Michaela Melián, 1956 in München geboren, studierte Bildende Kunst und Musik in München. Sie ist Gründungsmitglied der Band F.S.K. und gleichzeitig als Bildende Künstlerin, Solomusikerin und Komponistin tätig. Mehrfach wurden ihre mit Musik unterlegten Hörspiele, die sich mit dem Nationalsozialismus und dessen Folgen befassen, ausgezeichnet. Ihr Wettbewerbsbeitrag „Memory Loops“ beim Wettbewerb der Stadt München unter dem Motto „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“ erhielt 2008 den ersten Preis und wurde kürzlich realisiert. Es handelt sich um ein virtuelles und sehr überzeugendes Denkmal, das weltweit unter www.memoryloops.net abrufbar ist. Michaela Melián ist seit 2010 Professorin für zeitbezogene Medien an der „Hochschule für bildende Kunst“ in Hamburg. Matthias Reichelt führte von Oktober bis Dezember 2010 ein virtuelles Gespräch per E-Mail mit Michaela Melián.
Matthias Reichert interviewt Michaela Melián:
Matthias Reichelt: Michaela Melián, bereits in dem Hörspiel „Föhrenwald“ (2005), für das Sie den angesehenen „Preis der Kriegsblinden“ erhielten, und das Sie auch als Ton-Dia-Show mit dem Kunstraum München konzipiert haben, thematisieren Sie den Nationalsozialismus und seine Opfer. 2008 haben Sie den von der Stadt München ausgeschriebenen Wettbewerb „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“ gewonnen. Was motiviert Sie, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen?
Michaela Melián: Zur Teilnahme am Wettbewerb 2008 für ein neues Denkmal in München wurde ich eingeladen, sicher auch wegen „Föhrenwald“. Allerdings ist „Föhrenwald“ eine Arbeit, die ich ohne Auftrag entwickelt habe. Hier hatte mich interessiert, dass eine von einem Bauhausschüler während der NS-Zeit geplante und gebaute Mustersiedlung innerhalb von 16 Jahren von drei völlig verschiedenen Bewohnergruppen bezogen wurde: von Zwangsarbeitern während des 2. Weltkriegs, nach 1945 bis 1956 von jüdischen Displaced Persons, und danach von deutschen heimatvertriebenen Familien. Niemand kam freiwillig. Trotz dieser wechselvollen Geschichte veränderte sich das Gesicht der Siedlung kaum, bis heute repräsentieren die Gebäude eine gültige Form der Eigenheimidylle. So ist dieser Ort nur ein Beispiel dafür, wie wir täglich in unserem Alltag auf Spuren des Nationalsozialismus stoßen. Dieses Bewusstsein um die Geschichte stellt auch eigentlich die einzige Form dar, wie ich für mich eine nationale Identität definieren würde.
Interessant, aber muss dafür eine „nationale Identität“ bemüht werden? Und begibt man sich damit nicht in die Falle des nationalen Kollektivs?
So war das nicht gemeint, prinzipiell habe ich ja mit einer nationalen Identität nichts am Hut. Aber wenn man über eine „deutsche Identität“ nachdenkt, dann bleibt für mich nur das Wissen um die „deutsche NS-Geschichte“.
Gibt es bei Ihnen eine grundsätzliche Skepsis gegenüber architektonischen Setzungen und ihre Metaphorik im öffentlichen Raum, oder wieso haben Sie sich für eine virtuelle Form entschieden?
Seit Mitte der Nullerjahre gab es in München eine Reihe von Symposien und Veranstaltungen zu Erinnerungsorten und Gedenkformen. Das Ergebnis dieser langen Debatte war dieser Wettbewerb, in dessen Ausschreibung kein Ort für das Kunstwerk vorgesehen war. Deshalb habe ich eine virtuelle Lösung vorgeschlagen. Wenn es allerdings einen guten Ort für eine architektonische oder skulpturale Lösung gegeben hätte, hätte ich sicher diesen Ort mit einbezogen.
Das Überzeugende an Ihrer virtuellen Lösung finde ich die Polyphonie, die verschiedenen Perspektiven, und dass Sie im Grunde Original-Dokumente, Überlieferungen per Literatur, Berichte von Zeitgenossen und Nazi-Dokumente nutzen und sich eben nicht auf eine – in den meisten Fällen – problematische Metaphorik beschränken mussten. Mit welchem Ansatz sind Sie vorgegangen? Wie haben Sie das Material gewählt? Gab es von Beginn an ein Raster oder ein Prinzip, nachdem Sie vorgegangen sind?
