Monarchisten und Arbeiter, Romantiker und Technokraten, Bauern und Großstädter, Konservative und Revolutionäre, Großkapitalisten und Kleingärtner – der als Ideologie wirre und inkonsistente Nationalsozialismus hatte eine erstaunliche heterogene Gefolgschaft. Seine Herrschaftstechnik war das „Führerprinzip“, sein Sozialprinzip „Gefolgschaft“, sein geistiger Horizont der Krieg (der gewesene Erste und der kommende Zweite Weltkrieg), seine Utopie die der „reinen germanischen Rasse“, sein Feindbild der „jüdisch-bolschewistische Untermensch“, sein Nahziel der erweiterte „Lebensraum“, sein Fernziel das „groß-germanische Reich“ (samt Option auf die „Weltherrschaft“), sein politisches Mittel die Gewalt, sein Ideal der „soldatische Herrenmensch“.
So willkürlich wie das ideologische Gedankengebäude und so grobschlächtig wie das politische Instrumentarium des NS-Regimes war auch die Literatur, die unter ihm – und von ihm kontrolliert und reglementiert – geschrieben wurde. Wenigstens auf den ersten Blick war sie so, denn wie das Regime aus taktischen Erwägungen, politischer Rücksichtnahme und propagandistischem Opportunismus zu unerwarteten Konzessionen fähig war (Göring: „Wer Jude ist, bestimme ich“), so ist auch die Literatur nicht einheitlich, waren die Literaten nicht durchweg braune Lohnschreiber von fehlendem ästhetischen Wert.[1]
Literatur und NS-Regime
Literaturpolitisch führte sich das NS-Regime mit Bücherverbrennungen (Mai 1933) in allen Universitätsstädten ein und mit der Bildung der Reichskulturkammer (RKK, September 1933), die umgehend den 1933 gegründeten „Reichsverband der deutschen Schriftsteller“ in ihre Unterabteilung „Reichsschrifttumskammer“ (RSK) übernahm. Zuvor war am 16. Mai 1933 an den Buchhandel eine „amtliche Schwarze Liste von Büchern, die bei der Säuberung der öffentlichen Büchereien auszumerzen sind“, verschickt worden. Verbrennung, Ausmerzung und „ständische“ Zwangsmitgliedschaft waren die drei Mittel im Umgang mit Literatur, auch wenn sie im Detail nicht immer mit größter Härte angewendet wurden: In Berlin stand Erich Kästner dabei, als seine Bücher ins Feuer geworfen wurden, generell sollte „Ausmerzung“ von Büchern nicht mit deren Vernichtung identisch sein, da man sie ja auch in den „Giftschrank“ (wörtlich so) stellen konnte. Hitler hatte den Künstlern und Literaten „vier Jahre Zeit“ gegeben, sich „zu ändern“ und „wirkliche Kunst zu schaffen“, und diese Schonfrist, wenn es denn eine war, wurde auch eingehalten.
