„Das Vergessenwollen verlängert das Exil, die Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.“ – sagte angeblich Baal Sem Tov. [1] Die Erinnerung an den Holocaust ist aber gar nicht so einfach. Uns als Lehrer des Gymnasiums Bornemisza Péter in Budapest verursacht es oft Kopfschmerzen, wie man den SchülerInnen der oberen Klassen (10-14 Jahre) und den Gymnasiasten (15-18 Jahre) beibringen sollte, was während des Holocausts passierte. Unsere SchülerInnen sind in einem Land geboren und aufgewachsen, in dem nur noch wenige den Ereignissen der Shoah ins Auge zu schauen wagen, in dem die Kriegssünden der ungarischen Seite (Morde, Gewalttätigkeiten, Raub des Vermögens der Verschleppten) in der Gesellschaft noch nicht verurteilt werden. Obwohl der Holocaust in den ungarischen Geschichtslehrbüchern figuriert, werden die GeschichtslehrerInnen von niemandem und durch nichts dazu gezwungen, das Thema seiner großen Bedeutung entsprechend zu behandeln. Der Unterricht der Geschichte und Formen interdisziplinärer Lehrmethoden macht es von der Person des/r Lehrers/in abhängig, was und wie viel er/sie seinen/ihren SchülerInnen über den Holocaust sagt. Gleiches gilt für das wie.
In einer unlängst veröffentlichten Studie stellte sich heraus, dass die Mehrheit der ungarischen StudentInnen (im Alter von ca. 19-25 Jahren) rassistischen und antisemitischen Anschauungen beistimmen, diese nicht verurteilen, sondern sie damit einverstanden sind, sie diese sogar auch noch verbreiten. Sei es eine Trivialität oder nicht, aber die politische, wirtschaftliche, kulturelle Elite der Zukunft und die nächste Lehrergeneration werden aus dieser Gruppe stammen.
Im Hinblick darauf ist es nicht egal, ob wir gegenüber den Jugendlichen den Holocaust thematisieren oder versuchen ihn zu bagatellisieren, als Pflichtlektüre abzuleiern, vielleicht diese tragische Ereignisreihe zu widerlegen.
Als praktizierende Lehrer möchten wir darüber berichten, welche Methode wir zur Darstellung der Shoah in Ungarn gesucht haben, um unseren SchülerInnen diese Zeit in ihrer Wahrheit – aber nicht in Horrorszenen wühlend, sondern viel mehr durch die menschlichen Schicksale – vorstellen zu können.
Im Gegensatz zu Israel gibt es in Ungarn keine Pflichtstundenzahl für das Thema Holocaust im Unterricht. So war es unsere erste Aufgabe, den Rahmen zu finden, innerhalb dessen die Problematik thematisiert werden kann. Dafür sind zwei Möglichkeiten gegeben: Erstens in den „normalen“ Geschichtsstunden zur Geschichte der 20er, 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und bei der Behandlung des Zweiten Weltkrieges. Dazu kämen vielleicht noch die Klassenlehrerstunden, in denen wir mit den Kindern darüber nach entsprechender Vorbereitung sprechen können. Zweitens sollte man nach den offiziellen Pflichtstunden AGs organisieren, in denen man mit den SchülerInnen, die sich für das Thema interessieren, den Holocaust zum zentralen Thema macht. Im Folgenden stellen wir diese Herangehensweisen vor.
„Thomi“ im Klassenraum
Wenn es uns gelingt, unsere KollegInnen zu überzeugen, das Thema des Holocausts ein bisschen anders als gewöhnlich zu behandeln, sind die Annäherung und die Methode sehr wichtig, mit denen wir den SchülerInnen die an jüdischen Menschen begangenen Gräueltaten näher zu bringen versuchen. Das Ziel darf keinesfalls die Bagatellisierung der Ereignisse sein, aber die allzu übernaturalistische Schilderung der Gräuel dient auch nicht der Empathie und intellektuellen Sensibilisierung der Jugendlichen. Diese Aspekte sind aber unerlässlich, um Mitgefühl mit den Opfern zu entwickeln, den Widerstand gegen die Mörder und deren Ideologie zu verstehen und die Identifizierung mit denen, die den Verfolgten geholfen und gerettet haben, zu erreichen.
