagern in den 1970er Jahren: Sein regimekritischer Vater wurde verhaftet und seine Mutter verschwand in dem berüchtigten El Campito, als er erst ein paar Monate alt war; er sah sie nie wieder und wuchs bei seiner Großmutter auf. Erst eine Tante klärte ihn nach dem Immobilienkauf über die makabren Zusammenhänge auf, und diese Tante ist es auch, die in einem ersten Gespräch nach der stummen Barfußläufer-Eingangssequenz in dem Film zu Wort kommt.
Durch das Gelände des Campo de Mayo joggen, den Blick über unberührte Natur, die gar nicht so unberührt ist, schweifen lassen, mit Menschen aus der Umgebung sprechen, Eindrücke gewinnen: So ließe sich grob der Inhalt von „Camouflage – Camuflaje“ zusammenfassen. Dabei beanspruchen die Begegnungen mit den Menschen am Wegesrand und die Gespräche des joggenden Protagonisten mit den größten Teil des Films. Ein Biologie-Dozent von der Uni, der hier Naturforschungen betreiben will, kommt ebenso zu Wort wie ein Immobilienmakler, der großspurig die Qualität des Wohnumfeldes anpreist, oder junge Leute, die hier im unwegsamen Gelände das Kriegsspiel „Kill Race“ veranstalten. Aber auch Friedensaktivisten, die sich die Errichtung einer Gedenkstätte im Campo de Mayo wünschen, geben ihre kritische Sicht wider. Daneben gibt es eher beiläufig Informationen zu den auf Außenstehende absurd anmutenden Gegebenheiten rund um das Gelände zwischen Naturreservat und Freizeitanlage, Bauland und Ort des Verbrechens durch die Militärdiktatur.
Anders als in seinem zwei Jahre zuvor entstandenen Dokumentarfilm „Corporate Accountability – Responsabilidad Empresarial“, in denen Jonathan Perel deutlich Stellung beziehend auch die Verstrickungen angeblich unbescholtener Bürger und internationaler Konzerne in die Verbrechen der argentinischen Militärjunta leidenschaftlich anprangerte, gibt sich „Camouflage – Camuflaje“ eher lakonisch, teilweise ironisch-distanziert und sehr persönlich. Der Schriftsteller Félix Bruzzone, der auch im wirklichen Leben jeden Tag von seinem Haus aus die Strecke durch das Gelände von Campo de Mayo abjoggt, gibt in jeder Beziehung in dem Film die Richtung vor, ist sein Dreh- und Angelpunkt. Dabei macht sich der Regisseur die Sichtweise und die lakonisch-ironische Art seines Protagonisten beim filmischen Erzählen zu eigen. Das mag auch daran liegen, dass Filmemacher und Hauptdarsteller beide der Generation der Mittvierziger angehören, die lange verdrängte Kindheitserinnerungen aus der Zeit der Militärdiktatur teilen.
Als einen klassischen Dokumentarfilm lässt sich „Camouflage – Camuflaje“ nicht einordnen, eher als einen dokumentarischen Essay oder einen historisch-politischen Essayfilm mit viel Raum für gedankliche Assoziationen beim Betrachter. Protagonist Félix Bruzzone ist übrigens in der Berliner Kulturszene kein Unbekannter: 2010 erhielt er hier den renommierten Anna-Seghers-Preis der gleichnamigen Stiftung.
Camouflage
Regie:
Argentinien 2022
Berlinale – Sektion Forum