Anders ging es auch nicht. Eine „eigene“ Literatur hatten die Nationalsozialisten kaum aufzubieten, auch generell kein Verständnis für Literatur, die sie allein nach ihrem größeren oder kleineren Wert als Propagandainstrument einschätzten. Nicht einmal dabei war man sich einig, was einen Dauerstreit zwischen Alfred Rosenberg (1893-1946), dem Chefideologen der Bewegung, und Propagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) auslöste. Goebbels hatte sich in jungen Jahren erfolglos literarisch versucht und wies der Literatur sozusagen eine „Brot und Spiele“-Rolle zu. Andere NS-Größen, allen voran Hitler, schätzten nur „Blut und Boden“-, Kriegs- und „völkische“ Literatur, auf die sie ihr kleinbürgerliches Kunstverständnis verwies.[2]
Das Regime wusste schlicht nicht, was es eigentlich wollte und wie es die Gilde der Autoren behandeln sollte. Seit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933 galt, dass alle „Druckschriften“, die „die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden“ vermochten, „beschlagnahmt und eingezogen“ werden sollten. Im Klartext hieß das, dass Kontrolle nicht vor einer Veröffentlichung stattfand. Lag ein Werk erst einmal gedruckt vor, hatte es im Gerangel der NS-Instanzen eine faire Chance, zu den Lesern zu gelangen. Josef Wulf hat bereits vor über 40 Jahren in seiner akribischen Dokumentation über den NS-Literaturbetrieb groteske Fälle in Fülle herausgefunden:
Da verschickt im Dezember 1938 der „Jugendführer des Deutschen Reichs“, Baldur von Schirach (1907-1974), das von Eberhard Wolfgang Möller (1906-1972) verfasste Buch „Der Führer“ als „Weihnachtsbuch der deutschen Jugend“. Eben dieses Buch hätten die Literaturwächter des Rosenberg-Amts gern verboten. Wer sollte es verbieten? Rosenberg schickte es an Hitler persönlich: Der Führer sollte entscheiden, ob „Der Führer“ als Weihnachtsgeschenk geeignet war, nachdem das Buch bereits verschenkt worden war! Das ist der Stoff, aus welchem surreale Komödien entstehen. Und solchen Stoff lieferte das Regime tagtäglich: In Verlagsprospekten tauchten jahrelang die Werke des Juden Heinrich Heine auf, der zwar nicht verboten war, laut Weisung aber unter den Ladentisch gehörte. Da musste immer wieder darauf verwiesen werden, dass es im deutschen Bücherwald keinen „Stellvertreter des Führers“ namens Rudolf Heß mehr geben durfte, nachdem dieser sich am 10. Mai 1941 per Flugzeug nach England abgesetzt hatte. Da wurden immer wieder „versehentlich“ Briefe an ausländische Verlage mit „Heil Hitler“ unterzeichnet, worauf sie beim Adressaten in den Papierkorb flogen und ein weiterer Geschäftskontakt futsch war. Da wusste oft die rechte Hand nicht, was die linke tat (oder warum sie ihr ständig auf die Finger klopfte). Rosenberg ausgenommen, war das Regime zufrieden, wenn es die Autoren formal „gleichgeschaltet“ hatte und ihre Werke irgendwie, irgendwann kontrollieren konnte. Vor gröberen Eingriffen warnte eine Rest-Wertschätzung prominenter Autoren, weswegen man es hinnahm, wenn Autoren wie Ricarda Huch, Ernst Jünger u.a. sich der gleichgeschalteten Preußischen Akademie der Künste verweigerten, andere ins Ausland emigrierten, die man – wie Stefan George, Thomas Mann u.a. – liebend gern daheim behalten hätte, dritte (wie Gottfried Benn) rasch von Hitler-Bewunderung zu Hitler-Distanz wechselten und bei der sakrosankten Reichswehr Unterschlupf fanden.
Die Literaturwissenschaft kann bis heute nicht die Frage beantworten, ob es eine genuin „nationalsozialistische“ Literatur gegeben habe oder nicht. Man hat sich mit der Formel beholfen, dass alles Veröffentlichte irgendwo im Koordinatensystem von „offiziellem Selbstverständnis“ und „individuellem Bekenntnis“ verortet war, was (zumindest theoretisch) Autoren und Verlagen eine gewisse Wirkungsmöglichkeit beließ. Das offizielle Selbstverständnis des Regimes war in Literaturfragen schwammig, unentschlossen und wechselhaft – das individuelle Bekenntnis konnte vom brünstigen Heil-Ruf bis zum lustlos-unverbindlichen Bezeugen von „Deutschtum“ reichen.