Um unsere Ziele zu erreichen, dürfen wir die Opfer nicht als eine gesichtslose Masse anschauen und vorstellen, da die puren Zahlen nicht den Effekt haben, dass sich die Persönlichkeit der SchülerInnen den Opfern öffnet. Wir müssen danach trachten, sowohl Mitleid als auch Widerstand zu wecken, damit sie fähig werden, menschenverachtenden Ideologien zu widerstehen.
Dieses Ziel kann mit mehreren Methoden erreicht werden, wir werden aber hier nur eine, auch von uns verwendete und geliebte vorstellen: das Bilderbuch „Thomi“, über dessen Geschichte und Botschaft wir in Yad Vashem – Internationales Institut für die Wissenschaften des Holocausts – gehört haben.
Das KZ Theresienstadt
„Thomi“ wurde in dem Lager von Theresienstadt 1944 angefertigt. Sein Verfasser war Bedrích Fritta, ein tschechischer Kunstmaler, der gemeinsam mit seiner Frau und seinem Kleinkind von den Nazis nach Theresienstadt deportiert wurde. Die Familie arbeitete in der Propaganda-Abteilung des Ghettos, in der ihre wichtigste Aufgabe das Zeichnen und Malen von Plakaten und Aushängen war, die das „gute“ Leben der Juden in Theresienstadt beweisen mussten. Dieses Lager war nämlich die Schaueinrichtung der Nazis für die Außenwelt. Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann haben sich im Herbst 1941 entschlossen, das Militärpersonal und die tschechischen EinwohnerInnen aus dem alten Burgviertel von Theresienstadt auszusiedeln und den Ort zu einer der Sammlungszentralen für Juden umzugestalten. Der Plan ging noch weiter: Sobald die dort Versammelten deportiert worden waren, wurden an ihrer Statt Deutsche angesiedelt und eine deutsche Musterstadt ins Leben gerufen. Kurz darauf wurde Theresienstadt Teil eines riesengroßen Blendwerkes. Offiziell wurden die Umsiedlungen nach Osten mit dem dortigen Arbeitseinsatz legitimiert.
In der Realität bedeutete das allerdings die Ermordung von Juden. Der Plan aber wäre enthüllt worden, wenn man auch die alten Menschen umgesiedelt hätte. So wurden die Alten und die im Ersten Weltkrieg ausgezeichneten Veteranen zuerst nach Theresienstadt und von hier in die östlichen Vernichtungslager deportiert.
Theresienstadt wurde dem Internationalen Roten Kreuz und all denen präsentiert, die davon überzeugt werden mussten, dass das Gerede vom Judenmassenmord einfach nicht der Wahrheit entsprach. Die Nazis bereiteten sich auf solche Besuche gründlich vor. Deportationen „erleichterten“ die Überfülltheit des Lagers, die verwahrlosten Häuser wurden dekoriert, und diejenigen, die eine Rolle in diesem Schauspiel hatten, bekamen Kleidung.
