Als Schutzmaßnahme getarnte Umerziehung: Die Kinderlandverschickung im Dritten Reich
„Es waren einmal vier Kinder: Peter, Suse, Edmund und Lucy. Im Krieg wurden sie wegen der vielen Luftangriffe von London fortgeschickt in das Innere des Landes, in das Haus eines alten Professors, der zehn Meilen von der nächsten Bahnstation und zwei Meilen von der nächsten Post wohnte.“
Mit diesen Worten beginnt das beliebte Fantasy- und Kinderbuch „Die Chroniken von Narnia: Der König von Narnia“ des britischen Schriftstellers Clive Staples Lewis, ein guter Freund Tolkiens und wie jener Soldat im Ersten Weltkrieg. Für all jene von uns, die dieses Buch als Kind gelesen haben oder zumindest die Verfilmung gesehen haben und eben zu einer Generation gehörten, die den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt hatte, war diese Vorstellung, dass Kinder zum Schutz vor den Bomben aus den Städten weg aufs Land geschickt wurden, etwas völlig Neues. Die Briten schützten so die schwächsten Mitglieder ihrer Gesellschaft vor Hitlers Blitzkrieg, den Bombenhageln über London und anderen Großstädten. Auch andere Werke der britischen Nachkriegskultur greifen dies auf, etwa „Doctor Who“.
Dass auch in Deutschland Kinder aus den Großstädten und Ballungsräumen wie Berlin, Hamburg, Köln oder dem Ruhrgebiet „verschickt“ wurden, thematisieren die Deutschen nur ungern und das, obwohl wir so ziemlich jeden schrecklichen Aspekt des Dritten Reiches künstlerisch und medial aufbereitet haben. Das Thema ist schwierig und das nicht ohne Grund.
Es fängt schon mit dem sowohl bürokratisch als auch entmenschlichend klingenden Terminus an: Kinderlandverschickung. Die Kinder wurden aufs Land „verschickt“, nicht etwa „evakuiert“, „in Sicherheit gebracht“ oder „versteckt“, nein „verschickt“ wie ein Päckchen. Aus Sicht der NS-Führung war „Unterbringungsaktion“ und später „Erweiterter Kinderlandverschickung“ sogar der Euphemismus zu „Evakuierung“, die den Fokus auf den Krieg gelegt hätte. Derartige Formulierungen ist man von den Nazis gewohnt, doch betrafen sie da für gewöhnlich Menschen, um deren Schutz sie sich nun wahrlich nicht sorgten. Aber war der Schutz der Kinder überhaupt die eigentliche Priorität? Oder war er nur Vorwand und bezweckt wurde durch die KLV etwas ganz anderes?
„Auf Anordnung des Führers werden Kinder aus Gebieten, die immer wieder nächtliche Luftalarme haben, zunächst insbesondere aus Hamburg und Berlin, auf Grund freier Entschließung der Erziehungsberechtigten in die übrigen Gebiete des Reiches verschickt.
Mit der Durchführung dieser Maßnahmen hat der Führer Reichsleiter Baldur von Schirach beauftragt, zu dessen Unterstützung insbesondere die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), die Hitlerjugend und der NS-Lehrerbund tätig werden.
Die NSV übernimmt die Verschickung der noch nicht schulpflichtigen Kinder und der Kinder der ersten vier Schuljahrgänge, die HJ übernimmt die Unterbringung der Kinder vom 5. Schuljahre an. Die Unterbringungsaktion beginnt am Donnerstag, den 3. Oktober 1940.“
So heißt es in einem internen Schreiben aus dem zweiten Jahr des Krieges. Kinderlandverschickungen hatte es bereits in dessen Vorfeld gegeben, da jedoch zwecks Erholung und Austauschs und nicht Schutzes. Aber was hieß das in der Praxis?
Baldur von Schirach war es gewesen, der die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen der NSDAP verpflichtend machte: Hitlerjugend für die Jungen und Bund Deutscher Mädel für die Mädchen. Die Kinderlandverschickung wurde nun in die Tradition dieser ideologischen Indoktrinierung durch die Nazis gestellt, denn im Grunde dienten die Luftangriffe der Royal Air Force nur als Vorwand, um Kinder der mütterlichen Obhut zu entziehen, denn nur Kleinkinder wurden mit den Müttern zusammen verschickt. Die Väter waren in den meisten Fällen an der Front. Da man das Volk ermutigen und wohlwollend gegenüber dem Regime und dem Krieg eingestellt halten wollte, war die Kinderlandverschickung freiwillig. Doch nur wenige Mütter wollten ihre Kinder freiwillig hergeben, allenfalls war man bereit, sie zu Verwandten zu schicken. Dies sollte aber nur die unter zehn Jahre alten Kinder betreffen. Für die Älteren waren Lager vorgesehen. Nun war es aber Zielsetzung des Regimes, die Kinder von den Müttern zu trennen, die ihrerseits für kriegswichtige Arbeiten verfügbar wurden. Wobei das – bei den Nazis wenig überraschend – auch nicht alle Kinder betraf, sondern jene aus „luftgefährdeten Gebieten“, was zugleich auch besonders bevölkerungsreiche Teile des Reiches waren, die an keinen Infektionskrankheiten oder Epilepsie litten, Bettnässer waren oder nach Einschätzung der Nazis „schwer erziehbare asoziale Jugendliche“ waren. Dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ausgenommen waren, versteht sich angesichts der Euthanasie von selbst. Bemerkenswert ist einzig, dass „Jüdische Mischlinge zweiten Grades“, die nach den Nürnberger Rassegesetzen „Deutschblütigen“/„Ariern“ gleichzustellen sein, ebenfalls von der Erweiterten Kinderlandverschickung ausgenommen waren. Vielfach wurden Jugendliche dann in Klassenverbänden mit ihrer Lehrkraft als vertrauter Autoritätsperson verschickt. Die war dann auch für die Formung der Kinder zuständig.