Der Reiseschriftsteller Wilhelm Jaspert (1901-1941) hat im Dezember 1933 den „Effekt“ der bis dahin verfügten Zwangsmaßnahmen berechnet: Etwa 1.000 Druckschriften „verboten und beschlagnahmt“, davon über 600 aufgrund der Verordnung vom Februar, und zwar unter Mitwirkung von dreizehn Polizeistellen und Gerichten; insgesamt 21 Stellen bei den 1.000 verbotenen Büchern beteiligt, dazu größeres Chaos bei den „Schwarzen Listen“, die nach Sach- und Autorengruppen aufgeteilt waren, zudem durch regionale „Staatsministerien“ erweitert oder eingeschränkt wurden. So etwas schafft „Unruhe“ bei Autoren, Verlagen und Lesern, meinte Jaspert und urteilte grundsätzlich: Es sei „unbedingt an der Zeit, entweder mit den Verboten grundsätzlich aufzuhören, oder eine Zentralstelle zu schaffen“, also eine Staatszensur, möglichst eine mit dem Recht auf Vorzensur vor Drucklegung. Unter den Realitäten des Regimes war beides unmöglich: Eine ungehinderte Buchproduktion und einen unbehinderten Buchmarkt konnte und wollte man nicht zulassen – eine reichsweite Zensur zu bilden, scheiterte an dem Kompetenzgerangel und den Eifersüchteleien der diversen Reichs- und Parteiämter.
Das Regime hatte seine fundamentalen Slogans aus der Literatur bezogen, so auch das „Volk ohne Raum“. Das war der Titel eines zweibändigen Werks, welches Hans Grimm (1875-1959) 1926 veröffentlichte: Wenn die Deutschen politische und wirtschaftliche Probleme haben, dann liegt das an ihrem beengten „Lebensraum“, den sie kräftig ausweiten müssen um zu überleben. So der der Inhalt des Buchs, das in der Weimarer Republik der absolute Super-Seller war und später von den Nationalsozialisten zur schulischen Pflichtlektüre gemacht wurde. In gleicher Weise war „Blut und Boden“ aus Oswald Spenglers (1880-1936) „Untergang des Abendlandes“ von 1922 entliehen. „Drittes Reich“ war ein Buch betitelt, das Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) 1923 veröffentlichte. Und so weiter: Was immer man als genuin „arteigene“ literarische Themen und Sujets ansehen möchte – Germanenkult, Ahnenerbe, Gottessuchertum, heroische Einsamkeit (oder Scheitern), Heldengeschichte, „gesundes Volkstum“ etc. -, war in Wirklichkeit von irgendwelchen „völkischen“ Autoren lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung geschrieben worden und wurde denen später „entlehnt“. Mehr noch: Gerade mit diesen literarischen „Stichwortgebern“ hatten die Nationalsozialisten die größten Schwierigkeiten: Moeller van den Bruck lehnte Hitler ob dessen „proletarischer Primitivität“ rundheraus ab, Hans Grimm trat nie der NSDAP bei, hatte ständig Ärger mit NS-Behörden, wurde von Goebbels mit Verhaftung bedroht und zog sich ins Privatleben zurück. Die „innere Emigration“ war gerade unter denen nicht selten, die später als „Vordenker“ und „Wegbereiter“ des NS-Regimes angesehen wurden.
Seit November 1936 bestand das sog. „Kritikverbot“: Die in der Weimarer Zeit hochentwickelte Literaturkritik – A. Kerr, A. Polgar, S. Jacobsohn, H. Ihering u.v.a. – wurde per Federstrich beseitigt, fortan gab es nur noch kurze Inhaltsangaben von Büchern samt abschließenden „Empfehlungen“. Damit war die letzte, symbolische Barriere gegen massenhafte Schundproduktion gefallen. Diese traf dann auch so massiv ein – allein 1938 über 100 „historische“ Romane -, dass das Regime abwinken musste: An diesem oder jenem Genre bestehe „kein Bedarf“ mehr.
