Major William Martin (1907 – 1943) von den Royal Marines war ein Kriegsheld der Westalliierten. Er kam aus Cardiff, hatte eine hübsche Verlobte daheim, die bei seinem Vater auf wenig Gegenliebe stieß, und liebte das Theater und das wilde Nachtleben, was wohl auch seine finanziellen Schwierigkeiten erklärte. Und dennoch: Er allein ermöglichte die erfolgreiche und für Adolf Hitler (1889 – 1945) und Benito Mussolini (1883 – 1945) überraschende Landung der westalliierten Truppen auf Sizilien, genannt: Operation „Huskey“, die erste große Offensive der vereinten Streitkräfte von Briten und US-Amerikanern in Europa und bis dahin auch die größte Offensive in der gesamten Menschheitsgeschichte. Aber wie kann es sein, dass ein einzelner Soldat über den Erfolg der Landung und der damit einhergehenden Überraschung entschied? Noch merkwürdiger wird es, wenn man nun erfährt: Major Martin erfüllte seine Mission post mortem. Und als wäre das nicht kurios genug: Es gab nie einen Major William Martin, Jahrgang 1907 aus Cardiff bei den britischen Streitkräften.
Januar 1943: General Major Bernard Law Montgomery (1887 – 1976) drängte die deutsch-italienischen Truppen unter dem Kommando von Generalfeldmarschall Erwin Rommel (1891 – 1944) in Afrika erfolgreich immer weiter zurück, während sich der britische Premierminister Winston Churchill (1874 – 1965) und US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882 – 1945) in Casablanca trafen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Stalin (1878 – 1953) blieb der Konferenz fern, weil er der Ansicht war, er würde in der Heimat gebraucht, wo gerade die Schlacht um Stalingrad tobte. Allerdings hätte er Churchill mit Roosevelt überstimmen können, wäre er da gewesen. Roosevelt wollte nämlich Stalins Ansinnen nachkommen und den Schlag gegen die „Festung Europa“, wie Hitler es nannte, in Frankreich ausführen und so eine zweite Front eröffnen, was für die deutschen Truppenverbände bedeutet hätte, dass sie sich hätten aufteilen müssen. Churchill wollte die Achse Berlin-Rom an ihrer südlichen Schwachstelle packen: Italien. Man einigte sich letztlich auf ein Landeunternehmen in Sizilien, was den Vorteil barg, dass man nach dem erfolgreichen Zurückdrängen der deutsch-italienischen Truppen aus Afrika von dort übersetzen und Italien angreifen könnte. Doch Chrchill sah, obgleich es sein Plan war, ein Problem: „Nur ein Trottel wird nicht erkennen, dass es Sizilien ist.“ Das erhöhte die Gefahr, dass die Nazis ihr Truppenaufgebot auf der Insel verstärken würden. Gleichzeitig würde der Sieg in Afrika eine baldige Gegenoffensive der Wehrmacht provozieren. Die Zeit drängte also. Folglich musste man die Nazis glauben machen, dass das Ziel nicht Sizilien war. Aber wie?
Da kommt Major Martin ins Spiel. Dessen Geschichte beginnt mit Lieutenant Commander Ewen Montagu (1901 – 1985) vom Naval Intelligence Department, dem militärischen Nachrichtendienst der Royal Navy. Montagu war eigentlich Anwalt, aber der Krieg machte halt aus vielen Soldaten. Zusammen mit einem Team von Experten für die deutsche Spionageabwehr klügelte Montagu inspiriert durch ein Konzept des MI5 einen Plan aus, der den Codenamen Operation „Mincemeat“ trug, also „Unternehmen ,Hackfleisch'“. Die Grundidee war, der deutschen Aufklärung durch einen vermeintlichen Soldaten der Alliierten glaubhafte Informationen zukommen zu lassen, wonach die Landung auf dem Peloponnes und auf Sardinien stattfinden würde. Das hieß aber, dass die Nazis denken mussten, sie hätten die geheimen Informationen nur durch einen glücklichen Zufall erhalten. Es durfte für sie kein Zweifel an der Echtheit der gefälschten Aufmarschpläne bestehen. Montagu wollte den Nazis daher einen falschen Boten unterjubeln, der eine glaubhafte Geschichte brauchte und irgendwie in den Machtbereich des Feindes gelangen musste, ohne Verdacht zu erregen. Ach: Und dieser Bote musste tot sein.
Was Montagu brauchte, war eine scheinbar seit Tagen im Meer treibende Wasserleiche, die auch die Pathologen der Nazis von ihrer Authentizität überzeugen würde, und so wandte Montagu sich an den Pathologen Sir Bernard Henry Spilsbury (1877 – 1947), der ihm genau darlegte, in welchem Zustand eine Leiche wäre, die ertrunken und danach einige Tage im Wasser getrieben wäre. Allerdings durfte der Verstorbene auch keine Angehörigen gehabt haben, die ihn vermissen und die Tarnung der Leiche auffliegen lassen könnten. Die nächste Adresse: Sir William Bentley Purchase (1890 – 1961), Rechtsmediziner und Coroner von London (ein Coroner ist ein hochrangiger Leichenbeschauer in England, es gab sechs davon in London), des Weiteren Anwalt und ehemals Medical Officer der Royal Artillery. Purchase sollte eine passende Leiche für Montagu finden. Dazu erklärte er sich erst bereit, als man ihm die Billigung des Plans durch Churchill bestätigte. Man sollte meinen, dass es mitten im Krieg nicht sonderlich schwer wäre, eine Wasserleiche aufzutreiben – falsch: „Wir waren von Leichen umgeben, aber es gab keine, die wir brauchen konnten“, schrieb Montagu in seinem Buch „Der Mann, den es nie gab“.
