Die US-Amerikaner nannten ihn den „Judenhetzer“: Julius Streicher und der Stürmer

Julius Streicher als Angeklagter bei den Nürnberger Prozessen, 1946
Beim schlimmsten Hetzer des NS-Regimes denken viele an Propagandaminister Jospeh Goebbels (1897 – 1945) oder Adolf Hitler (1889 – 1945) selbst. Doch der unangefochtene Spitzenreiter in Sachen unverblümtem Judenhass, vulgärer Obszönität und aufpeitschender Hetze war ganz ohne Frage Julius Streicher (1885 – 1946), ein gescheiterter Volksschullehrer, der schon in seiner Militärzeit bei den Radfahrtruppen wegen mangelnder Disziplin verwarnt wurde und später wegen Korruption im Zuge der Arisierung aus der NSDAP ausgeschlossen wurde, was im Klartext heißt: Selbst andere Nazis hielten Julius Streicher für einen unmoralischen Hassprediger. Goebbels selbst sagte über Streicher: „Viele unserer Leute gehen ja heute in der Judenfrage viel zu weit. Daran sind diese Streicher und Konsorten schuld und auch Hitler selbst bis zu einem gewissen Grade, weil er diesen grauenhaften Kerl nicht kaltstellte, wie ich es schon oft verlangt habe.“
Julius Streicher wurde am 12. Februar 1885 in Fleinhausen bei Augsburg als Sohn des Volksschullehrers Friedrich Streicher und dessen Frau Anna (geb. Weiss) geboren (Geburts- und Sterbedaten der Eltern nicht bekannt). Er besuchte die Volksschule für acht Jahre und machte dann selbst eine Ausbildung zum Volksschullehrer. 1904 arbeitete er zunächst als Aushilfslehrer, ab 1905 bekam er eine dauerhafte Anstellung als Lehrer. Ehemalige Schüler Streichers gaben an, er sei als Lehrer ausfallend gewesen und habe diktatorische Züge gezeigt. Er diente 1907/08 als Einjährig-Freiwilliger bei der Armee, wurde aber im Ersten Weltkrieg erneut zum Dienst beim 6. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment herangezogen. 1917 war er Leutnant der Reserve bei den Radfahrtruppen, wo er wegen Disziplinlosigkeit verwarnt wurde.
Nach Kriegsende engagierte sich Streicher in verschiedenen völkischen Ortsgruppen, ehe er die Nürnberger Ortsgruppe der antisemitischen Deutsch-Sozialen Partei mitbegründete, die 1922 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unterstellt wurde.
Am 20. April 1923, Hitlers 34. Geburtstag, erschien erstmals das von Streicher herausgegebene antisemitische, vulgäre und politpornografische Hetzblatt „Der Stürmer“, welches vom gleichnamigen Verlag herausgegeben wurde. Die propagandistische Wochenzeitschrift war anders als der „Völkische Beobachter“ keine offizielle Parteipublikation der NSDAP. Die Rechte an der Zeitschrift und der Stürmer-Verlag sollten bis Kriegsende in Streichers Privatbesitz verbleiben, was ihn zum Multimillionär machen sollte. Neben ihres völkisch nationalistischen, rechtsextremen und antisemitischen Grundtenors zeichnete sich „Der Stürmer“ vor allem durch vulgäre und hetzerische Sprache sowie eine schon als pornografisch zu bezeichnende Schilderung sogenannter „Rasseverbrechen“, worunter Streicher und die Nazis sexuelle Beziehungen zwischen Deutschen und Juden verstanden, aus. Es wurde ein Bild „des Juden“ als Sexualverbrecher per se gezeichnet, dessen einziger Lebensinhalt es wäre, die „nordisch-germanische Rasse“ zu schädigen und zu zersetzen.
Am 9. und 10. November 1923 versuchte Hitler zusammen mit General Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff (1865 – 1937) mit dem „Marsch auf Berlin“, welcher schon nach wenigen Hundert Metern in München an der Feldherrnhalle gestoppt wurde, zu putschen und die demokratisch legitimierte Reichsregierung abzusetzen. Streicher gelang es, sich als Hitlers Propagandist dessen Freundschaft zu sichern. Gleichzeitig führte die Teilnahme am Putsch zu Streichers Suspendierung als Lehrer. Die NSDAP wurde in Folge des Putschversuchs kurzzeitig verboten. Bei ihrer Neugründung wurde Streicher 1925 mit dem Wiederaufbau der Partei in Nordbayern beauftragt. 1929 wurde Streicher Landtagsabgeordneter und Gauleiter des neu gegründeten Gaus Mittelfranken. Damit schied er endgültig aus dem Schuldienst aus.