Exilliteratur
Nichts wäre falscher, als die obigen Ausführungen etwa in einem War-doch-nicht-so-schlimm-Sinne aufzufassen. Es war sogar sehr schlimm, denn die bislang referierten Bestimmungen, Beschränkungen und Beseitigungen, die man umgehen, „aussitzen“ oder ignorieren konnte, waren nur der sekundäre Reflex einer Literaturpolitik, die mit rassistischer Diskriminierung und politischer Vertreibung begonnen hatte. Direkt exekutiert wurde sie von halbgebildeten Fanatikern wie Will Vesper (1882-1962), denen die NS-Zensur nie weit genug ging, weswegen sie in ständigen Denunziationen ein noch schärferes „Durchgreifen“ forderten. Das führte dazu, dass SS-„Reichsführer“ Himmler einen von ihnen, den SS-Agitator und Maler Wolfgang Willrich (1897-1948), mehrfach auffordern musste, seine fortgesetzten Angriffe auf Gottfried Benn einzustellen.
Das geschah 1937, als die „Hauptarbeit“ längst getan war – alle jene aus Deutschland zu vertreiben, die begabter, erfolgreicher, international angesehener als die im Reich agierenden „arteigenen“ Autoren waren. Die Liste der vom Regime verbotenen oder vertriebenen Autoren liest sich wie ein Who-is-Who der weltbekannten deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht, Max Brod, Kasimir Edschmid, Sigmund Freud, Walter Hasenclever, Erich Kästner, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Arthur Schnitzler, Anna Seghers, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Stefan Zweig und viele andere. „Vergebens frage ich mich, womit ich diese Schmach verdient habe“, haderte Oskar Maria Graf (1894-1967), als er erfuhr, dass seine Bücher, ausgenommen sein Hauptwerk „Wir sind Gefangene“, nicht nur nicht verbrannt, vielmehr von den Nationalsozialisten ausdrücklich „empfohlen“ worden waren. „Das Dritte Reich hat fast das ganze deutsche Schrifttum von Bedeutung ausgestoßen, hat sich losgesagt von der wirklichen deutschen Dichtung, hat die größte Zahl ihrer wesentlichen Schriftsteller ins Exil gejagt“, klagte Graf an. Bei dieser Elite zu fehlen, war beinahe ehrenrührig.
Was nicht heißen soll, dass das Exil für Verstoßenen eine leichte Sache gewesen wäre. Das Ausland hat auf diese schätzungsweise 2.500 Autoren nicht gewartet, die Trennung von der deutschen Sprache ließ ihre Wirksamkeit sinken, die äußerst geringen Veröffentlichungsmöglichkeiten schränkten sie weiter ein. Hinzu kam ihre stilistische und ideologische Heterogenität, die als gemeinsamen Nenner eigentlich nur den berechtigten Anspruch übrig ließ, das „andere Deutschland“ zu repräsentieren.
Anna Seghers (1900-1983) gehörte zu der kleinen Gruppe von Autoren – Vicki Baum, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Franz Werfel -, die auch im Exil ihren Lebensunterhalt aus ihren Veröffentlichungen bestreiten konnten. Anna Seghers schrieb 1942 im mexikanischen Exil ihren Welt-Seller „Das siebte Kreuz“, der bald darauf in den USA verfilmt wurde. Andere hatten da weit größere Schwierigkeiten, obwohl sie wenigstens anfänglich nicht chancenlos waren. Literarische Zeitschriften wie „Die Sammlung“ (Amsterdam), „Neue deutsche Blätter“ (Prag), „Das Wort“ (Moskau), Zeitungen wie das „Pariser Tageblatt“ und „Der Aufbau“ (New York) boten Möglichkeiten – Verlage wie Querido und Allert de Lange (Amsterdam), Oprecht (Zürich), Berman-Fischer (Stockholm), Little & Brown (Boston), El libro libre (Mexiko) u.a. verlegten deutsche Bücher, die mitunter ausgesprochene Verkaufserfolge waren.