„Immer, wenn solche Besucher ins Getto kamen, wurde alles auf den Kopf gestellt… In einigen Zonen galt volles Ausgangsverbot und alle, die dort wohnten, durften ihre Häuser nicht verlassen. Im Allgemeinen durften nur solche vorkommen, die noch einigermaßen menschenähnlich waren. Es begann ein großes Verschönern. Gewisse Orte mussten geputzt und absolut in Ordnung gebracht werden. Die Außenwände einiger Häuser wurden gekalkt und haben große Tafeln bekommen, z.B. mit den Aufschriften „Zentralsynagoge“ oder „Gettotheater“. Sogar Kindergruppen wurden organisiert, als ob sie auf Fußballspiele vorbereitet würden. Zu solchen Gelegenheiten wurden Kinderklubs gegründet, wo Schlittschuh laufen erlaubt war und wohin auch Ponys gebracht wurden. Viele Kleinkinder wurden ins Bett gelegt und auf die Betten bunte Herzen gemalt. Wie in einem Schloss. Auch Proben wurden mit den Kindern gemacht: Es wurde Essen vor sie gestellt, was sie aber hastig verschlangen. Die Probe musste deswegen wiederholt werden und wir haben jedes Mal andere Kinder hingeschickt, damit diesmal noch mehr satt werden.“
erinnerte sich Mordechaj Ansbacher [2]
Die Einwohnerzahl der Stadt betrug vor der Entstehung des „Musterlagers“ nicht mehr als Zehntausend. Jetzt aber wurden Menschen aus allen Teilen Europas, besonders aus Deutschland und den tschechischen Gebieten, hierhin verbracht. Die Zahl wuchs bald auf 60.000, der Überfüllung wurde durch die Osttransporte entgegengewirkt. Während des Bestehens des Lagers kamen ca. 141.000 Menschen innerhalb der Stadtmauern um. 38.000 Menschen sind im Lager gestorben, nach Osten – in die Vernichtungslager – wurden etwa 80.000 Personen deportiert. [3]
Im Lager war fast alles mit Todesstrafe belegt. Liebesverhältnisse und Geburten waren strengstens verboten. Wurde trotzdem ein Kind geboren, dann wurden Vater, Mutter, Kind und auch der behilfliche Arzt ins Vernichtungslager geschickt.
In Theresienstadt wurden wichtige, auch im Westen bekannte jüdische Wissenschaftler, Künstler, Gemeinschaftsleiter interniert, deren plötzliches Verschwinden vielen aufgefallen wäre. Zum Schein hat die Gestapo deshalb den zu Deportierenden Wohnungen innerhalb der Festung verkauft. Nach ihrer Ankunft haben die neu Angekommenen ihre Eigentumsrechtpapiere vergebens geschwenkt, sie mussten sich mit einem winzigen Platz in den Trümmergebäuden begnügen.
Mordechaj Ansbacher setzt seine Erinnerungen folgendermaßen fort: „Zwei Wochen nach unserer Ankunft war die Hälfte meiner Gruppe tot. Es herrschte eine furchtbare Hungersnot. Wasser nirgendwo. Keine Hygiene. Die hungrigen Leute prügelten sich um die im schmutzigen Wasser schwimmenden Kartoffelschalen. Es wurden sogar die Müll- und Leichenwagen um ein winziges Essen bestürmt. Die so getan haben, waren manchmal achtbare, berühmte Personen, Akademiker, Millionäre oder Geschäftsleute. Die, die sich unter uns mit Beförderung beschäftigten, mussten mit diesen Personen sehr streng sein, da der schmutzige Speiserest, die rohe, dreckige Kartoffelschale Krankheiten, Epidemien verursachten, in vielen Fällen auch den sicheren Tod bedeuteten.“
Über das Lager wurde 1944 auch ein Propagandafilm gedreht, dem der folgende, groteske Titel gegeben wurde: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“.
Im Februar 1945, als der Untergang des Dritten Reiches schon sicher war, begannen die Nazis die Errichtung einer Gaskammer in einem unterirdischen Gang der Festung. Die schon vorgefertigten Schornsteine waren schon da, als diese Nachricht durchsickerte. Die SS ließ diejenigen auspeitschen, die der Informationsverbreitung verdächtigt wurden. Der Bau wurde schließlich eingestellt und so sind die letzten Gefangenen Theresienstadts gerettet worden.
Das Buch „Thomi“
In diesem Lager lebte die Familie Fritta: Bedrích, Hanzi und deren Sohn, Thomi. Die Arbeit des Vaters – er fertigte Propagandabilder für die Nazis an – verbarg seine wirkliche Tätigkeit. Die Mitglieder der Propagandagruppe haben heimlich das tatsächliche Leben des Ghettos aufgeschrieben, gemalt und gezeichnet. Diese Dokumente haben sie verborgen, da ihnen klar war, bei einer Enthüllung würden alle von ihnen hingerichtet werden.