Am 30. Januar 1933 übernahmen die Nazis die Macht im Deutschen Reich. Streicher wurde Leiter des Zentralkomitees zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze, was entgegen seinem gewohnt hetzerischen und antisemitischen Namen selbst Gräuel, Boykotte und Hetze gegen die jüdischen Bürger im Deutschen Reich zentral steuerte. In seinem eigenen Gau Mittelfranken lebte Streicher seinen Judenhass besonders ungezügelt aus und ging auch gegen politische Gegner aus dem bürgerlichen Lager mit aller Härte vor – die Politiker und Anhänger des linken Spektrums (KPD und SPD) befanden sich schon im Frühjahr 1933 großteils in Haft im Gefängnis oder Konzentrationslager. Um selbst Kindern den Rassismus in die Wiege zu legen, gab der Stürmer-Verlag nun auch antisemitische Bilderbücher wie „Der Giftpilz“, „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid – Ein Bilderbuch für Groß und Klein“ oder „Der Pudelmopsdackelpinscher“ heraus. Der Höhepunkt von Streichers Indoktrination eines ganzen Volkes bildete eine Kampagne in „Der Stürmer“, die den Weg für die Nürnberger Rassegesetze ebnen sollte. Streichers Antisemitismus nahm ähnlich wie bei Ludendorff so extreme Züge an, dass er selbst Hitler offen zu großer Nachgiebigkeit gegenüber den Juden bezichtigte. Kurzum: Julius Streicher hatte in seinem fanatischen Judenhass jeglichen Kontakt zur Realität verloren.
1934 wurde Julius Streicher in den Ehrenrang eines SA-Gruppenführers erhoben. Er nutzte seine Funktion als Gauleiter aus, um zahlreiche Druckerzeugnisse aufzukaufen, darunter auch jüdische Zeitungen, die er sich im Zuge der Arisierung einverleibte. Auch sonst mehrte Streicher sein Privatvermögen durch die Aneignung jüdischer Besitztümer, deren Abtretung er erpresste. Obwohl der Gau keine juristische Person war, wurde dieser als neuer Eigentümer akzeptiert. De facto gehörten die Grundstücke und Gebäude aber Streicher als Privatperson. Zu den daraus resultierenden Korruptionsvorwürfen kamen sexuelle Eskapaden und Streichers anhaltend vulgäre Wortwahl. Alles drei wurde auch in der NSDAP nicht gerne gesehen, viele Parteimitglieder fürchteten, Streichers primitive Obszönitäten könnten ein schlechtes Licht auf die ganze Partei werfen. Doch noch genoss Streicher den persönlichen Schutz Hitlers, der in ihm auch einen „Narren“ sah, aber offenbar einen sehr nützlichen. 1935 schlug „Der Stürmer“ bezüglich eines NS-Funktionärs erstmals so sehr über die Stränge, dass die Zeitschrift zeitweilig verboten wurde. Doch erst 1940 wurde von Hermann Göring (1893 – 1946) eine Kommission eingesetzt, die die gegen Streicher erhobenen Vorwürfe untersuchen sollte. Obwohl Streicher infolgedessen seiner sonstigen Ämter enthoben wurde, durfte er – wieder wegen direkter Intervention Hitlers – seinen Rang als Gauleiter behalten. Auch „Der Stürmer“, die schätzungsweise eine Auflage von einer knappen halben Million Exemplaren erreicht hatte, durfte weiter von Streicher herausgegeben werden. Streicher zog sich auf sein Gut Pleikershof bei Nürnberg zurück.
Bei Kriegsende ergriff Streicher die Flucht. Er versteckte sich einige Wochen erfolgreich in einem österreichischen Alpendorf, ehe er von US-amerikanischen Soldaten identifiziert und verhaftet wurde. Er wurde im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg wegen Verschwörung (Anklagepunkt 1) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Anklagepunkt 4) angeklagt. Obgleich Streicher noch versuchte, dem Gericht weismachen zu wollen, er habe mit „Vernichtung“ der Juden etwas anderes gemeint, rückte er nicht merklich von seiner monokausal antisemitischen Überzeugung ab und pöbelte weiter vor sich hin, zog dabei auch Martin Luther (1483 – 1546) als Referenz heran. Noch unterm Galgen – denn er wurde in Anklagepunkt 4 schuldig gesprochen und zum Tod durch den Strang verurteilt – bekannte Streicher seine Treue zum „Führer“ und seinen flammenden Antisemitismus. Sein Sterben in der Schlinge soll sich Minuten hingezogen haben, in denen Streicher so lange zappelte, bis der Henker selbst sich mit seinem Körpergewicht an dessen Beine hängte.
Literatur
Jay W. Baird: Das politische Testament Julius Streichers. Ein Dokument aus den Papieren des Hauptmanns Dolibois. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Dokumentation 26 (1978/4), S. 660–693 (online).
Jay W. Baird: Julius Streicher. Der Berufsantisemit. In: Ronald Smelser, Enrico Syring und Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die braune Elite II. 21 weitere biographische Skizzen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 231–242, ISBN 3-534-80122-9.
Randall Lee Bytwerk: Julius Streicher. Cooper Square Press, New York 2001, ISBN 0-8154-1156-1.
Franco Ruault: Tödliche Maskeraden. Julius Streicher und die Lösung der Judenfrage. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-631-55174-5.
Thomas Greif: Julius Streicher (1885-1946). In: Fränkische Lebensbilder 21 (2006), S. 327–348.
Franz Pöggeler: Der Lehrer Julius Streicher. Zur Personalgeschichte des Nationalsozialismus. Lang, Frankfurt 1991, ISBN 978-3-631-41752-2.
Daniel Roos: Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923 – 1945. Schöningh, Paderborn 2014, ISBN 978-3-506-77267-1.