Das galt insbesondere für den Roman „Drei Kameraden“, den Erich Maria Remarque (1896-1970) zuerst in England, dann 1938 auf deutsch bei Querido in Amsterdam veröffentlicht hatte. Remarque war seit 1930, als die Verfilmung seines Welterfolgs „Im Westen nichts Neues“ in die Kinos kam, das erkorene Hassobjekt der Nationalsozialisten. Warum? Weil er besser, spannender und humorvoller schrieb als die pathetisch-hohlen, völlig humorlosen NS-Barden? Deren Gegnerschaft zu Remarque war rein persönlicher Natur – aber so konnte der Autor eine Wirkung entfalten, die den Deutschen unmittelbar nach dem Krieg zu neuer Reputation verhalf. Bereits im April 1947, als sich nun wirklich kein Deutscher in Jugoslawien sehen lassen durfte, erschien in Belgrad eine serbokroatische Übersetzung der „Drei Kameraden“ (Bild: Titelblatt), kongenial übertragen und mit einem einfühlsamen Vorwort versehen von Kaćuša Avakumović, die sich auf Remarque und andere deutsche Exil-Autoren spezialisiert hatte und mit ihren Übersetzungen in den 1950-er und 1960-er Jahren einen wahren Boom deutscher Literatur in Jugoslawien auslöste.
Relativ unterrepräsentiert war in der deutschen Exilliteratur allein die Lyrik, die selten einmal Platz in Sammelbänden fand. Es überwog die Prosa – in Form von Romanen („Henri IV“ von Heinrich Mann), Reportagen („Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland“ von Lilli Körber 1934), später kamen noch Exilromane (A. Seghers „Transit“ 1944) und andere Genres hinzu. Was auch immer erschien – in Deutschland war es nicht nur verboten, es durfte nicht einmal erwähnt werden. Wer solche Bücher erwerbe, befand Will Vesper, „macht sich des Landesverrats schuldig“. Je länger die NS-Herrschaft dauerte, desto schwieriger wurde das Los der Emigrierten: Ihre zeitweiligen Gastländer – Österreich, Tschechoslowakei, Niederlande, Frankreich – wurden eines nach dem anderen von Hitler angegriffen und unterworfen. Bereits davor hatte sich die Stimmung gewandelt: Man mochte diese deutschen Autoren immer weniger, die gegen Hitler waren – der, bei allen seinen sonstigen Nachteilen, doch immerhin ein „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ war. Wer zur Vermeidung des westeuropäischen Salon-Faschismus gleich nach Osten flüchtete, also als Linker, Kommunist, Jude in Stalins Sowjetunion Schutz suchte, den traf es in aller Regel noch schlimmer: Entweder kam er in Stalins „Säuberungen“ nach 1935/36 um, oder er wurde nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 nach Deutschland zurückgebracht, wo er von den Nationalsozialisten umgebracht wurde.[3]
Literatur im Zweiten Weltkrieg
Hitler wollte den Krieg und er wollte die Zustimmung der Deutschen zum Krieg. Solange er siegte, bekam er sie auch, und als der „Blitzkrieg“ sich immer mehr in die Länge zog, bemühte er sich, die Menschen durch allerlei Konzessionen „bei Laune“ zu halten: Anders als im Ersten Weltkrieg wurde die Konsumgüterproduktion anfänglich nicht zugunsten der Rüstung eingeschränkt, in der Unterhaltungsmusik durften „amerikanische“ Rhythmen erklingen, in der Literatur leichtere Genres, gar Erotik hervorblinzeln. Auch hatten die Erfordernisse der Kriegswirtschaft den alten Modernisierungsfeinden der Literatur die Konjunktur verdorben: Was sollte noch die heile Welt des dörflichen Erbhofes, wenn Kanonen und Bomben nur in urbanen Industriegiganten gefertigt wurden? Wer durfte noch die „Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter“ preisen, wenn immer mehr Frauen die an der Front sterbenden Männer in den Fabrikhallen ersetzen mussten? Wenn der völkische Ideologe Himmler im Osten „germanische Wehrbauern“ ansiedeln wollte, dann verbot ihm Hitler den Mund, weil er dort Industrieanlagen und Rohstofflieferanten sah.