In der Ausschreibung heißt es, alle Opfergruppen müssen berücksichtigt werden. Und hier geht das Problem ja schon los, was ist genau eine Opfergruppe, wer gehört zu welcher und es gibt ja auch genügend Personen, die haben gar keine Opfergruppe, die für sie sprechen würde. Klar war auch, dass das, was heute so gerne wieder in den Focus gestellt wird, dass die Deutschen, die in Folge von Krieg und Not gelitten haben, nicht in das Projekt einfließen sollten. Diese Geschichten vom Bombenkrieg, von der Front etc. sind auch so Teil des Ganzen, denn davon waren ja genauso Widerständler, Häftlinge, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge betroffen. Um diesen Riesenberg an möglichem Material irgendwie zu strukturieren, und zu vielen Themen geht ja erst jetzt eine fundierte Forschung los (z. B. zum Thema „Restitution“ wurde erst letztes Jahr eine institutionsübergreifende Forschungsgruppe in München gebildet), habe ich eine Recherchegruppe aus Studierenden und Doktoranden zusammengestellt. Wir haben erst mal einen Stichwortkatalog erarbeitet nach Opfergruppen, Orten, Berufen, Institutionen etc. Dann sind alle ausgeschwärmt, haben sich durch die Archive durchgehört, Material zusammengetragen, abgetippt. In regelmäßigen Abständen haben wir dann die Ergebnisse abgeglichen, diskutiert und die Suche nachjustiert. Die eigentlichen Kriterien der Auswahl und der Ordnung haben sich mit der Recherche und Auswertung permanent weiterentwickelt. Es kam so viel Material zusammen, dass ich gar nicht in der Lage war, alles auszuwerten, verwendet habe ich wahrscheinlich letztendlich nur 5 % von allem, was erst mal in Erwägung gezogen wurde. Trotzdem ist es schade, dass wir nicht mehr gefunden haben von Nachbarn und Zuschauern. Hier besteht eine auffällige Lücke in der Forschung und auf diese Lücke verweist auch Memory Loops, zum Beispiel mit einer Tonspur, wo das Veranstaltungsprogramm der wichtigsten Theater, Musiktheater, Kinos, Konzerthäuser, Nachtclubs in der Pogromnacht verlesen wird. Der 9. November war ein nationaler Feiertag, es müssen viele Leute noch nach Schluss der Vorstellung unterwegs gewesen sein. Wo sind die Berichte dieser Leute?
Nach welchen Kriterien haben Sie dann das Material letztendlich ausgewählt?
Natürlich bin ich erst einmal nach unserem Stichwortkatalog vorgegangen, damit dem Auftrag entsprechend niemand übersehen wird. Aber der Fokus sollte auf Erzählungen liegen, die nicht allgemein bekannt sind, keine Schriftsteller, Politiker etc. Wichtig war gerade, die Geschichten von Leuten aufzunehmen, die man heute nicht mehr kennt, die auch von der offiziellen Geschichtsschreibung gerne vergessen werden, wie zum Beispiel der breit gestreute politische Widerstand von den unterschiedlichsten Gruppen in München. Trotzdem kann man natürlich nicht so ein Projekt machen, ohne auch die „Weiße Rose“ oder Georg Elser zu behandeln.
Die Auswahl hat natürlich auch beeinflusst, welche Orte, welche politischen Ereignisse den Texten zu Grunde lagen, es mussten Linien gezogen werden aus der Stadt heraus zum KZ Dachau zum Beispiel. So spielen im Interview, das ich mit den beiden Brüdern, die aus einer jüdischen und kommunistischen Familie kommen, geführt habe, alle Orte, die jüdische Bürger damals in München durchlaufen haben, eine Rolle: die jüdische Schule, das jüdische Kinderheim, die beiden Synagogen, die beiden Judenlager, der Sitz der Gestapo im Wittelsbacher Palais, der Bahnhof. Und dazu beschreiben sie noch ihre Erfahrungen in der Nachkriegszeit und mit dem offiziellen Gedenken. Hier wurde so viel Wichtiges auf den Punkt gebracht, dass ich schon Probleme hatte, das Material auf eine Stunde zu kürzen. Daraus ist dann ein langer Loop entstanden, Loop 1, der im Bayerischen Rundfunk zum Projektstart als Hörspiel ausgestrahlt wurde und auch auf den MP3-Player, die in den Museen ausgeliehen werden können, in Deutsch und Englisch zu hören ist.