Thomi Fritta wurde im Januar 1944 drei Jahre alt. Sein Vater dachte, da er seinem Sohn kein anderes Geschenk machen kann, schenkt er ihm ein Zeichenalbum. Er hat ein kleines Buch verfertigt, was er aber nicht mehr übergeben konnte, da die Arbeiter der Malerwerkstatt aufgeflogen sind, ihre illegale Tätigkeit enthüllt wurde und sie verschleppt wurden. Der kleine Thomi kam zu Pflegeeltern, die Familie Haas hat ihn erzogen. Das Album seines Vaters hat er nicht zum dritten, sondern zum achtzehnten Geburtstag bekommen. Denken wir uns nun hinein in die Gefühle dieses Jungen, der von seinem schon seit 15 Jahren toten Vater auf diese Weise wieder angesprochen wurde.
In „Thomi“ sind alle Botschaften über den Holocaust zu finden, die von einem drei- aber auch von einem achtzehnjährigen Kind verstanden werden können. Deswegen sind die Bilder und die von Bedrích Fritta geschriebenen kurzen Texte außerordentlich geeignet, das Thema für solche SchülerInnen zu eröffnen, die von der Shoah gar nichts oder nur wenig wissen. Die Präsentation des Albums eignet sich aber auch für Jugendliche mit Grundkenntnissen über das, was Juden in den Gebieten deutscher und verbündeter Besatzung während des Zweiten Weltkrieges passiert ist.
Dieses Thema ist mit Hilfe des Albums vielleicht wirksamer zu lehren, d.h. ohne lexikonartig Daten büffeln zu lassen, und, anstatt Fragen wie „Was?“ und „Wie?“, das „Warum?“ zu beantworten. Mit Recht taucht die Frage auf, was das Ziel der Vorstellung dieser Epoche durch ein Bilderbuch – gemacht für ein 3-jähriges Kind –, ist, eine Zeit, die selbst Wissenschaftlern ein Rätsel ist: Wie konnte so etwas in Europa durch eine der leitenden Kulturnationen wie der deutschen passieren? Wir müssen es wieder betonen, das Ziel ist nicht die Darstellung der vollen Wahrheit, sondern Interesse zu wecken und Mitgefühl bei den SchülerInnen zu erzeugen.
Im Folgenden stellen wir dar, wie wir die Geschichte von Thomi unterrichten. [4]
Beschreibung der Unterrichtsstunden
Bei der Einführung des Themas ist es gut, die SchülerInnen mit einigen Worten daran zu erinnern, was sie schon über den Nationalsozialismus wissen. Wir weisen auf einige konkrete Daten und in groben Zügen auf die NS-Rassenpolitik hin, stellen dann vor, wie diese in den besetzten Gebieten Europas umgesetzt wurde. Dann lenken wir die Aufmerksamkeit auf den Themenkreis Ghetto – aber auch an diesem Punkt kann man sich auf bereits Gelerntes berufen und schon erworbene Kenntnisse reaktivieren. Unerlässlich ist der Vergleich der mittelalterlichen mit den von den Nazis errichteten Ghettos: Ähnlichkeiten und Unterschiede müssen verdeutlicht werden. Das führt zu den Fragen, warum, wie, und zu welchem Zweck das Ghetto in Theresienstadt errichtet wurde. Nach der Darstellung der grundlegenden Tatsachen wird das Alltagsleben in der Stadt thematisiert. Hierzu kann man persönliche Erinnerungen gebrauchen, Fotos zeigen und sich – in der heutigen medialen Welt – Filmausschnitte anschauen. Nach der Erzählung des Lebens in Theresienstadt sprechen wir über die Geschichte der Familie Fritta und die des Albums „Thomi“. Für diesen Teil der Stunde empfehlen wir 15-20 Minuten. Dieses bedeutet, die Lehrerpräsentation auf das Wesentliche zu reduzieren. In diesem Teil ist es wichtig, auf die Vorkenntnisse der Schüler zu rekurrieren. Hierbei sollte man sich bei dem/der Fachlehrer/in (wenn nicht identisch) darüber informieren, was und wie viel die Klasse schon wissen kann. So müssen schon bekannte Ereignisse nicht mehr eingehend dargelegt, jedoch unbekannte behandelt werden.