In der neuen Realität passierten die unglaublichsten Veränderungen. Fast 150 Jahre hatte in Deutschland der „Schriftenstreit“ getobt, bei welchem sich Autoren, Drucker und Verleger darum stritten, ob Lettern der Art Antiqua, Kursiv, Gothisch oder Fraktur „deutscher“ oder nicht seien. Es siegte die eckige, schnörkelige Fraktur – die Hitler per Geheimerlaß vom 3. Januar 1941 zu „Schwabacher Judenlettern“ erklären und verbieten ließ. Das mutete an wie eine späte Revanche des „Zwiebelfisch“, der gewiß schönsten deutschen Zeitschrift für „Buchkunst“, die von 1909 bis 1933 erschien und vom NS-Regime umgehend verboten wurde; sie hatte sich, unter ihrem genialen Verleger Hans von Weber (1872-1924) und später unter dessen Sohn Wolfgang, unausgesetzt über den „völkischen Vandalismus“ in Deutschland lustig gemacht und den „Schriftenstreit“ ständig als Beispiel dessen herangezogen. 1933 bis 1935 erschien das Blatt in Österreich, was vor allem Goebbels in Harnisch brachte, nach Kriegsende wurde 1946–1948 ein Neubeginn in München versucht, der nicht glückte.
Je länger der Krieg dauerte, desto ausgreifender wurden die Konzessionen. Als der Krieg „im Osten“ stockte und sich gar gegen seine deutschen Urheber wendete, griff man neokonservative und katholische Ideen auf und propagierte plötzlich die „Verteidigung christlich-abendländischer Kultur“. Als die eigenen Verluste in die Millionen gingen, stellte man eigene Rassekriterien beiseite und warb überall für „Freiwilligen-SS-Divisionen“. Und als sich der Krieg gar deutschen Grenzen näherte, waren die kurz zuvor noch verpönten historischen Romane wieder gefragt – sofern sie überraschende Wenden des Kriegsgeschehens oder trotziges „Durchhalten“ thematisierten.
Davon profitierte der Autor Erich Kästner (1899-1974), der 1937-1940 mehrfach verhaftet wurde, aber immer freikam. 1942 durfte er plötzlich (unter dem Pseudonym Berthold Bürger) das Drehbuch für den Ufa-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ schreiben. „Filmminister“ Goebbels soll davon erst später erfahren haben und die für den „Skandal“ verantwortlichen Beamten an die Ostfront geschickt haben. Kästner gelang es später, bei allerlei Film-Projekten angestellt zu werden und so die chaotischen letzten Kriegsmonate zu überstehen. In seinem Tagebuch hat er mit grimmiger Schadenfreude berichtet, „Wer solche blechernen Misthaufen für Panzersperren hält und sie aus diesem Grund »erstellen« lässt, muß schwachsinnig sein. Und wer meinen sollte, es sei immer noch klüger, das Dümmste zu tun als überhaupt nichts, der möge (…) die Gesichter der Berliner mustern! Die Bevölkerung vermutet, dass man sie auf den Arm nimmt (…) Und noch eins: Freisler (= oberster Richter an Hitlers Volksgerichtshof, W.O.) sei beim Verlassen des Adlon-Bunkers umgekommen, den er zu früh verlassen hatte. Wollte er rasch ein Dutzend Todesurteile unterschreiben? Warum hatte er es so eilig?“.[4]
Papier wurde im Krieg zum Mangelgut, was neue Möglichkeiten verschaffte, ungeliebte, wie wohl (noch) nicht verbotene Autoren in der Versenkung verschwinden zu lassen. Andererseits musste man enorme Papiermengen freistellen, um den Bedarf nach leichten Krimi- und Erotikromanen zu befriedigen, der an der Front und an der „Heimatfront“ immer stärker aufkam. Daß es sich dabei um „unechte und falsche Lektüre“ handelte, die „das Seelenleben breiter Volksschichten vergiftet und zugleich verstädtert und amerikanisiert“, durfte 1944 in einigen Zeitschriften beklagt werden, die ohnehin niemand in die Hand nahm.