Da Sie so viel nicht benutztes Material haben, denken Sie daran, das Projekt als work-in-progress zukünftig weiter zu vervollständigen und so das Netz der Orte und der Erzählung über München in jener Zeit enger zu „stricken“?
Nein, das wird nicht möglich sein. Das Projekt war von vorne herein terminlich und finanziell präzise durchkalkuliert. Auf der Webseite liegen jetzt 24 Stunden und auf dem Telefonserver 6 Stunden Audiomaterial, das sind riesige Datenmengen, trotzdem haben wir erreicht, dass die Webseite schnell und reibungslos funktioniert. Es war von Anfang an klar, dass die Zusammenstellung nur eine lückenhafte persönliche Auswahl sein kann, ein Ausschnitt, der im besten Falle die Nutzer neugierig machen kann auf mehr Informationen.
Hat die Arbeit als solitäre Künstlerin im Kontext „Bildende Kunst“ bei Ihnen an Bedeutung gegenüber Ihrer Arbeit als Musikerin im Rahmen des F.S.K.-Kollektivs gewonnen oder tritt das bei Ihnen gar nicht in Konkurrenz miteinander?
F.S.K. begleitet mich als kollektives Projekt seit 30 Jahren. Es stand nie in Konkurrenz zu meiner Arbeit als Künstlerin, sondern war immer ein wichtiger Bestandteil meiner Aktivitäten. Natürlich haben sich die Produktionszusammenhänge auch innerhalb von F.S.K. in diesen Jahren verändert, wir leben nicht mehr am gleichen Ort, wir sind alle in unterschiedliche Kontexte und Aktivitäten eingebunden. Trotzdem bleibt für alle Bandmitglieder das Projekt F.S.K. ein wichtiger Bezugspunkt. Wir treffen uns heute also eher gezielt für ein paar Tage und entwickeln neue Stücke.
Sehen Sie, abgesehen davon, dass Sie in Ihrer Arbeit ebenfalls Musik verwenden, weitere Berührungspunkte über das ästhetische Instrumentarium hinaus? Gibt es eine Haltung und auch Themen, die Sie sowohl als F.S.K.-Kollektiv wie auch als singuläre Künstlerin einnehmen und verfolgen?
Natürlich verschränkt sich meine eigene Arbeit von jeher mit der von F.S.K. Wir vier aus der Urbesetzung, Justin Hoffmann (Kunsthistoriker und Kurator), Thomas Meinecke (Autor) und Wilfried Petzi (Fotograf), kennen uns ja alle aus der Redaktion des Magazins „Mode & Verzweiflung“, aus der F.S.K. als ein Produkt hervorgegangen ist. Grundsätzlich gilt für uns alle die Skepsis gegenüber dem autonomen künstlerischen Subjekt bzw. der Selbstverwirklichung durch künstlerische Produktion. Bestimmte künstlerische Strategien und Verfahren wie die der Appropriation, der Aktualisierung von Themen und Diskursen, d.h. hier von musikalischen Sprachen, Stilen und Produktionsästhetiken, wurden von F.S.K. von jeher verfolgt. Unsere zweite Single, 1981 bei „ZickZack Records“ von Alfred Hilsberg in Hamburg erschienen, hieß bezeichnenderweise „Teilnehmende Beobachtung“.
„Mode & Verzweiflung“, das klingt etwas nach Adolf Loos’ „Ornament und Verbrechen“. Können Sie etwas zu dem Konzept ausführen?