Aber dann spielte das Schicksal Montagu den psychisch kranken und arbeitslosen Bettler Glyndwr Michael (1909 – 1943) in die Hände. Der war an einer durch die versehentliche Einnahme von Rattengift (er hatte in einer Scheune auf vergiftetem Stroh genächtigt) ausgelöste Lungenentzündung gestorben, wodurch die Lunge auf ähnliche Weise beschädigt war, wie es bei einem vor Tagen Ertrunkenen der Fall gewesen wäre. Um ein weiteres Verwesen zu verhindern, lagerte man die Leiche in einem doppelwandigen Tank, der mit Trockeneis (festes Kohlenstoffdioxid von einer Temperatur unter −78,4 °C) im Zwischenraum gekühlt wurde, damit der Verwesungsprozess angehalten wurde, ohne dass die Leiche Anzeichen von Frost bekam. Nun brauchte die Leiche eine falsche Identität und so entstand Captain/Acting Major William Martin. Acting Major, weil ein so junger Offizier normalerweise noch nicht den Rang eines Majors bekleidet hätte, wohingegen ein einfacher Captain nicht mit derart vertraulichen Plänen betraut worden wäre, wie Martin sie neben Fotos seiner Verlobten, Theaterkarten und einem Brief von der Bank bei sich trug. Dass man Martin als Captain in den de facto Rang eines Majors berufen hatte, ließ ihn zudem als besonders vertrauenswürdig und pflichtbewusst erscheinen. Die Pläne bestanden vor allem aus zwei Briefen: einem von Major General Archibald Nye (1895 – 1967), Vice-Chief of the Imperial General Staff, an Field Marshal Harold Alexander (1891 – 1969), den Oberbefehlshaber der Mittelmeertruppen, und einem von Admiral of the Fleet Louis Mountbatten (1900 – 1979), Chef der Combined Operations, an First Sea Lord Andrew Cunningham (1883 – 1963), Oberbefehlshaber der britischen Mittelmeerflotte. Im ersten wurden zwei bzw. drei Landeunternehmen im Rahmen der Operation „Husky“ (damit die Deutschen im Falle abgefangener Funksprüche keinen Verdacht schöpften, wurde der Name der echten Operation verwendet) erwähnt: Alexander würde mit seinen Truppen auf Sardinien und Korsika landen und General Henry Maitland „Jumbo Wilson“ Wilson (1881 – 1964) auf dem Peloponnes. Auch der zweite Brief erwähnte Sardinien als Ziel der nächsten Offensive.
Am 19. April 1943 brach Major Martin – noch immer im Trockeneistank – an Bord der HMS Seraph zu seiner Mission auf. Das U-Boot setzte ihn in der Nacht vom 29. auf den 30. April bei Huelva an der Atlantikküste Andalusiens ab, wo unter der schützenden Hand von Francisco Franco (1892 – 1975), dessen Diktatur in Spanien offiziell neutral war, aber in Wahrheit stark mit Hitler sympathisierte, Agenten der Abwehr, des deutschen Militärnachrichtendienstes, ihr Unwesen trieben. Während die Briten Funksprüche über einen vermissten Kurier die Runde machen ließen, trieb Major Martin im Wasser, bis er dann von einem einheimischen Fischer am Morgen des 30. April um 9.30 Uhr samt seinen vertraulichen Nachrichten geborgen wurde. Erst drei Tage später meldeten die spanischen Behörden den Briten den Fund und gaben die Leiche zur Bestattung frei. Ehe Major William Martin auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt wurde, übergaben die Spanier auch die mitgeführten Dokumente, an deren Faltspuren Montagu ablesen konnte, dass jemand anders – aller Wahrscheinlichkeit nach die Agenten der Abwehr – die Briefe gelesen hatte. Er telegrafierte an den sich in den Staaten befindlichen Churchill: „Mincemeat Swallowed Whole“ („Hackfleisch gänzlich geschluckt“).
Der Oberkommandierende der Truppen in Italien, Feldmarschall Albert Kesselring (1885 – 1960), durchschaute die Finte zwar und glaubte weiter an einen Angriff auf Sizilien, doch Hitler, der – Vegetarier oder nicht – das Hackfleisch wirklich geschluckt hatte, überstimmte ihn und argumentierte, gerade der Angriff auf Griechenland ergebe wegen der dortigen kriegswichtigen Bodenschätze Sinn. Er befahl also, die Truppen dorthin zu verlegen. Major Martin hatte seine Mission erfüllt und Operation „Husky“ konnte anlaufen.
Literatur
John and Noreen Steele: The Secrets of HMS Dasher. 3. Auflage. Argyll Publishers, Scotland 2002, ISBN 1-902831-51-9.
Ewen Montagu: Der Mann den es nie gab. Edition Bergh, Zug 1975, ISBN 3-88065-036-5 (deutsche Übersetzung).
Jon Latimer: Deception in War. John Murray, London 2001, ISBN 978-0-7195-5605-0.
Denis Smyth: Deathly Deception. The Real Story of Operation Mincemeat. Oxford University Press, Oxford 2010, ISBN 978-0-19-923398-4.
Ben Macintyre: Operation Mincemeat. Harmony Books, New York 2010, ISBN 978-1-4088-0921-1.
Der Trick mit der falschen Leiche. In: Die Welt, 4. November 1996