Nach der lehrerzentrierten Einführung steht die Betonung der interaktiven, affektiven Methode im Vordergrund (eine Doppelstunde ist zu veranschlagen): Die Bilder des Albums liegen auf dem Lehrertisch, die SchülerInnen wählen eins, das ihnen am besten gefällt oder das sie einfach packt, aus. Nach der Auswahl der Bilder setzen sich die Schüler wieder hin. [5]
Danach bitten wir die SchülerInnen zu erzählen, was ihre Bilder darstellen, was unser Hauptheld, Thomi, auf den gewählten Bildern macht und was die Botschaft der jeweiligen Zeichnung sein könnte. [6]
Während die SchülerInnen ihre Meinung über die Bilder äußern, kann der/die LehrerIn sie ergänzen oder korrigieren, und die Beschriftungen des Originalbildes vorlesen. Anhand dessen kann man auch die Botschaft des Vaters an seinen Sohn analysieren. Im Album gibt es von Fritta angefertigte thematische Bildreihen, durch die er in seinem Sohn den Glauben an eine bessere, menschlichere Welt wecken wollte. Der/die LehrerIn kann und muss auch darauf die Aufmerksamkeit seiner/ihrer SchülerInnen lenken. Diese „spielerische“ Gesprächsform wird bis zum Ende der Stunde fortgesetzt. Nach unserer Erfahrung kommen die SchülerInnen immer mehr in Schwung und viele beschäftigt noch mehrere Tage die Geschichte des kleinen Thomi.
Was das Ziel dieser Stunden ist? Vor allem das Nahebringen der Tatsachen des Holocausts und diesen für die Schüler fassbar zu machen. Daneben können sich die SchülerInnen durch das Schicksal dieses Kleinkindes und seines Buches in die Gräuel der Rassenpolitik einfühlen und verstehen, wohin diese grausame Ideologie führte. Nach unserer Erfahrung und der Meinung anderer Pädagogen (Fach- und KlassenlehrerInnen), die an „Thomi“-Stunden schon einmal teilgenommen haben, haben sich die sonst schweigsamen und passiven SchülerInnen geöffnet und ihre Meinung geäußert.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass „Thomi“ im Klassenraum lebendig wird und zu erzählen beginnt und die SchülerInnen ihn hören und verstehen.
Außerhalb der Stunde, aber doch lehrend
Wie oben bereits erwähnt, sind Zahl und Qualität der Stunden zum Thema Holocaust in Ungarn weder vorgegeben noch geregelt. Unserer Meinung nach folgt ganz sicher daraus, dass es oft keine Zeit und Energie gibt, weder zur Behandlung der geschichtlichen Tatsachen und Ereignisse der Shoah noch zur Besprechung der unvermeidlich auftauchenden ethischen Fragen. Und ehrlich gesagt, es kann auch vorkommen, dass selbst der/die LehrerIn Widerstand gegen das Thema leistet und die Geschehnisse mit seinen/ihren SchülerInnen nicht besprechen und beurteilen will. Das bestehende Interesse bei den SchülerInnen darf aber nicht unterdrückt werden. Da sie alle schon von dem Vorgefallenen gehört haben – mindestens in ihren Familien –, können wir mit Recht denken, dass sie zu beantwortende Fragen haben oder haben werden. Innerhalb des regulären Unterrichts besteht dafür nicht immer die Möglichkeit, aber außerhalb, in einem Selbstbildungsverein schon (die Bezeichnung „AG“ halten wir in diesem Kontext für viel zu „stark“). Im Folgenden berichten wir über unseren „Versuch“, der bereits seit einem halben Jahr an unserem Gymnasium in Budapest läuft.
Der Selbststudienkreis wird 1x wöchentlich, immer am selben Tag, nach Unterrichtsende zwei Stunden lang abgehalten. Das bedeutet ca. 70 Stunden während des Schuljahres. Die SchülerInnen wählen die Teilnahme freiwillig, die aber auch nicht rigoros kontrolliert wird. Die Teilnehmerzahl schwankt zwischen drei und zwölf, im Allgemeinen sind 5-6 SchülerInnen immer dabei. Je nach Gelegenheit arbeiten wir mit mehreren Methoden: Wir führen Gespräche, lesen oder hören Erinnerungen, schauen uns Teile aus Dokumentar- oder Spielfilmen an, besuchen Orte mit jüdischem Bezug (vor allem in Budapest), treffen uns mit Überlebenden, deren Erzählungen – mit ihrer Erlaubnis – wir auch auf Video aufzeichnen. Darüber hinaus möchten wir mit diesen SchülerInnen nach Jerusalem fahren und das Institut Yad Vashem besichtigen, damit sie den Ort sehen, der für das Gedenken an Opfer und HelferInnen von zentraler Bedeutung ist.