Der Alltag in den Lagern war dann folglich auch stark von der jeweiligen Lehrkraft abhängig. Gemein war ihnen aber die strenge Trennung nach Geschlecht. Was als Erholungsurlaub an der frischen Luft verkauft wurde, war eine Einrichtung zur Umerziehung und Indoktrinierung der Kinder. Diese waren angehalten, ihre Erlebnisse in Tagebüchern festzuhalten, wobei sie selbstverständlich wohlwollend über die Zeit im KLV-Lager zu schreiben hatten. Auch wurden die Kinder streng beurteilt, danach, ob sie sich gut eingefügt hatten, folgsam waren, aber auch, ob sie Führungsqualitäten besaßen.
Der Tagesablauf hatte klar militaristische Züge und war streng geregelt. Hier exemplarisch der Tagesplan des KLV-Lagers „Haus Pilsen“ in Bad Luhatschowitz für Dienstag, den 24. Oktober 1944, verfasst von Jugendscharführer K. Held:
„6.30 Uhr Wecken.
7.15 Uhr Frühstück.
8.00 Uhr Stubenabnahme“
Diese wurde folglich zuvor hergerichtet.
„8.30 Uhr Schulunterricht
[…]
13.00 Uhr Mittagessen
13.30 Uhr Lesestunde
14.30 Uhr Schulung
15.30 Uhr Schulaufgabenstunde in Speisesaal
17.30 Uhr Abendessen
18.30 Uhr Wochenbericht
20.00 Uhr Lagerruhe“
Am Sonntag kamen etwa ein Flaggenappell und eine Morgenfeier hinzu. Der Beginn der Nachtruhe wurde auch im KLV-Lager als Zapfenstreich betitelt.
Die Kinder jener Generation wurden in das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg hineingeboren, hatten keinerlei Einfluss auf den Weg, den das Deutsche Reich einschlug. Berichte von Kindern, die in die Lager verschickt wurden, zeigen, dass sie durchaus mitbekamen, was passierte. Zeitzeugen wie der Autor Claus Günther (*1931) berichten, dass in den letzten Kriegsjahren die Schulen geschlossen wurden, wodurch die KLV indirekt erzwungen wurde. Für ihn war das KLV-Lager keineswegs die schöne Erfahrung, die die Kinder jener Tage in ihren Tagebüchern schildern mussten, sondern eine Welt militärischen Drills und faschistischer Durchhalteparolen. Auch erzählt er, dass den Kindern aus einem großen Fundus Schuhe geschenkt wurden – Schuhe, die einmal Kindern gehört hatten, die die Nazis vermutlich in den Vernichtungslagern ermordet hatten. Als der Krieg sich dem Ende näherte, ging es von einem Lager ins nächste, immer weg von den Bomben, vorbei an Flüchtlingstrecks, die von Osten gen Westen zogen, weil die Rotarmisten sich den „Lebensraum im Osten“ nun zurückholten. 2,5 Millionen Kinder sollen in den Kriegsjahren aus den Großstädten weg in bevölkerungsarme, ländliche Gebiete in Bayern, Österreich, Westpreußen, Pommern, Schlesien und das Sudetenland verschickt worden sein. Auch sie sind Opfer des Krieges der Nazis, zum Teil einer normalen Kindheit beraubt, traumatisiert vom Krieg und obwohl sie gänzlich unschuldig waren, doch irgendwie beladen mit der Schuld aller, die zu jener Zeit im Deutschen Reich lebten.
Literatur
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Gießmann, Thomas / Rudolf Marciniak: ‚Fast sämtliche Kinder sind jetzt weg.‘ -Kinderlandverschickung, Münster 2001.
Kock, Gerhard: ‚Der Führer sorgt für unsere Kinder…‘. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997.
Museen für Stadt- und Heimatgeschichte/Stadtarchiv Hagen (Hrsg.): Heimat ade! Kinderlandverschickung in Hagen 1941-1945. (=Hagener Stadtgeschichte(n), Bd. 7; Hagen 1998.
Museen für Stadt- und Heimatgeschichte/Stadtarchiv Hagen (Hrsg.): Flucht vor Bomben. Kinderlandverschickung aus dem östlichen Ruhrgebiet im 2. Weltkrieg. Hagen 2002.
Sollbach, Gerhard: ‚Der Luftterror geht weiter – Mütter schafft eure Kinder fort, Bochum 2001.
Weinberg, Gerhard: A World at Arms : A Global History of World War II, Cambridge 1995.