Ausländische Literatur in NS-Deutschland
Es hat die ganze NS-Zeit über ausländische Literatur in Deutschland gegeben. Deutsche Verlage druckten fremdsprachige Bücher, Fachverlage brachten Fachliteratur des Auslandes in Originalsprachen heraus, politische Konjunkturen wie etwa der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bescherten deutschen Lesern gar eine Welle sowjetischer Literatur. Tagtäglich spielte sich ein heimliches Ringen ab: Die NS-Behörden, vor allem Goebbels’ Propaganda-Ministerium, hätten am liebsten alle Literatur ausländischer Provenienz verboten. Die Verlage suchten und fanden verkaufsträchtige Titel im Ausland, die sie dann legal und illegal unter die Leser brachten. Buchhändler hatten in der „Liste der nicht zu fördernden Bücher“ einen verlässlichen Seismographen dafür, um welche Bücher sie sich besonders liebevoll kümmern sollten. Dabei ergab sich ein heimliches Bündnis mit dem Publikum, das sehr wohl „zwischen den Zeilen“ zu lesen verstand: 1941 hatte der Verlag Köhler & Amelang einen großen Erfolg mit den Memoiren der Claire de Rémusat, einer Mätresse Napoleons. Das Buch erschien unter dem Titel „Im Schatten Napoleons“ und wies so augenfällige Gemeinsamkeiten zu Hitlers Herrschaftsstil auf, dass die Leute es wie wild kauften und der Verlag immer neue Buchpartien „schwarz“ nachdruckte. Ein noch größerer Erfolg war für den Insel-Verlag das Buch „Talleyrand“ des britischen Autors Duff Cooper – hätte ein kluger Spion den Inhalt dieses Buches (mit seinen Parallelen zum Hitler-Regime) mit dem Erfolg beim deutschen Lesepublikum in Beziehung gesetzt, er wäre zu einem aufschlussreichen Bild der Stimmung „im Reich“ gekommen.[5]
Wer was aus dem Ausland druckte, war nach dem Krieg nicht mehr zur Gänze zu eruieren, aber schon die offiziellen Verlagsprospekte wiesen erstaunliche Autoren auf: Sinclair Lewis, F.D. Roosevelt, Walt Whitman, Wiliam Faulkner, Herman Melville, Margaret Mitchell etc. aus den USA, Lloyd George, Somerset Maugham, Bernhard Shaw, Joseph Conrad etc. aus Großbritannien, André Maurois, Jean Giono, Jules Romains, Paul Weygand etc. aus Frankreich, Maurice Materlinck aus Belgien, C.J. Burckhardt (und viele andere) aus der Schweiz, dazu Bücher aus den Niederlanden, aus Norwegen, Dänemark, Island, Italien, Ungarn, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Jugoslawien, Argentinien, Brasilien usw., alle mit mindestens 4.000 Auflage und bis in den Krieg hinein vertrieben. Einzelne Autoren waren mit vier, fünf und mehr Titeln vertreten, andere hatten Riesenauflagen, etwa der Norweger T. Gulbranssen, dessen „Erbe von Björndal“ auf 455.000, sein „Und ewig singen die Wälder“ gar auf 545.000 Exemplare kamen.