„Mode & Verzweiflung“ war eine lose Gruppe von Leuten, die alle zu diesem Zeitpunkt in München studierten, meist Geisteswissenschaften oder Kunst. Wir trafen uns regelmäßig, um diese Hefte, die allerdings in ganz unregelmäßigen Abständen bis 1986 herauskamen, zu konzipieren, alles super unprofessionell. Der Titel ist natürlich zu verstehen im zeitlichen Kontext damals, wir haben uns gegen die langweilige und selbstzufriedene Späthippiekultur um uns herum positioniert. Die Jungs hatten bereits 1980 alle kurze Haare, was einen damals sofort als rechts gesinnt verdächtig machte. Eine der Losungen von „Mode & Verzweiflung“ bzw. „Freiwillige Selbstkontrolle“ lautete: „Heute Disko, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie.“
Haben Sie mit dem Bandnamen „Freiwillige Selbstkontrolle“ einen ironischen oder eher einen sehr bewussten und vielleicht sogar ernsten Ansatz gegenüber postmoderner Beliebigkeit verfolgt?
Als wir bei „Mode & Verzweiflung“ beschlossen hatten, eine Band zu machen, war der Namensfindungsprozess natürlich schon Teil des Konzeptes. Klar ist „Freiwillige Selbstkontrolle“ ein typischer Name für eine Band, die 1980 startete, wie auch „Einstürzende Neubauten“, „Palais Schaumburg“ oder „Nachdenkliche Wehrpflichtige“. Die F.S.K. ist ja die Stelle der Filmindustrie, die festlegt, ab welchem Mindestalter man einen bestimmten Film sehen darf, oder eben auch entscheidet, wenn etwas zu explizit im Bild ist und retuschiert bzw. herausgeschnitten werden muss. Wir hatten die Vorstellung, dass wir uns ganz im Gegensatz zur Hippiekultur nicht auf der Bühne entäußern wollten, sondern eher feindlich dem Publikum gegenüberstehen wollten, es sollte nicht gemütlich werden bei den Konzerten. Wir machten keine Ansagen, trugen alte Bundeswehruniformen und hatten ein Rhythmusgerät und keinen Schlagzeuger. Niemand sollte schwitzen auf der Bühne oder überflüssige Bewegungen machen. Vorbild war natürlich für so einen Akt „Kraftwerk“.
F.S.K. hat sich mit sehr verschiedenen Musikstilen auseinandergesetzt und adaptierte Country, Americana und auch bayerischer Polka …
Das stimmt so nicht, die letzte Platte, die sich mit transatlantischen Musikbefruchtungen wie die vorher aufgezählten beschäftigt, erschien 1995. 1996 kam eine Maxi von F.S.K. heraus, die rein instrumental versuchte, die elektronischen Einflüsse in unserer Musik zu verarbeiten. Wir verfolgen ja seit 30 Jahren eigentlich eine dauernde Appropriation von Musikrichtungen, Soundästhetiken und Themen. Die Band erfindet sich, wenn man so will, mit jeder Platte wieder neu …
In den Texten von F.S.K. werden politische und popkulturelle Themen angerissen wie der deutsche Faschismus, Franz Josef Strauß, Chile, RAF und Gender. In Ihren Soloalben – Sie haben 2007 Ihre zweite Solo-CD „Los Angeles“ nach „Baden-Baden“ von 2004 herausgebracht – verfolgen Sie dagegen eher einen anderen musikalischen Ansatz. Die Musik ist eine Mischung aus House und Ambient Music und hat fast meditative Stellen. Im Grunde arbeiten Sie in drei verschiedenen Kontexten. Wie differenzieren Sie Ihr Soloprojekt von der kollektiven Arbeit?
Die Band F.S.K. ist ein kollektives Projekt im besten Sinne, alles was dabei entsteht, entsteht in der Regel aus der Improvisation und dem gemeinsamen Probieren, ruht also auf fünf Schultern. Bei der Gema firmieren wir alle als gleichberechtigte Komponisten der Stücke, egal wie viel jeder zu den Stücken beigetragen hat. Auch die Einnahmen gehen zu gleichen Teilen an alle.
Dagegen sind meine Stücke immer im Kontext meiner Arbeit als Bildende Künstlerin entstanden. Ich gehe hier sowohl musikalisch als auch produktionstechnisch ganz andere Wege, denn die Stücke entstehen im Studio, sind eher komponiert als improvisiert. Sie haben immer einen klar umrissenen konzeptuellen Rahmen, für den sie entstehen.
Frau Melián, ich danke Ihnen für das virtuelle Gespräch.
Autor: Matthias Reichelt