Die Themen und Methoden des Selbstbildungsvereins können in vier Hauptgruppen eingeteilt werden. Diese werden manchmal miteinander vermischt und sind die Folgenden:
Erstens geben wir den SchülerInnen natürlich die Tatsachen, Ereignisse des Holocausts und dessen Entwicklung bis zur „Endlösung“ bekannt. Die Behandlung der Ereignisse beginnen wir mit der Vorstellung jüdischen Lebens und jüdischer Welten vor dem Krieg. Hier sprechen wir nicht nur von dem assimilierten Judentum, sondern auch von den Orthodoxen und Chassidim. Wir führen Gespräche über die jiddische Kultur, über Klezmermusik und über die Vielfältigkeit, mit der das Judentum die europäische und ungarische Kultur bereicherte. Danach werden der politische Antisemitismus und der Aufstieg des Nationalsozialismus thematisiert, wobei wir auf die Wirkung dieser Ideologie auf die einfachen Leute und die NS-Propaganda besonderen Akzent legen. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verdeutlichen wir das Schicksal der Juden, indem wir aufzeigen, wie die Länder, die die Juden als ihre Heimat betrachteten, unter Naziherrschaft gerieten oder mit dem NS-Regime kollaborierten. Die Ghettos, die dortigen Lebensumstände und Wahlmöglichkeiten werden extra behandelt. Danach beschäftigen wir uns mit den Etappen des rassistischen Antisemitismus von der Entrechtung bis zur Ermordung, mit besonderer Berücksichtigung der „Wannseekonferenz“. Bei der Behandlung der Judenvernichtung haben wir auch nicht als Ziel, die Jugendlichen durch Photos von Leichenhaufen zu schockieren, sondern wir suchen die Antwort auf das „Warum“. Wir beschäftigen uns mit den Widerstandsversuchen und -methoden von Juden.
Bei der Behandlung des Niedergangs der Nazis und der Befreiung der Überlebenden sprechen wir darüber, was die Kraft zum Weiterleben denen gegeben hat, die die Gräuel überlebt haben, oder dass viele eine neue Familie statt der verlorenen gegründet und die Herausforderung des Überlebens übernommen haben. Es werden auch die juristischen Prozesse nach dem Krieg behandelt, besonders der Prozess in Nürnberg und gegen Adolf Eichmann. Wir suchen die Antwort darauf, warum man über die Schuld der Vergangenheit ein Urteil sprechen muss. Natürlich wird nicht nur von den Schuldigen, sondern auch von den Gerechten der Welt – wie sie von Yad Vashem genannt werden – gesprochen, die bereit waren, Juden zu retten.
Zweitens versuchen wir den Schülern abweichend von der chronologischen Reihenfolge solche Ereignisse vorzustellen, die sich mit dem jeweiligen Monat unserer Treffen verbinden lassen. Dadurch wollen wir die Jugendlichen nicht nur mit der Sprache des Unterrichts, sondern auch mit der der Erinnerung ansprechen. So geht es unter anderem um die Rettung der dänischen Juden, die Errichtung des Ghettos in Theresienstadt, die Wannseekonferenz, die deutsche Besetzung Ungarns und deren Folgen für das ungarische Judentum, die Errichtung anderer Ghettos und schließlich um Deportationen. Unser nicht verborgenes Ziel ist, den SchülerInnen klarzumachen, dass die Ereignisse des Holocausts nicht nur an einem Tag, während eines kurzen Zeitraumes, eines Monats oder einer Jahreszeit geschahen, sondern sich durch Jahreszeiten und lange Jahre fortsetzten. In diesen Stunden – wie auch in den anderen – empfehlen wir unseren SchülerInnen Belletristik oder Fachbücher, aus denen sie noch mehr über dieses Thema erfahren können.