Gar nicht zu reden von einem „Nazi-Dichter“ wie dem Norweger Knut Hamsun (1859-1952, Bild), der in Deutschland Triumphe feierte und vom Regime überaus hofiert wurde. Man schätzte ihn als treuen Parteigänger, der die KZs verteidigte, den deutschen Überfall auf Norwegen guthieß und noch am 7. Mai 1945 einen Nachruft auf Hitler veröffentlichte: „Ich bin nicht würdig, über Adolf Hitler mit lauter Stimme zu sprechen (…) Er war ein Kämpfer für die Menschheit und ein Verkünder der Botschaft vom Recht für alle Nationen. Er war eine reformatorische Gestalt von höchstem Range und sein historisches Schicksal war, dass er in einer Zeit beispielloser Niedertracht wirken musste, die ihn am Ende zu Boden schlug“. Was sollten die Norweger mit ihm anfangen? Sie steckten ihn in eine psychiatrische Klinik. Dort schrieb er sein letztes Buch – eine Begründung für sein Verhalten, ohne jeden Funken von Einsicht oder gar Reue.
Postskriptum
Als der Krieg und das NS-Regime vorbei waren, fragten sich viele der Exilliteraten, ob sie nach Deutschland zurückkehren sollten. Thomas Mann (1875-1955), seit 1938 in den USA lebend, von wo er seit 1940 die Deutschen in Rundfunkreden zum Widerstand aufgefordert hatte[6], lehnte in einem Brief an Walter von Molo (1880-1958) eine Rückkehr ab. Damit stand er ziemlich isoliert da, denn „Mein Platz ist in Deutschland“, befand der Publizist und Spanien-Kämpfer Alfred Kantorowicz (1899-1979) nach 14 Jahren Exil. Der Publizist Karl O. Paetel (1906-1975) fragte zweifelnd: „Will man uns denn überhaupt in Deutschland?“ Weil er die Frage wohl verneinte, blieb er in New York, wo er auch starb. Und der Lyriker Rudolf Leonhard (1889-1953) ahnte, dass jeder Rückkehrer in Deutschland einiges zu gewärtigen haben: „Wir hatten doch sehr unrecht gehabt zu glauben, dass so viele Jahre Nazitum spurlos vorbeigehen“. Sie sind auch nicht spurlos vorbeigegangen, befand der einst sehr populäre Romancier Ernst Wiechert (1887-1950) nach jahrelanger KZ-Haft: 60 bis 70 Prozent des deutschen Volkes seien noch Hitler-Anhänger, er könne nicht an die Zukunft des deutschen Volks glauben. Aber er werde nicht aus Deutschland fortgehen (diktierte er einem schwedischen Journalisten ins Notizbuch), und er sehe jeden als Gegner an, der „denen, die das dritte Reich an Ort und Stelle überlebten, Deutschland verekele“.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Kästner, Erich: Notabene 45 – Ein Tagebuch, Zürich 1961.
Mann, Thomas: Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland, 2.A. Stockholm 1945.
Serke, Jürgen: Die verbrannten Dichter, Fischer-Taschenbuch 1480 – 2239, Frankfurt M. o.J. (1983).
Weber, Hermann: „Weiße Flecken“ in der Geschichte – Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Berlin 1990.
Westenfelder, Frank : Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel des historischen Romans zwischen 1890 und 1945, Frankfurt/ Bern/ New York/ Paris 1989.
Wulf, Joseph: Literatur und Dichtung im Dritten Reich – Eine Dokumentation, Gütersloh 1963.
Anmerkungen
[1] Detailliert zu allen Fragen der Literatur, der Literaten und der Literaturpolitik vgl. Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich – Eine Dokumentation, Gütersloh 1963
[2] Frank Westenfelder: Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel des historischen Romans zwischen 1890 und 1945, Frankfurt/ Bern/ New York/ Paris 1989
[3] Kommentar und Namenslisten bei Hermann Weber: „Weiße Flecken“ in der Geschichte – Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Berlin 1990
[4] Erich Kästner: Notabene 45 – Ein Tagebuch, Zürich 1961, S. 29 ff.
[5] Ausländische Literatur in Deutschland von 1933 bis 1945, in: Prisma (München) Nr. 17/1948, S. 37-41
[6] Thomas Mann: Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland, 2.A. Stockholm 1945