Drittens beschäftigen wir unsere Schüler auch als Lektoren und Korrektoren. Sie haben die Aufgabe, ein von uns geschriebenes Hilfslehrbuch – natürlich über die Shoah – zu „rezensieren“. Von Zeit zu Zeit werden die neu angefertigten Kapitel an sie ausgeteilt, und sie werden darum gebeten, den Text aufmerksam zu lesen und ihn auszuwerten. Vor allem interessieren wir uns dafür, ob das Buch für SchülerInnen zu verstehen ist oder ob es vielleicht zu abstrakte und unklare Gedanken enthält. Ziel des Buches ist, es später im Unterricht, vielleicht im Rahmen von ähnlichen Selbststudienkreisen, oder bei der Organisation eines Holocaustgedenktages entweder als Quellensammlung oder als Diskussionsgrundlage zu verwenden. So halten wir es für wichtig, dass es von den SchülerInnen verstanden wird und es auch individuell verwendbar ist. Die SchülerInnen sollten in der Formulierung ihrer Meinung noch freier werden, aber anhand des guten Arbeitskontakts glauben wir an dessen Verwirklichung und sie werden uns helfen, das Buch so zu formulieren, dass es für ihre jungen Zeitgenossen brauchbar sein wird.
Viertens versuchen wir an Jugendwettbewerben teilzunehmen, die mit unserem Thema zusammenhängen. Wir ermuntern unsere SchülerInnen und helfen ihnen bei der Anfertigung ihrer Beiträge. Dieses halten wir deshalb für wichtig, weil sie anhand der kennengelernten Tatsachen zur weiteren Auseinandersetzung angeregt werden und fähig werden, ihre Gedanken, Meinungen und Gefühle durch Schreiben, Malen und auch durch das Drehen von Filmen auszudrücken. Außerdem sollen sie keine Angst haben, in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Schlussbemerkung
Schließlich möchten wir noch kurz darüber schreiben, wie unsere SchülerInnen den Selbststudienkreis bewerten. So haben wir ihnen einige Fragen gestellt, z.B. warum sie einen Selbststudienkreis zum Thema Holocaust wählten, warum sie dieses Thema für wichtig halten, und worüber sie noch mehr wissen möchten. Und jetzt lassen wir die Schülerinnen zu Wort kommen:
„Der Holocaust ist eine mit Recht beschämende Sache in der Geschichte jeder Nation, trotzdem müssen wir uns darüber informieren“ (Teodora, 18) „Auch schon früher habe ich mich mit dem Thema beschäftigt, viele Bücher darüber gelesen und auch Filme gesehen. Ich dachte mich dabei in die Situation der Opfer hinein und war sehr erschüttert.“ (Dorisz, 18) „Der Selbststudienkreis ist interessant wegen seiner Interaktivität, d.h. wir machen nicht nur solche Sachen, die man in einer „normalen“ Stunde macht. Nicht allein der Lehrer spricht, wir schauen uns auch Filme an, und besuchen Schauplätze. Ich möchte noch mehrere solcher Orte sehen, auch solche, die von anderen vielleicht nicht besucht werden dürfen.“ (Teodora, 18). „Mir gefällt es am besten, mit Holocaustüberlebenden Interviews zu machen. Sie erzählen uns ihr Leben, was hinsichtlich der heutigen Welt sehr lehrreich ist. Ich würde gerne noch mehr Menschen von ihnen kennen lernen.“ (Dorisz, 18) „Vorher habe ich den Holocaust nicht sehr gut gekannt, aber heute ist es schon anders.“ (Karolin, 14) „Es ist auch gut, dass wir uns in das Thema vertiefen, und je tiefer wir kommen, desto interessanter wird es. Bisher, wenn ich über den Holocaust hörte, sind mir immer nur die Lager eingefallen aber andere wichtige Tatsachen nicht.“ (Anna, 14) „Beim Holocaust fällt einem ein großes Gemetzel ein. Aber hier im Selbststudienkreis lernten wir die Widerstandsversuche der Juden kennen, wie sie sozusagen ihr Leben bunter machen wollten und ums Überleben kämpften. Unser Selbststudienkreis übermittelt sehr gut diese Lebensauffassung. Der Holocaust darf nicht als eine unpersönliche Sache betrachtet werden, obwohl in den „normalen“ Geschichtsstunden lernen wir nur so viel, wie viele Leute getötet wurden. Darüber aber nicht, wer sie waren, womit sie sich beschäftigten, dass sie ebensolche Menschen waren wie wir alle.“ (Teodora, 18) „Es ist sehr gut, dass wir über das Thema aus verschiedenen Perspektiven sprechen: Nicht nur vom Standpunkt der jüdischen Opfer aus, sondern auch von dem der Nazis.“ (Dorisz, 18) „Es ist wichtig darüber zu sprechen, damit die Geschehnisse ans Tageslicht kommen.“ (Bianka, 14) „Man sollte darüber deswegen mehr lernen, weil die Opfer Menschen waren und trotzdem finden sich über sie nur einige Sätze in den Lehrbüchern.“ (Anna, 14) „Darüber zu sprechen ist wichtig, weil das Aufarbeiten für die Überlebenden schwer ist, es benötigt eine riesige Geisteskraft. Auch deswegen muss man darüber sprechen, weil vieles verheimlicht wird, und man muss sich um die Überlebenden kümmern.“ (Teodora, 18) „Gespräche darüber zu führen ist wichtig, da die heutigen Menschen auch lernen müssen, wohin der Hass führt.“ (Karolin, 14) „Die Jugendlichen wissen sehr wenig von den Juden, vom Holocaust. Die Alten schon mehr. Deswegen müsste in den Geschichtsstunden die Informationsvermittlung viel mehr betont werden. So wäre der Antisemitismus unter den Jugendlichen vielleicht nicht so populär.“ (Noémi, 18)
Der oft zitierte Gedanke von Adorno klingt trivial: „Das Ziel der Erziehung ist, dass Auschwitz nicht wiederholt wird.“ Wir streben danach, mit unseren Mitteln eine solche Wirkung bei unseren SchülerInnen zu erzeugen, dass sie gegen eine Wiederholung des Holocaust arbeitende Menschen werden – und dies alles passiert an unserer Schule in Budapest, am Gymnasium Bornemisza Péter.
Autoren: Szilvia Dittel, Tibor Pécsi . Übersetzung aus dem Ungarischen: Zsuzsanna Zilahy. Kontaktaufnahme zu den Autoren bitte in englischer Sprache.
Literatur
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 1998
Hausner, Gideon: Urteil in Jerusalem (ungarische Ausgabe), Europa Verlag, Budapest 1984
Anmerkungen
[1] Gründer des Hassidismus, lebte im 18. Jahrhundert in der heutigen Ukraine
[2] Überleber des Lagers, zitiert aus: Gideon Hausner: Urteil in Jerusalem (ungarische Ausgabe), Europa Verlag, Budapest 1984, Seite 233
[3] Zahlen aus: Gideon Hausner: Urteil in Jerusalem (ungarische Ausgabe), Europa Verlag, Budapest 1984
[4] Es ist empfehlenswert, eine Ausgabe des Buches zu verwenden, in der die Bilder des Albums in Postkartengröße zur Verfügung stehen. Das wird später bei der Einbeziehung der SchülerInnen in die Leitung der Stunde behilflich sein. Dieses Exemplar enthält die Beschriftung der Bilder zwar nur auf Hebräisch und Tschechisch, aber die deutsche Übersetzung würden wir allen Interessierten per E-Mail gerne zuschicken. (Unsere E-Mail Adressen sind: tpecsi@szpa.hu , szdittel@bpg.hu ). Die Vorstellung des Buches ist auch auf den Internetseiten des Institutes Yad Vashem nachzulesen. ( http://www.yadvashem.org )
[5] In dieser Stunde sollten die Kinder nicht in den herkömmlichen, frontalen Bankreihen sitzen – mit Umstellung des Raumes können wir eine unmittelbarere Zusammenarbeit erreichen.
[6] An diesem Punkt erinnern wir unsere LeserInnen daran, dass „Thomi“ sowohl eine Botschaft für Kleinkinder als auch für Jugendliche und StudentInnen in sich trägt. Offensichtlich bemerken alle Altersklassen ganz anderes auf den Bildern und werden sich aus der Geschichte etwas anderes aneignen.